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Die Wahlen in der Ukraine: Aus dem Blickwinkel der ArbeiterInnenklasse

Von Wladimir Zlenko | 01.01.2005

Das politische und wirtschaftliche Leben der Ukraine wird von so genannten Clans beherrscht, Gruppen von Kapitalisten, die zum einen mit den politischen Strukturen und zum anderen mit kriminellen Elementen verbunden sind. Es gibt vier Clans, die in ständigem Wettstreit stehen und um die Macht und die Aneignung der öffentlichen Mittel kämpfen.

1. Der Donezk-Clan wird von dem reichsten Bürger der Ukraine, Rinat Achmetov, geführt. Viktor Janukowitsch gehört zu diesem Clan. Achmatov ist heute offiziell 3,5 Milliarden US-Dollar schwer. Sein politischer Deckmantel ist die „Partei der Regionen“, deren tatsächlicher Führer Viktor Janukowitsch ist.

2. Der Dnjepropetrowsk-Clan wird von Viktor Pintschuk angeführt, dem Schwiegersohn des ausgehenden Präsidenten Leonid Kutschma. Sein politischer Deckmantel ist die „Arbeitspartei der Ukraine“, deren Führer Sergej Tihipko ist. Pintschuk übt den entscheidenden Einfluss in der Partei aus, obwohl er vor einigen Monaten ankündigte, er werde sie und seine Führerrolle zugunsten seiner geschäftlichen Tätigkeit aufgeben. Es ist nicht auszuschließen, dass er für die Präsidentschaft der Ukraine kandidieren wird, aber er sagte noch nicht, wann. Wenn die derzeitige Lage zu einer Neuwahl führt, könnte er gut für seine Partei als Kandidat antreten.

3. Der Kiew-Clan wird von Viktor Medwedschuk1 geleitet, der der Kopf der Präsidialverwaltung ist, und von Grigorij Surkis, dem Eigner des Kiewer Fußballclubs Dynamo. Dieser Clan schließt auch den scheidenden Präsidenten Kutschma ein. Der politische Arm ist die „Sozialdemokratische Partei der Ukraine (vereinigt)“. Bis vor kurzem arbeitete auch Alexander Zintschenko in dieser Gruppe. Auf der Liste dieser Partei wurde er Abgeordneter in der Rada (Parlament) und dann deren Vizepräsident. Anschließend wechselte er zum Team von Viktor Juschtschenko und führte ihm die Wahlkampagne.

4. Bevor Juschtschenko die Szene betrat schaffte es der westliche Clan nicht, einen Durchbruch hin zu wirklichem Einfluss auf nationaler Ebene zu erzielen. Er war im Wesentlichen im Westen des Landes aktiv. Aus diesem Grund fühlten sich die Oligarchen dieses Clans bei der Privatisierung des nationalen Reichtums zu kurz gekommen. Sie betrachten das als ungerecht und wollen ihren Anteil am Kuchen vergrößern. Eines ihrer bekanntesten Mitglieder ist der „süße König der Ukraine“, Peter Poroschenski, der bis zum Jahr 2000 Mitglied der „Sozialdemokratischen Partei (vereinigt)“ war Er verließ sie und wurde zusammen mit David Zavinija und Nikolai Martinenko Kopf der „Solidaritätspartei der Ukraine“. Alexander Omletschenko, der Sohn des Bürgermeist-ers von Kiew, steht dem Clan nahe und arbeitet mit ihm zusammen. Julia Timoschenko, eine Kollegin von Pawel Lazarenko (der als Premierminister Millionen stahl und in den USA angeklagt wurde), arbeitet eng mit Juschtschenko zusammen. Sie wird von Interpol gesucht. Ihr bester Schutz vor Verfolgung ist politische Macht. All das Gesagte lässt den Schluss zu, dass die Hauptorientierung dieser Leute, wenn Juschtschenko gewinnt, eine neue Verteilung des Reichtums zu ihren Gunsten sein wird. Natürlich wenden sie sich gegen jede politische Reform, die die weitgehenden Machtbefugnisse des Präsidenten einschränken würde.
Die Oligarchie
Alle ukrainischen Oligarchen wurden sehr schnell reich2. Ihre Taschen füllten sich mit Staatseigentum und mit dem Geld des Volkes. Und das geschah mittels blanker Plünderung. Der Staat half aktiv dabei. Die Hyperinflation wurde 1992 losgetreten (und das war keine unvorhersehbare Folge anderer Maßnahmen), um den Leuten das „überschüssige“ Geld abzunehmen. Gleichzeitig raubte dies den Unternehmen ihr zirkulierendes Kapital. Und das mündete in etwas, was man nur mit ökonomischem Genozid auf dem Rücken des Volkes bezeichnen kann. Die Demographie stützt diese Anklage in vollem Umfang. Die arbeitende Bevölkerung hatte keinerlei Chance, irgendeinen Teil des öffentlichen Reichtums während der Privatisierung abzubekommen. Dafür brauchte man staatliche Macht und kriminelle Verbindungen. Im Laufe dieses Prozesses fusionierten Staatsmacht und Unterwelt. Alle Oligarchen sind Parlamentsmitglieder und genießen Immunität gegen Strafverfolgung. Das ist eine weitere Besonderheit in der Ukraine: Die oligarchisch-kriminelle Schicht von Geschäftsleuten übt das politische Geschäft direkt aus. Juschtschenko ist keine Ausnahme.
Zu Juschtschenkos Block gehört auch eine Reihe von ultranationalistischen Parteien an der Grenze zum Faschismus. An erster Stelle zu nennen ist die „Freiheitspartei“, die sich bis 2003 „Sozial-Nationale Partei der Ukraine“ nannte. Von dieser Seite ertönen die Parolen „Ukraine den Ukrainern“, „Ukraine vom Syan“ (Fluss in Polen bis zum Don (Russland)), „Kikes und Moskowiter raus aus der Ukraine“, „Die Nation über allem anderen“, „Nationale Diktatur“, „Russland der Hauptfeind Nummer Eins“ etc.
Der laufende Konflikt ist kein Kampf zwischen Demokratie und Autokratie. Unter diesem Gesichtspunkt gibt es keinen Unterschied zwischen Janukowitsch und Juschtschenko. Sie raubten und rauben beide das ukrainische Volk und den Staat aus. Juschtschenkos Hauptslogan bei seinen Kundgebungen war: „Wir müssen reiche Leute schaffen, und die werden dann den Armen helfen.“ Er bietet der arbeitenden Bevölkerung keinerlei Möglichkeit, aktiv am politischen und ökonomischen Leben teilzunehmen, Subjekt ihrer eigenen Geschichte zu sein, oder zumindest würdig zu leben und einigermaßen zu verdienen. Ihre Rolle ist es, geduldig auf die Freigebigkeit der Reichen zu warten. Keiner der Kandidaten repräsentiert die Interessen der Arbeiterklasse. Zwei Clans von Oligarchen kämpfen um die Macht, phantastische Profite zu machen und sich das anzueignen, was noch nicht privatisiert wurde. Ihre gesamte Politik wird auf der Ausbeutung der Arbeiterklasse beruhen. Was entschieden wird, ist, wer der nächste ist, der die Nation ausplündert.
Demonstrationen
Natürlich ist es nicht richtig, wie Kutschma und sein Regime sich verhalten. Und nach den Demonstrationen auf den Straßen werden die Leute nicht mehr die gleichen sein – das ist ein positiver Effekt. Die Menschen werden gelernt haben, Widerstand zu leisten und vielleicht beginnen sie, ihre eigenen Interessen besser zu begreifen und einzufordern, dass diese respektiert werden. Die Arbeiter, ob aus der Produktion oder nicht, sind nicht auf der Straße. Sie haben immer noch keine eigenen Organisationen. Die Studenten, die sich auf der Straße zeigten, begreifen noch nicht, wo ihre eigenen Interessen liegen. Sie denken nur an den Sieg. Sie rufen nicht „Demokratie in Politik und Wirtschaft“, „Respektiert die Rechte der Arbeiter“, „Alle Macht dem Volk“. Sie rufen: „Juschtschenko, Juschtschenko, Juschtschenko.“ Das Bild des „kleinen Vaters“, des Führers, ist aufgetaucht. In Deutschland in den 30er Jahren verfielen die Leute auch in Ekstase, wenn sie Hitler sahen. Er brachte die Wirtschaft in Gang und beendete die Arbeitslosigkeit.
Spaltung des Landes
Eine der Besonderheiten der Geschichte der Ukrain
e ist, dass es niemals breite Massenbewegungen gab. Die Ukraine kämpfte immer um nationale Unabhängigkeit, demokratische und soziale Forderungen standen an zweiter Stelle. Die nationale Herrschaftsstruktur nahm unterschiedliche Formen im West- und im Ostteil an. Diese Teilung verschärfte sich 1596, als der Westen katholisch wurde und der Osten russisch-orthodox blieb. Die Ukraine war immer in zwei Teile geteilt. Die Vereinigung resultierte nicht aus dem Willen des Volkes, sondern aus Stalins Methoden. Der Westen der Ukraine hatte Recht, diese Art der Vereinigung nicht zu akzeptieren, oder besser Stalins Politik der Umsiedlung in Zwangsarbeitslager, die Zwangskollektivierung und die anderen kriminellen Akte, die die Vereinigung begleiteten. Wie man sagt, beherrscht die Vergangenheit die Gegenwart. Heute besteht ein großer Unterschied zwischen den Bewohnern des Westens und des Ostens im Hinblick auf Kultur, Mentalität, politische Ansichten und das wirtschaftliche Potential. Im Grunde genommen sind es zwei verschiedene Völker. In der Zeit der Unabhängigkeit stimmten sie unterschiedlich ab, für unterschiedliche Kandidaten.

Die Wahlkampagnen von Janukowitsch und Juschtschenko stellten West gegen Ost und verschärften dadurch die Spaltung, anstatt nach Wegen der Zusammenführung zu suchen. Diese Strategie wurde im Westen entwickelt, von den USA, die Interesse an der Beibehaltung dieser Spaltung haben. Vor 1991 hatte die Ukraine keinerlei Erfahrung in Eigenstaatlichkeit und die Nation hat erst zu lernen, in einem eigenen Staat zu leben. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird sie einen verschlungenen Weg von Siegen und Niederlagen gehen müssen, mit volksfeindlichen ebenso wie demokratischen Regimen.

Was die Verletzungen des Wahlgesetzes betrifft, so geschahen diese ebenso im Osten wie im Westen. Da gibt es wenig Unterschiede zwischen den Lagern. Der zentrale Punkt der Kampagne war nicht, ob der Wille des Volkes verletzt würde oder nicht, sondern dass die Ukraine der Herrschaft der Gangster ein Ende setzen müsse. Jetzt gibt Juschtschenko große Summen für Demonstrationen und Plakate aus. Das ist zweifellos amerikanisches Geld. Studenten werden dafür bezahlt, an Demonstrationen teilzunehmen und in Zelten zu leben. Die Versorgung ist gut organisiert. Man muss sich nur die Kosten für die Zelte und die Decken vor Augen halten, alles vorher bereitgestellt – ein gut vorbereitetes Szenario.
Der Sieg eines jeden dieser Kandidaten wird kein Sieg des Volkes sein. Jeder der beiden wird nur einen Teil des Volkes zufrieden stellen und vom anderen nicht akzeptiert werden. Der einzige Ausweg sind Neuwahlen unter Ausschluss beider Kandidaten. Juschtschenko lehnt das ab. Er giert nach seinem persönlichen Erfolg. Der nächste Schritt muss die Einführung eines föderalen Systems in der Ukraine sein.

Wladimir Zlenko, Direktor der Schule für Arbeiterdemokratie (Präsident der Gewerkschaft der Automobil- und Lanwirtschaftsmaschinenbauer der Ukraine von 1990-1999), 2.12.2004
Übersetzung aus dem Englischen und Fußnoten: Thadeus Pato, Zwischenüberschriften von der Redaktion

1 Die fünf größten Fernsehkanäle des Landes gehören entweder Medwedschuk oder Pintschuk
2 Alle genannten Clanführer hatten zu Zeiten der Sowjetunion leitende Posten in der Wirtschaft und/oder, wie der Präsident Kutschma, der Chef einer Raketenfabrik war, auch hohe Ränge in der kommunistischen Partei.

 

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