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Länder

Eine Gesellschaft am Ende – Ein Traum wird Wirklichkeit

Von Birgit Althaler | 01.07.2005

Der aktuelle Zustand in Israel und den besetzten Gebieten, wie ihn beispielsweise die amerikanische Ökonomin Sara Roy treffend analysiert, einerseits und die Darstellung des Konflikts in hiesigen Medien und Politik andererseits klaffen immer weiter auseinander. Angesichts der fortschreitenden Zerstörung der palästinensischen Gesellschaft ist es höchste Zeit, sich von einer verlogenen Friedensrhetorik zu verabschieden, Israel zur Verantwortung zu ziehen und international Druck aufzubauen.

Der Zustand der palästinensi-??schen Gesellschaft ist alarmie-??rend. In den besetzten Gebieten ist die Bevölkerung in den letzten zehn Jahren massiv verarmt, Hunger und chronische Krankheiten breiten sich aus. Der Lebensraum und die Bewegungsfreiheit werden immer weiter beschnitten. Vor allem in den letzten vier Jahren sind die Veränderungen dramatisch. Der Zerfall der palästinensischen Wirtschaft und Gesellschaft "ist so tief greifend, dass es laut Weltbank circa 20 Jahre dauern wird, um die palästinensische Wirtschaft wieder auf den Stand zu bringen, auf dem sie vor der gegenwärtigen Intifada war", schreibt die amerikanische Ökonomin Sara Roy. Und fährt fort: "Seit 1948 haben die Palästinenser wahrscheinlich solche Verluste und Vertreibungen nicht mehr erlebt." Die Verantwortung dafür liegt – bei aller berechtigten Kritik an Korruption, Misswirtschaft oder faulen Kompromissen der palästinensischen Behörde – bei der israelischen Besatzung und beginnt nicht erst mit der Regierung Sharon. Dazu Sara Roy: "Viele unterliegen dem Irrtum, dass die aktuelle Krise allein eine Folge des Al Aqsa-Aufstandes (September 2000) sei. Der gegenwärtige Zustand palästinensischen Lebens, sei es in wirtschaftlicher, gesellschaftlicher oder politischer Hinsicht, steht im Zusammenhang mit der Dynamik, die durch den Osloer Friedensprozess (September 1993 bis September 2000) institutionalisiert wurde. Die zugrunde liegende Prämisse der (US-amerikanisch geführten) Friedensinitiative betonte vor allem die israelische Sicherheit ? Der Friedensprozess war nicht auf einen Abbau der israelischen Besatzungsstrukturen, sondern sogar auf ihre Bewahrung und Verstärkung ausgerichtet, obgleich in anderer Form".1? Wichtige Instrumente für die verstärkte Kontrolle und Enteignung der PalästinenserInnen sind die Aussperrung vom israelischen Arbeitsmarkt trotz der im Zug der Oslo-Vereinbarungen beschlossenen faktischen Zollunion zwischen Israel und den besetzten Gebieten, die Abriegelungspolitik und die Gebietszersplitterung, die den Bewegungsfreiraum von Hunderttausenden von PalästinenserInnen auf wenige Quadratkilometer reduzieren. Sie bringen jedes normale wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Leben zum Erliegen und liefern die PalästinenserInnen im Westjordanland und Gazastreifen völlig der Willkür der Besatzungsmacht aus.
Ein entscheidender Faktor in der zunehmenden Fragmentierung der palästinensischen Gesellschaft ist die gezielte Bevölkerungs- und Siedlungspolitik rund um Jerusalem, dessen arabischer Teil von der Westbank unterdessen so weit abgeschnitten ist und so systematisch in seiner Entwicklung behindert wird, dass er jede Zentrumsfunktion eingebüsst hat. Gleichzeitig trennt der Ring an jüdischen Siedlungen rund um die Stadt den Norden und den Süden des Westjordanlands voneinander ab. Der Bau dieses Rings wurde in den letzten Jahren forciert, obwohl es sich nach internationalem Recht um illegale Siedlungen handelt. Von Bethlehem aus erreichen PalästinenserInnen ohne spezielle Bewilligung für Israel das knapp 20 Kilometer entfernte Ramallah nur noch über enorme Umwege in unwegsamem Gelände – und auch das nur noch, solange die Mauer nicht fertig gebaut ist. Auch das Verbot für palästinensische und jüdische Israelis – mit Ausnahme der SiedlerInnen -, die besetzten Gebiete zu besuchen, ist eine Maßnahme, die den Kontakt zwischen Familien, aber auch die direkte politische Zusammenarbeit zunehmend verunmöglicht.
Die konsequente Ausbreitung und Festsetzung Israels im Westjordanland führt immer mehr KommentatorInnen zur Einschätzung, dass ein palästinensischer Staat oder eine wie immer geartete territoriale Autonomie nicht mehr realisierbar sind. Dieser Expansion in den besetzten Gebieten entspricht in Israel selbst eine Verhärtung des Klimas gegenüber den palästinensischen BürgerInnen, die ein Fünftel der israelischen Bevölkerung ausmachen. In den letzten Jahren werden sie immer unverhohlener als Bedrohung bezeichnet, der man sich entledigen muss, oder als "Zeitbombe", die man entschärfen muss, um den jüdischen Charakter des Staates Israel wahren zu können. Dazu werden wissenschaftliche Konferenzen einberufen, an denen offen über den "Transfer" von Menschen diskutiert wird, die seit Generationen in diesem Land leben, und neue rassistische Gesetze erlassen, die in Israel Familiengründungen zwischen Ehepartner-Innen verbieten, von denen eine/r aus den besetzten Gebieten kommt – und sei es aus dem Nachbardorf, das zufällig hinter der "grünen Linie" oder Mauer liegt. Selbstverständlich existiert keine ähnliche Regelung für Familiengründungen zwischen jüdischen Israelis, von denen ein/e PartnerIn aus einer der illegalen Siedlungen in der Westbank kommt.
Weiter verfolgt die israelische Regierung im Norden eine gezielte "Judaisierung", so der offizielle Begriff. Diese besteht darin, weiteres Land zu konfiszieren, bevorzugt auf den Hügeln neue Siedlungen, so genannte Watchouts, zu bauen und die Ansiedlung jüdischer BürgerInnen zu fördern; diskutiert wird u.a. die Ansiedlung von SiedlerInnen aus dem Gazastreifen. Weniger neu sind die fortgesetzte Zerstörung von palästinensischen Häusern und die systematische Benachteiligung der palästinensischen Gemeinden bei Investitionen in Infrastruktur, Wirtschaft und Bildung. Zudem werden die Binnenflüchtlinge – rund ein Drittel der palästinensischen BürgerInnen Israels, für die offiziell der absurde Begriff der "present absentees" (anwesend Abwesende) geprägt wurde – weiterhin daran gehindert, in ihre Ortschaften zurückzukehren, aus denen sie 1948 vertrieben wurden, und ihr Land zu bewirtschaften. Viele der Dörfer, in denen sie heute leben, sind von Israel nicht anerkannt und erhalten damit keinerlei staatliche Leistungen – obwohl die palästinensischen Israelis selbstverständlich wie ihre jüdischen MitbürgerInnen Steuern zahlen.
Eine ähnliche Strategie zur Änderung der demographischen Verhältnisse verfolgt die israelische Regierung im Süden, dem Negev, wo die palästinensischen Israelis wie im Norden eine Mehrheit bilden. Im Januar 2003 veröffentlichte die Regierung Sharon einen mit rund 250 Millionen Dollar dotierten Fünfjahresplan, um die Landfrage in diesem von BeduinInnen bewohnten Gebiet zu lösen. Konkret sieht dieser Plan vor, die BeduinInnen aus ihren Dörfern in drei Trabantenstädte umzusiedeln, um deren traditionelle Acker- und Weideflächen für intensive jüdisch-israelische Landwirtschaftsbetriebe nutzen zu können. Rund 90 Millionen Dollar wurden seither in die Zerstörung von Häusern und die Beschlagnahmung von Land investiert. Zudem wurde von BeduinInnen bebautes Ackerland mehrfach mit Gift besprüht, um die Ernte zu zerstören.?
Angesichts dieser Tatsachen kann man den kritischen palästinensischen und israelischen Intellektuellen nur zustimmen, die im angekündigten Abbau der sieben Siedlungen im Gazastreifen, den Israel explizit mit dem Anspruch verbindet, alle Außengrenzen zu kontrollieren und jederzeit nach eigenem Gutdünken militärisch zu intervenieren, vor allem als ein taktisches Manöver beurteilen, um ungestört mit der weiteren Ausgrenzung der PalästinenserInnen in Israel und der Aneignung des Westjordanlands fortzufahren. Umso wichtiger ist es, dass sich die Solidaritätsbewegung von solchen Manövern nicht blenden lässt, sondern im Gegenteil, den Druck auf Israel erhöht. Eine Chance dazu bietet die Kampa
gne für Boykott, den Abzug von Investitionen und Sanktionen, die in angelsächsischen Ländern bereits angelaufen ist und u.a. breite Unterstützung aus Südafrika erhält. Wir werden darüber berichten.

?1 Sara Roy, Wirtschaftlicher und sozialer Verfall im Westjordanland und Gazastreifen. In: Sozial.Geschichte, Heft 3/2004, S. 88-110. Der Artikel ist sehr lesenswert. Bestelladresse: Sozial.Geschichte@brainlift.de

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