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Ein Protest geht um die Welt

01.08.2003

Die Proteste gegen die kapitalistische Globalisierung nähren sich aus einer Vielzahl sozialer Bewegungen und Kampagnen, die ihre Wurzeln zumeist in den 70er und 80er Jahren haben: Bauern setzen sich gegen die Kontrolle der multinationalen Konzerne über Wasser, Saatgut und Biodiversität zur Wehr und streiten für die gesunde Qualität von Lebensmitteln und das Recht der Kleinbauern, die örtlich und regional ansässige Bevölkerung mit Nahrungsmitteln versorgen zu können – d. h. von Nahrungsmittelimporten unabhängig zu sein.

In den "freien Produktionszonen" erkämpfen Frauen das Recht auf gewerkschaftliche Organisierung und auf die elementarsten Arbeitsschutzbestimmungen, welche die Arbeiterbewegung in den Industrieländern in über 100 Jahren erstritten hat. Studierende an US-amerikanischen Hochschulen machen in Solidaritätskampagnen darauf aufmerksam, unter welchen Bedingungen die T-Shirts und Sportschuhe, die sie tragen, in Südostasien hergestellt werden, aber auch unter welchen Bedingungen Reinigungsfrauen auf ihrem Campus arbeiten.

Kampagnen für die Streichung der Schulden der Länder des Südens beleben den Ansatz internationaler Solidarität. Die Privatisierung von öffentlichen Verkehrsmitteln, Gesundheit, Renten, Bildung, Versorgung mit Trinkwasser und vielen anderen Bereichen stoßen in so gut wie allen Ländern auf hartnäckigen Widerstand.

Alle diese Bewegungen erkennen, dass letzten Endes die Quelle dieser Politik in Entscheidungen der internationalen Handels- und Finanzinstitutionen zu finden ist, die nur von den Regierungen der mächtigsten Länder, kaum von den nationalen Parlamenten und schon gar nicht von den Bevölkerungen beeinflussbar sind, sondern wesentlich von den großen multinationalen Konzernen. So geht es mit der Liberalisierung der Agrarpolitik im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO), mit der Durchsetzung des Dienstleistungsabkommens GATS, beim Abkommen über die Rechte an geistigem Eigentum (Trips) und anderen Handelsabkommen, die bestimmte Wirtschaftsbereiche oder Regionen/Kontinente betreffen und die nur einen Sinn haben: den Konzernen zu ermöglichen, dass sie auf Kosten von KleinproduzentInnen ihre Produkte verkaufen, oder mit öffentlichen Gütern privaten Profit machen können.

Der Aufstand der Zapatistas am 1. Januar 1994 wird allgemein als Wendepunkt betrachtet, der weltweit einen neuen Aufstieg der sozialen und Klassenkämpfe eingeläutet hat, nach zwei Jahrzehnten Rückgang und Niederlagen.

Den länderübergreifenden Auftakt bildete 1996 die Kampagne gegen das MAI (Multilaterales Investitionsabkommen), das erfolgreich zu Fall gebracht werden konnte; 1997 kamen die Proteste gegen die EU hinzu, die zunächst von der Erwerbslosenbewegung, nunmehr aber zum Teil auch von der Bewegung gegen die kapitalistische Globalisierung, dem Europäischen Gewerkschaftsbund und der Friedensbewegung getragen werden; zu den Protesten gegen das nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA (oder TLCAN) gesellten sich später die gegen das panamerikanische Freihandelsabkommen ALCA (oder FTAA); schließlich der Widerstand gegen die WTO selbst, deren Millenniumsrunde in Seattle im November1999 am Widerstand der DemonstrantInnen scheiterte.

Die neue Bewegung zeichnet sich nicht allein durch die große Vielfalt ihrer Akteure und Akteurinnen, sondern auch durch ihren von Anfang an internationalen Charakter aus. Das Verständnis von Internationalismus hat sich seit den 70er Jahren grundlegend gewandelt. Auf dem Weltsozialforum in Porto Alegre erklärte der Vertreter einer Nicht-Regierungsorganisation aus Mexiko in Hinblick auf Lateinamerika: ”Wir glauben nicht mehr, dass die Antwort auf den Imperialismus aus einem Land oder einer Region kommt, sie kommt aus dem gemeinsamen Kampf von Nord und Süd.”

In Europa hat dieser Kampf in den die Dezemberstreiks im öffentlichen Dienst in Frankreich 1995/96 und den Protesten gegen die G 8 im Juni 2001 in Genua erste Höhepunkte erfahren. Seither haben sich die Proteste verdichtet: die internationalen Institutionen sind längst nicht mehr der einzige oder der Hauptadressat. Der Kampf gegen den Abbau der sozialen Sicherungssysteme, gegen Erwerbslosigkeit und Massenentlassungen, gegen die Schuldknechtschaft hat den Charakter sozialer Massenproteste angenommen, die international verbreitet sind. In Südeuropa war 2002 das Jahr der Generalstreiks gegen die Aushöhlung des Kündigungsschutzes.2003 richten sich Generalstreiks gegen die Privatisierung der Altersvorsorge.

Diese Dynamik setzt erneut die Frage nach den Machtverhältnissen und deren Veränderung auf die Tagesordnung; damit natürlich auch die Frage nach den gesellschaftlichen Alternativen, die wir anstreben. Die Bewegung der Sozialforen hat darauf mit einer verstärkten Koordination der sozialen Bewegungen reagiert, die es darauf anlegt, internationale Handlungsfähigkeit im außerparlamentarischen Kampf zu erreichen. Aber eine neue Strategiedebatte, die überschaubare Kampfziele formuliert, steht noch weitgehend aus.

Viele Aktive in den Bewegungen fragen manchmal resigniert, was es bringt, da es doch scheint, als könne nichts die Herrschaft der Neoliberalen ins Wanken bringen. Sie übersehen die Erfolge, die die Bewegung jetzt schon für sich verbuchen kann: die nachhaltige Delegitimierung und Krise des neoliberalen Ansatzes, die die Möglichkeit eröffnet, die ideologische Hegemonie des Liberalismus über die Massen zu brechen und Alternativen überhaupt erst zu einer sichtbaren Notwendigkeit zu machen; die Spaltung innerhalb der herrschenden Eliten in den Ländern des Nordens; der Aufbau neuer gemeinsamer Strukturen auf Weltebene; die Herausbildung der Sozialforumsbewegung als eines gemeinsamen Bezugspunktes für viele, die diese Welt verändern wollen; überhaupt die Wiederentdeckung verloren geglaubter Werte wie die Einheit der Bewegung in ihrer Vielfalt, die Selbsttätigkeit als Voraussetzung für demokratisches Handeln und Emanzipation und dergleichen mehr.

Andererseits sind auch noch enorme Wegstrecken zurückzulegen: in der Zusammenarbeit der verschiedenen Bewegungen; in der Durchsetzung neuer Arbeitsweisen und eines neuen Politikstils, der Transparenz, Pluralismus, Kreativität und gemeinsame Strategiebildung miteinander kombiniert und durch den Demokratie für breite Massen eine neue Bedeutung erhält; in der Gewinnung neuer Bevölkerungsschichten für diesen Kampf und somit dem
Aufbau eines gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses, das sich schließlich zu Gunsten der Lohnabhängigen bewegt. Das kann man nicht an einem Tag, nicht durch eine Protestaktion leisten. 20 Jahre lang sind Errungenschaften der Arbeiterbewegung unter Beschuss genommen und ihre Stellungen erheblich geschwächt worden. Diesen Trend umzukehren, ist eine langfristige Aufgabe.

Eine neue Stufe der Globalisierung

Die Anschläge auf das World Trade Center und der angekündigte ”lang anhaltende Krieg gegen den Terrorismus" haben die äußeren Bedingungen für die globalisierungskritische Bewegung erheblich verändert. Zwar ist es ihr gelungen, den Zustand der Sprachlosigkeit relativ schnell zu überwinden und bloßzulegen, dass mit dem "Kampf gegen den Terror" weniger reale terroristische Netzwerke als all die Kräfte und Staaten gemeint sind, die sich dem Willen der USA nicht unterordnen wollen – mithin in letzter Instanz auch die globalisierungskritische Bewegung selbst. Zwar ist es ihr gelungen, im Krieg gegen den Irak für ihren Standpunkt "Kein Blut für Öl" die große Mehrheit der Weltbevölkerung hinter sich zu bringen – und dies in einer einmaligen weltweiten gemeinsamen Mobilisierung am 15. Februar 2003 sichtbar zu machen.

In erster Linie wird der neue Dauerkriegszustand jedoch als eine Kampfansage der herrschenden Klasse und politischen Elite in den USA diskutiert: an bestimmte "unbotmäßige" Herrscher in strategisch wichtigen Regionen der Welt, aber auch an imperialistische Rivalen in Europa oder Ostasien (Japan/China). Daraus wird ein Antagonismus zwischen den Interessen auf beiden Seiten des Atlantik abgeleitet, der in seiner überspitzten Form dazu drängt, jeweils für eine Seite als der "guten" Partei zu ergreifen: seien dies das "alte Europa" oder das "Amerika als Garant der Demokratie".

Hat in der Phase vor dem 11. September die Kritik an der kapitalistischen Globalisierung häufig von der nationalstaatlichen Form, die sie für ihre Entfaltung benötigte, abstrahiert und so getan, als seien die Staaten im Verhältnis zu den Konzernen zu willenlosen Handlangern verkommen, so hat sich nach dem 11. September, besonders aber nach dem Angriff auf den Irak das Bild vollständig geändert: Nunmehr wird die Kritik an den internationalen Finanzinstitutionen von der Kritik am Unilateralismus der US-Regierung überlagert; Globalisierung scheint synonym mit US-Imperialismus zu werden.

Während eine solche Wahrnehmung in den Teilen der Welt, die unter der direkten ökonomischen wie militärischen Herrschaft der USA stehen, gerechtfertigt ist, führt sie in Europa zu einem Zerrbild. Es besteht die Gefahr, dass die globalisierungskritische Bewegung ihren Ansatz verkürzt und statt einer "Globalisierung von unten" nunmehr regionalen Alternativen das Wort spricht.

Bisher ist es noch nicht gelungen, einen zufriedenstellenden Zusammenhang zwischen der neoliberalen Offensive der 80er und 90er Jahre und der Tendenz zur Militarisierung der Konflikte in ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends herzustellen. Dies zu leisten wird eine Voraussetzung dafür sein, dass die globalisierungskritische Bewegung ihren internationalistischen und anti-neoliberalen, tendenziell antikapitalistischen Impuls bewahren und ausbauen kann, obwohl die Kriege in die Richtung einer Ethnisierung und Regionalisierung der Konflikte und entsprechender Scheinlösungen drängen. Auf dem Spiel steht nicht mehr und nicht weniger als der emanzipatorische Charakter der neuen Bewegung: Wird sie dem Imperativ der Konkurrenz um die Kontrolle von Ressourcen und Einflussbereichen letztlich unterliegen – und damit den Weg der Sozialdemokratie gehen -, oder wird sie dieser Logik widerstehen und dem Gebot der Kooperation und der Solidarität weltweit zur Durchsetzung verhelfen?

Die Entscheidung, vor der wir heute stehen, ist letztlich keine andere als zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts auch: Sozialismus oder Barbarei.

Der neue Kriegskurs der USA, der sich in den 90er Jahren (nach dem Fall der Mauer und infolge des Wegbrechens der Sowjetunion als strategischer Rivale) sukzessive aufgebaut hat, ist eine Fortsetzung des wirtschaftspolitischen Expansionskurses, der dem Konzept der Globalisierung selbst inhärent ist. Analog zu der Definition von Percy Barnevik, stellvertretend für seine Kollegen in anderen Konzernetagen, der Globalisierung als die Freiheit, überall zu eigenen Bedingungen investieren zu können, kann man die neue nationale Sicherheitsdoktrin der USA als die Freiheit definieren, überall militärisch zuschlagen zu können.

Der wirtschaftliche Konkurrenzkampf, den die neoliberale Lehre zu einem globalen, alle Gesellschaften regierenden Gebot ausbauen möchte, mündet irgendwann in einen militärischen Konflikt, der jedoch die Gefahr eines neuen Weltkrieges in sich trägt, welcher nie da gewesene Zerstörungen mit sich brächte und die menschliche Zivilisation der Gefahr der Selbstvernichtung aussetzte. Dieselben Konzerne, die in der WTO auch noch die letzten Hindernisse für private Investitionen und Gewinne niederreißen möchten, bereichern sich ungeniert an den imperialen Kriegen, und sei es, um wiederaufbauen zu können, was die Kollegen von der Rüstungsindustrie niedergerissen haben. Aber diese neue Stufe der Gewinnschöpfung beschränkt sich nicht auf US-Konzerne; europäische Konzerne drängen massiv darauf, dass die EU aufrüstet, damit sie durch die militärische Vormacht der USA nicht ins Hintertreffen geraten. Die EU beschleunigt ihre Drift zu einer starken Militärmacht neben den USA. So wird aus der wirtschaftlichen Konkurrenz um Weltmarktanteile eine militärische Konkurrenz. Oder anders ausgedrückt: Wir erleben jetzt eine neue Stufe der Globalisierung, nämlich die militärische.

Für den neuen Kriegskurs gibt es eine ganze Reihe von Gründen, die längst nicht ausreichend ausgeleuchtet sind: die Kontrolle fremder Ressourcen, auch nach dem Zerfall von Staaten, der Einbruch der New Economy und die Drohung einer anhaltenden schweren Wirtschaftskrise, die Kontrolle des Ölpreises und damit teilweise des Dollarkurses, die Etablierung einer militärisch unanfechtbaren Supermacht, die gerade dadurch ihre Konkurrenten herausfordert, usw. Die ”Einheit” des von den USA geschmiedeten Bündnisses beruht im wesentlichen darauf, dass die verbündeten Länder des Nordens hoffen, im neuen Machtpoker ihren weltweiten Einfluss durch erhöhten militärischen Einsatz vergrößern zu können; Länder im arabischen Raum und im Osten hoffen
, sich mit ihrer Hilfe bisher ungelöster innenpolitischer Probleme zu entledigen bzw. finanziell großzügig entgolten zu werden.

Je länger jedoch die Wirtschaftskrise und der Kriegskurs anhalten, desto stärker werden sich die Widersprüche zwischen den großen Wirtschaftsblöcken, aber auch mit Rußland und China, mit der islamischen Welt und den Ländern des Südens zuspitzen. In dem Maße, wie die Politik der USA öffentlich unter Kritik gerät, werden regionale ”Lösungen” wie der Aufbau einer europäischen Interventionsarmee, die unabhängig von den militärischen Einrichtungen der NATO agieren kann, und der Aufbau einer europäischen Weltpolizei an Glaubwürdigkeit gewinnen. Die Globalisierung der Konkurrenz wird im militärischen Bereich zu einer verstärkten Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und zu einer Herabsetzung der Schwelle ihres Einsatzes führen.

Ebenso wenig wie die Durchsetzung des Freihandels in aller Welt nur das Werk der US-Konzerne war, wird der Einsatz militärischer Mittel im wirtschaftlichen Konkurrenzkampf nur das Werk der US-Regierung bleiben. Wir können uns deshalb nicht auf eine "gute Seite" schlagen, sondern müssen das Prinzip der globalen Konkurrenz als dem Regulationsmechanismus gesellschaftlicher Interessen als solches in Frage stellen.

Keynesianismus ist keine Alternative

Wir teilen mit Verfechtern einer nachfrageorientierten, staatsinterventionistischen Wirtschaftspolitik einige wichtige Forderungen: vor allem die nach Umverteilung des Reichtums von oben nach unten und nach einer grundlegenden Neuverteilung der Arbeit. Doch hat dieser Ansatz starke Beschränkungen.

1. Anders als vor dem Ersten Weltkrieg spielt sich die Militarisierung der globalen Durchsetzung des Freihandels heute vor dem Hintergrund einer heraufziehenden tiefen Wirtschaftskrise ab, die absehbar von keinem vorübergehenden technologischen Boom mehr abgefedert werden kann, wie dies mit dem IT-Boom der Fall war. Aussichten auf ein länger anhaltendes Wirtschaftswachstum gibt es nirgends mehr.

Der Produktivitätsfortschritt in den letzten Jahrzehnten ist derart, dass ein moderates Wirtschaftswachstum nicht mehr ausreicht, um nach dem alten Muster Vollbeschäftigung zu erzielen. Selbst die Übernahme des ostdeutschen Marktes durch die westdeutschen Konzerne nach 1989 (immerhin ein Markt von knapp 17 Millionen Menschen) hat nicht ausgereicht, die Erwerbslosigkeit Anfang der 90er Jahre nennenswert abzubauen. D. h. das klassische Mittel der keynesianischen Kritiker des Neoliberalismus, die Ankurbelung der Binnennachfrage, wäre ein Tropfen auf dem heißen Stein und könnte die tiefgreifenden Umwälzungen, die die neoliberale Offensive der 80er Jahre mit sich gebracht hat, nicht mehr auffangen, bzw. die durch sie aufgeworfenen Probleme nicht lösen.

Die Wirtschaftskrise, die wir erleben, ist eine Überproduktionskrise. Wir werden arm, weil wir zu viele Waren produzieren, nicht zu wenige. Der ungeheuren Ansammlung an Warenmengen steht keine zahlungsfähige Kaufkraft mehr gegenüber, und selbst wenn dies der Fall wäre, würde unsere Lebensqualität kaum gesteigert werden. Arm sind wir vor allem an öffentlichen Dienstleistungen, die dem Einzelnen eine Entfaltung seiner Persönlichkeit in beruflicher wie in sozialer Hinsicht ermöglichen: Bildung, Sport, Entfaltung von Kreativität und Eigeninitiative, Gesundheit, schonender Umgang mit der Umwelt, kulturelle Entwicklung, Zeit für Kinder und alte Menschen, Vorrang für die reproduktiven Seiten des menschlichen Lebens… Das sind alles Tätigkeiten, die nicht den Kriterien der Warenproduktion entsprechen und Fähigkeiten, die verkümmern, wenn sie durch Warenbeziehungen ersetzt werden.

Der Übergang zu einer solchen Wirtschaftsweise erfordert einen Bruch mit Logik der Warenproduktion, d. h. der Produktion um des privaten Profits willen, der mit Dienstleistungen in aller Regel nicht zu machen ist, sofern diese flächendeckend für alle angeboten werden, und nicht nur für eine kleine, zahlungskräftige Minderheit. Tatsächlich steht der von den neoliberalen Ideologen verheißene Übergang von der Industriegesellschaft zur Dienstleistungsgesellschaft ja aus: Zwar geht die Industrieproduktion relativ zurück, aber das Wachstum an Dienstleistungen, das es in den letzten Jahren gegeben hat, war vor allem ein Wachstum an Finanzdienstleistungen und Derivaten.*

Wir würden also besser dastehen, wenn wir den gesellschaftlichen Reichtum (das Bruttosozialprodukt) nicht mehr nach der Menge an hergestellten Waren, sondern nach der Menge und Qualität der erbrachten Dienstleistungen aller Art messen würden, darunter auch solche, die heute nicht bezahlt werden, aber für die Gesellschaft unerlässlich sind, so dass sie unbedingt honoriert werden müssten: die Sorge um Alte und Pflegebedürftige, die heute weitgehend ehrenamtlich wahrgenommen wird; die Kindererziehung, für die sich Eltern qualifizieren können müssen; Beratungstätigkeiten aller Art – die Hilfe zur Selbsthilfe; Angebote zur Freizeitgestaltung; die Beseitigung der Schäden durch die jetzige Wirtschaftsweise (Umweltschäden, soziale Schäden); kulturelle Angebote usw.

In all diesen Bereichen muss die Bewertung von Arbeit gänzlich neuen Maßstäben folgen. Viele gesellschaftlich nützliche Arbeiten finden heute keine Anerkennung, insbesondere Dienstleistungen, die auf den "privaten" Bereich abgeschoben werden.

Solange Güter knapp sind, werden sie – wenn eine Zuteilungswirtschaft vermieden werden soll – weiterhin marktförmig verteilt werden. Aber befreit vom Diktat, immer noch Waren produzieren zu müssen (und damit Profit zu machen), wird ein wachsender Teil des gesellschaftlichen Reichtums nach den Kriterien der tatsächlichen Bedürfnisse verteilt werden können – angefangen bei öffentlichen Dienstleistungen, Grundnahrungsmitteln und anderen Gütern des täglichen Gebrauchs.

Eine solche Reorientierung der Wirtschaft nach dem tatsächlichen Bedarf (z. B. indem man im vorhinein, nicht im nachhinein ermittelt und "just in time" produziert) verabschiedet sich zwangsläufig von den Wirtschaftsschulen, die miteinander um die Frage konkurrieren, auf welchem Weg das Wirtschaftswachstum am ehesten in die Höhe zu treiben sei. Die derzeitige Diskussion orientiert sich ausschließlich an Wirtschaftszahlen (und an den Interessen bestimmter Produzentengruppen) und geht an den B
edürfnissen der Mehrheit der Menschen weit vorbei. Letztlich mögen einige zur Schlussfolgerung kommen, unter den derzeitigen Bedingungen sei Wirtschaftswachstum nur noch um den Preis einer massiven Rüstungsproduktion (Militarisierung des Weltraums) zu haben. Sie wäre nicht weniger menschenfeindlich als das jetzige neoliberale Dogma.

2. Eine Wirtschaftsordnung, die sich nach dem Bedarf der Menschen richtet, erfordert dringend auch eine Korrektur der sog. internationalen Arbeitsteilung, die sich unter dem Diktat der neoliberalen Globalisierung herausgebildet hat und gegen die die Bevölkerung des Südens berechtigterweise Sturm läuft. Das fängt damit an, dass wir sie nicht länger zwingen, Nahrungsmittel für unseren Luxusbedarf anstelle von Nahrungsmitteln für ihre Grundversorgung herzustellen; dass wir ihnen nicht länger verwehren, ihre Rohstoffe selber zu veredeln und im fertigen Zustand an uns zu verkaufen; und dass wir uns ihre Rohstoffe nicht auf räuberische Weise aneignen. Hier brauchen wir in der Tat eine neue Weltwirtschaftsordnung, die auf der internationalen Kooperation und auf der grundsätzlichen Gleichheit aller Wirtschaftspartner beruht. Wir können eine solche nicht dekretieren, sondern müssen sie aushandeln.

Wir lehnen deshalb jede Form von protektionistischen Lösungen für die Länder des Nordens ab; wir lehnen es ab, auf Kosten von anderen Wohlstandsinseln zu schaffen. Die Frage der weltweiten Verteilung des Reichtums und der Ressourcen ist für jede wirtschaftliche Neuordnung absolut zentral.

Wir treten ein für die bedingungslose Streichung der Schulden der Länder des Südens, für die Zahlung von Entschädigungen für die Folgen von Sklaverei, Kolonialismus und Imperialismus und somit für einen Ressourcentransfer von Norden nach Süden, nachdem ein großer Teil unseres Reichtums seit dem Beginn der europäischen Expansion auf dem umgekehrten Transfer beruht. Um dies zu regeln, brauchen wir internationale Institutionen, die gänzlich anders funktionieren und zusammengesetzt sind als die bestehenden.

3. Die dritte Kritik am keynesianischen Ansatz betrifft seine Fixiertheit auf staatliche Institutionen und die bestehenden gesellschaftlichen Kräfte als Träger von Veränderungen (ein privates Unternehmertum, das die wesentlichen wirtschaftlichen und politischen Entscheidungen bestimmt; eine lohnabhängige Klasse ohne Entscheidungsmöglichkeiten in den wesentlichen Fragen). Wir hingegen sind der Auffassung, dass grundlegende gesellschaftliche Veränderungen nur möglich sind, wenn diejenigen, die eine andere Wirtschaftsweise brauchen, alle Möglichkeiten erhalten, sich nicht nur als ProduzentInnen, sondern auch als Entscheidungsträger über Investitionen betätigen zu können. In diesem Sinne halten wir den brasilianischen Ansatz einer Beteiligungsdemokratie (Porto Alegre) für sehr nachahmenswert.

Alle oben angeschnittenen Fragen sind letztlich Machtfragen; beim heutigen Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit wäre nicht einmal die Wiederherstellung der bruttolohnbezogenen Rente oder eine Anhebung des Regelsatzes in der Sozialhilfe möglich, ohne dass es zugleich zu schweren Konflikten mit dem Unternehmerlager und der Regierung käme; solche Kämpfe wären außerdem einer orchestrierten Desinformationskampagne fast der gesamten Medienlandschaft ausgesetzt, wie der Streik der IG Metall um die 35-Stunden-Woche in Ostdeutschland zeigte. Es gibt unter gegebenen Bedingungen keinen Spielraum für Reformen mehr (Oskar Lafontaine musste es am eigenen Leib erfahren) – das macht den keynesianischen Ansatz letztlich unglaubwürdig und wirft zugleich die strategische Frage auf, wie die Lohnabhängigen eine solche Auseinandersetzung für sich entscheiden können.

 

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