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Länder

Eine Gesellschaft im Würgegriff

Von Birgit Althaler | 01.06.2005

Eine Gruppe von neun Frauen ist im März 2005 nach Israel und in die Westbank gereist, um einen Eindruck von der Lebensrealität palästinensischer Frauen und der palästinensischen Gesellschaft insgesamt zu gewinnen. Da die Situation in der Westbank in Europa besser dokumentiert ist, geht der folgende Artikel nur auf den ersten Teil der Reise ein.

 

Im Wissen um den schwierigen, von Emotionen und Bildern überlagerten Zugang zum Israel-Palästina-Konflikt haben wir Wert auf eine sorgfältige gemeinsame Vorbereitung und einen kontinuierlichen Austausch unter den Teilnehmerinnen während der Reise gelegt, was sich als sehr fruchtbar erwies. Ein Ziel der Reise war, die palästinensische Gesellschaft in ihrer Komplexität kennen zu lernen – durch Begegnungen mit Bäuerinnen und Beduininnen, Flüchtlingsfrauen, Arbeiterinnen, politischen Aktivistinnen, ehemaligen Gefangenen bis hin zu Intellektuellen und engagierten Feministinnen. Ein weiteres Ziel war es, in Europa gängige Bilder und Meinungen über den Israel-Palästina-Konflikt zu überprüfen und sie an internationalen Rechtsstandards zu messen. Und schließlich wollten wir verschiedene Regionen sehen, um einen Eindruck von den unterschiedlichen Facetten der Verdrängung und Zerstörung der palästinensischen Gesellschaft zu erhalten. Von einem Besuch im Gaza-Streifen mussten wir absehen, da dies angesichts der israelischen Isolationspolitik seit Jahren nur noch mit großem Aufwand und längerem Aufenthalt möglich ist.

Zweierlei Maßstab

Ein Fünftel der israelischen Bevölkerung sind PalästinenserInnen. Es ist jener Teil der arabischen BewohnerInnen des Landes und ihrer Nachkommen, die 1948 nicht über die Grenzen des zukünftigen Staates Israel hinaus vertrieben wurden oder geflüchtet sind. Sie sind den jüdischen BürgerInnen formal gleichgestellt, wenn auch auf vielfache Weise diskriminiert. Die Auseinandersetzung mit ihren Lebensbedingungen ist aufschlussreich für ein Verständnis der israelischen Politik gegenüber den PalästinenserInnen insgesamt.
Unser Aufenthalt führte uns zuerst in den Norden Israels, wo die PalästinenserInnen mit israelischer Staatsbürgerschaft, ebenso wie im Negev, nach wie vor die Mehrheit bilden. Ein zentrales Problem der palästinensischen Frauen in Israel ist ihre schwache wirtschaftliche Stellung. Die traditionell landwirtschaftlich orientierte palästinensische Gesellschaft hat im Zug der zionistischen Kolonisierung einen Großteil ihrer Existenzgrundlage eingebüßt; gleichzeitig werden palästinensische Städte und Dörfer systematisch in ihrer Entwicklung behindert und bezüglich Infrastruktur (Schulen, Straßen, Industrie- oder Gewerbezonen, Freizeitanlagen, Gesundheitswesen, Wasser- oder Stromversorgung etc.) benachteiligt.
Zudem wird bis heute Land, das sich in palästinensischem Besitz befindet, im „öffentlichen Interesse“ konfisziert, im Klartext also der palästinensischen Bevölkerung geraubt, um nahezu exklusiv der jüdischen Bevölkerung zugute zu kommen. Einen Eindruck von der „Judaisierung“ Galiläas, mit der die Mehrheitsverhältnisse in dieser Region zugunsten der jüdischen Bevölkerung gekippt werden sollen, bieten die zahlreichen neuen Siedlungen (Watchouts) auf den Hügeln rund um Nazareth oder das jüdische Nazareth Illit (Upper Nazareth), das mit seinen 40 000 EinwohnerInnen über ein fünfmal höheres Budget und eine dreimal größere Fläche verfügt als das arabische Nazareth mit 70 000 EinwohnerInnen.
Unter diesen Bedingungen ist es nicht erstaunlich, dass nur knapp 15 Prozent der palästinensischen Frauen einen Beruf ausüben, während es in der jüdischen Bevölkerung etwa 50 Prozent sind. Insbesondere in den Dörfern stellt sich daher die Frage nach alternativen Einkommensquellen, wie wir anhand des Sindyanna-Projektes erfahren konnten. Um den Frauen nicht nur zu einem bescheidenen Einkommen zu verhelfen – beispielsweise durch Weiterverarbeitung von Oliven zu Öl und Seife oder durch traditionelle Stickereien und Webarbeiten –, bietet dieses Frauenprojekt wie viele andere gleichzeitig Weiterbildungskurse, Lese- und Schreibwerkstätten etc. an. Damit sollen die Frauen die Möglichkeit erhalten, sich gemeinsam über ihre Stellung in Familie, Dorf und Gesellschaft auszutauschen, aber auch ihren Kindern Unterstützung bei Schulaufgaben bieten zu können. Die hohe Arbeitslosigkeit unter der palästinensischen Bevölkerung und ihre zunehmende Verdrängung vom israelischen Arbeitsmarkt, auf dem sie durch billige Arbeitskräfte aus Osteuropa und Asien ersetzt werden, aber auch die Schwierigkeit, in den israelischen Städten eine Wohnung oder Arbeit zu finden, stellt für viele Frauen ein unüberwindbares Hindernis dar, traditionellen Rollen zu entfliehen. Frauen mit geringerer Schulbildung sind daher, wenn überhaupt, vor allem im informellen Sektor (Putzen, Haushalt) beschäftigt.
Etwas besser stehen die Chancen für Frauen mit höherer Bildung. Doch auch sie stoßen an die Grenzen einer Apartheid-Gesellschaft, wie uns die Frauen des I’lam Media Center deutlich vor Augen führten. Diese in Nazareth tätige NGO unter Leitung von Haneen Sourbi, einer langjährigen Feministin, bildet palästinensische JournalistInnen aus, wertet die Berichterstattung israelischer Medien aus, nimmt zu Gesetzesentwürfen im Bereich der Pressefreiheit Stellung und vermittelt jüdisch-israelischen JournalistInnen alternative Informationen und Kontakte zur palästinensischen Bevölkerung. Die israelischen Medien berichten, wo sie nicht offen rassistisch sind wie z.B. die Jerusalem Post, kaum und mehrheitlich negativ über die palästinensische Minderheit. Entsprechend negativ ist auch die Einstellung vieler jüdischer Israelis gegenüber ihren arabischen MitbürgerInnen. Einer Umfrage der Uni Haifa zufolge sprechen sich gegenwärtig 67% der Studierenden für den „Transfer“, also die Abschiebung der palästinensischen Bevölkerung aus Israel, aus und 30% wollen die PalästinenserInnen nicht in der Knesseth, dem israelischen Parlament, vertreten sehen. Als Palästinenserinnen haben die engagierten Medienfrauen vom I’lam Center praktisch keine Chance, in Israel in einer größeren Tageszeitung oder in einem Fernsehsender unterzukommen und Berufserfahrungen zu sammeln.

Verwurzelung mit dem Land

Einen spannenden Tag verbrachten wir mit Binnenflüchtlingen von Adrid, einer NGO, die die Rechte der palästinensischen Flüchtlinge in Israel wahrnimmt und regelmäßig Ausflüge in deren ehemalige Dörfer organisiert. Seit 1948 hat Israel über 400 palästinensische Ortschaften zerstört (aktuell z.B. Lifta bei Jerusalem). Den früheren BewohnerInnen, die heute oft unweit ihrer ehemaligen Dörfer leben, ist es nicht erlaubt, sich dort anzusiedeln, ihre Häuser wieder aufzubauen oder ihr Land zu bearbeiten. Die älteren Männer der Reisegruppe konnten uns über ihre eigene Vertreibung berichten. Wie sehr sie sich diesem Land nach wie vor verbunden fühlen, wurde deutlich, als sie im wuchernden Gras nach essbaren Kräutern suchten und uns allerlei Stängel und Blätter zum Kosten anboten. Die Frauen gehörten mehrheitlich der Generation der Kinder oder Enkelkinder der Vertriebenen an,
die sich weiterhin für ihr Recht auf Rückkehr und Entschädigung einsetzen.
Wie sehr die israelische Gesellschaft bemüht ist, die Existenz der palästinensischen Bevölkerung in Israel selbst zu leugnen und zu behindern, wurde im Lauf dieser Tage deutlich. Einen Überblick über die verschiedenen Diskriminierungsformen auf rechtlicher und institutioneller Ebene, aber auch verstecktere Formen der Ausgrenzung (etwa Stellenausschreibungen, die an die Absolvierung des Militärdienstes geknüpft sind) erhielten wir von den beiden Menschenrechtsorganisationen Humans Rights Association und Adallah Center.

Identitätsverlust

Eine besonders hart betroffene Bevölkerungsgruppe in Israel sind die BeduinInnen, die von der Regierung von ihrem Weide-, Acker- und Siedlungsland vertrieben werden, um ihr Land in jüdischen Besitz überzuführen und für intensive Landwirtschaft zu nutzen. Einen Eindruck davon erhielten wir bei einem Besuch verschiedener Frauenprojekte im Negev. Auch hier wiederholen sich viele bereits im Norden festgestellte Diskriminierungsmuster. Die meisten Ortschaften sind vom Staat nicht „anerkannt“, was zur Folge hat, dass sie keinerlei öffentliche Dienstleistungen erhalten.
Dazu kommen massive Übergriffe der Behörden (Besprühen der Felder mit Gift, um die Ernte zu vernichten; Bedrohungen durch eine eigens eingesetzte so genannte Umweltpatrouille) und der Versuch, die BeduinInnen in Satellitenstädten anzusiedeln, die kaum Arbeitsmöglichkeiten bieten. Indem die israelische Regierung dieser früher weitgehend autarken Gemeinschaft die Lebensgrundlagen entzieht und sie ihrer Identität beraubt, untergräbt sie auch die Stellung der Beduinen-Frauen.
Umso wichtiger ist die Arbeit verschiedener NGOs und des Frauenforums Ma’an, die versuchen, die Anliegen der Beduininnen zu koordinieren und ihnen Bildungs- und Arbeitsmöglichkeiten zu bieten. Auf die Frage nach den Wünschen der Frauen im Sidri-Projekt erhielten wir zur Antwort: eine Bibliothek, eine Klinik, Kinderbetreuungsmöglichkeiten, aber auch die Anbindung an den öffentlichen Verkehr.

Isolation der Hauptstadt

Die ungebrochene Einengung des palästinensischen Lebensraums und die Verdrängung der Bevölkerung (durch Mauer, Entzug von Aufenthaltsbewilligungen etc.) wurden auch bei unserem Aufenthalt in Jerusalem deutlich. Zum krassen Ungleichgewicht in der Verteilung finanzieller Mittel kommt hier die unterdessen fast vollständige Isolation der Stadt von ihrem Umland durch administrative Schikanen, Checkpoints, den (nach internationalem Recht illegalen) jüdischen Siedlungsring und neuerdings die Mauer, wodurch Jerusalem ihrer Zentrumsfunktion für die palästinensische Gesellschaft völlig beraubt wird.
Wie belastend die Ungewissheit über die weitere Entwicklung auf den Frauen lastet, konnten wir im Gespräch mit Natascha vom Jerusalem Center for Women erfahren, die nicht weiß, ob sie in einem halben Jahr noch mit ihrer Familie und Freunden in der Stadt Kontakt haben oder ihren Arbeitsplatz erreichen können wird.
Unsere Begegnungen mit palästinensischen Frauen in Israel und Jerusalem zeigten, dass ihr Widerstand sehr „zivile“, wenn auch existenzielle Formen annimmt. Er besteht im Wesentlichen darin, allen Widrigkeiten zum Trotz die Grundlagen der eigenen Gesellschaft aufrecht zu erhalten. Deutlich wurde auch, dass das Engagement von Frauen unter den Bedingungen von Apartheid und Besatzung (was die Westbank betrifft) zwangsläufig eine sehr materielle und politische Dimension erhält.

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