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Die Stunde der Warlords

Von Harry Tuttle | 01.10.2006

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Der Krieg in Afghanistan und im Irak hat Islamisten und Warlords gestärkt. Die gesellschaftliche Zerrüttung behindert den Aufbau sozialer Bewegungen. Nach Angaben der afghanischen Regierung wurden im vergangenen Jahr 40 000 Hektar Opiumfelder zerstört, etwa ein Viertel der derzeitigen Anbaufläche. An die Felder einflussreicher Warlords wagen sich die Regierungsbeamten jedoch nicht heran, und wer wirklich gut im Geschäft ist, kann die Drogenbekämpfer bestechen.

Der Krieg in Afghanistan und im Irak hat Islamisten und Warlords gestärkt. Die gesellschaftliche Zerrüttung behindert den Aufbau sozialer Bewegungen.

Hauptmann Leo Docherty hat Verständnis für den Feind. „Wenn die Leute ihre Häuser und Opiumfelder verlieren, werden sie kämpfen. Ich würde es tun“, sagt der ehemalige Adjutant des britischen Kommandanten der südafghanischen Provinz Helmand. Docherty hat die Armee verlassen, doch die verbliebenen Truppen aus Großbritannien und anderen NATO-Staaten haben wachsende Probleme mit bewaffneten Widerstandgruppen.

Ihnen stehen nicht nur Taliban gegenüber, die aus ideologischen Motiven kämpfen. Zahlreiche arme Bauern haben sich gegen die Interventionstruppen gewandt, weil Soldaten ihre Opiumfelder zerstört oder die Vernichtung der Ernte angedroht haben. Der Opiumanbau ist die Lebensgrundlage für große Teile der Landbevölkerung, und eine Alternative gibt es nicht. Nur wenige Pflanzen gedeihen überhaupt in den kargen und trockenen Bergen, schlechte Transportwege und die Unsicherheit machen es unmöglich, legale Agrarprodukte zu vermarkten.
Offensive der Taliban
Nach Angaben der afghanischen Regierung wurden im vergangenen Jahr 40 000 Hektar Opiumfelder zerstört, etwa ein Viertel der derzeitigen Anbaufläche. An die Felder einflussreicher Warlords wagen sich die Regierungsbeamten jedoch nicht heran, und wer wirklich gut im Geschäft ist, kann die Drogenbekämpfer bestechen. Selbst der dafür zuständige Minister Habibullah Qadori hat wenig Vertrauen in seine Untergebenen: „Die Korruption ist schlimm, es gibt viele Fälle, in denen Polizisten beim Opium- oder Heroinschmuggel erwischt werden“. Doch auch weiter oben im Staatsapparat gibt es Männer, die vom Opiumhandel profitieren, dessen Volumen auf vier Milliarden Dollar pro Jahr geschätzt wird.

Das Nachsehen haben die bäuerlichen Familien, die keinen mächtigen Schutzherren haben und sich kein Bestechungsgeld leisten können. Meist sind es auch ihre Häuser, die bei rücksichtslosen Bombardements zerstört werden. Dies hat es den Taliban ermöglicht, eine soziale Basis über den Kreis der ideologischen Anhänger hinaus zu gewinnen. Zudem profitiert die islamistische Bewegung selbst vom Drogengeschäft. Sie zahlt ihren neu rekrutierten Kämpfern umgerechnet etwa 270 Euro pro Monat, das ist mehr als das durchschnittliche Pro-Kopf-Jahreseinkommen.

Die Taliban sind weiterhin eine rechtsextreme terroristische Bewegung. In der Provinz Helmand haben sie durch Brandstiftung, Bombenanschläge und Drohungen die Schließung der Hälfte aller Schulen erzwungen. Es ist ihnen jedoch offenbar gelungen, vom Terror- zum Guerillakrieg überzugehen. Obwohl die NATO die Truppen im Süden verstärkt und nach eigenen Angaben seit Jahresbeginn mehr als 2000 „feindliche Kämpfer“ getötet hat, geht die Offensive unvermindert weiter.

Nach Einschätzung des Senlis Council kontrollieren die Taliban „psychologisch und de facto militärisch“ die südliche Hälfte des Landes. Anfang September veröffentlichte der Think Tank eine verheerende Bilanz der Lage in Afghanistan fünf Jahre nach dem Krieg (www.senliscouncil.net/modules/publications/014_publication): Es gibt „keine messbaren Erfolge in der Armutsbekämpfung“, 70 Prozent der Bevölkerung sind mangelernährt, die Lebenserwartung liegt bei 45 Jahren. Dennoch stellen die westlichen Staaten den Einsatz als Erfolg dar, vor allem die Abhaltung der Wahlen wird als erfolgreicher Schritt zur Demokratisierung gepriesen. Dank einer vorgeschriebenen Quote sind sogar 25 Prozent der Parlamentsabgeordneten Frauen.
Jihadisten im Parlament
„Für die meisten Frauen hat sich in ihrem Leben nichts geändert“, sagt jedoch Sahar Saba von der Frauenorganisation Rawa (Revolutionary Association of the Women of Afghanistan), sie werden weiterhin „sowohl von den Warlords als auch von den religiösen Fundamentalisten und der männlichen Dominanz in der Gesellschaft“ unterdrückt. Weil viele Wähler insbesondere in den ländlichen Gebieten unter dem Druck der Warlords und Islamistenführer abstimmen mussten, stellen deren Vertreter etwa zwei Drittel der Abgeordneten im Parlament. Unter ihnen sind auch ehemalige Kommandanten der Taliban wie Mullah Abdul Salam Rocketi, der seinen letzten Namen dem Talent im Umgang mit dem Raketenwerfer verdankt.

Nicht nur die Taliban fordern die Anwendung der Sharia, auch im Norden des Landes und in den Institutionen sind Islamisten aktiv. Das Oberste Gericht des Landes, das seine Existenz den Ende 2001 in Petersberg nahe Bonn ausgehandelten Vereinbarungen über die Neuordnung Afghanistans verdankt, verweigerte unter anderem einem Mädchen, das im Alter von neun Jahren verheiratet worden war, das Recht auf Scheidung von ihrem gewalttätigen Gatten, da „Frauen das Privileg haben, ihrem Ehemann zu gehorchen“.

Die Interventionsmächte selbst haben den Warlords und Islamisten eine demokratische Legitimation verschafft. Sie geben für ihre Kriegführung zehnmal soviel Geld aus wie für die zivile Hilfe, vor allem aber fehlt es an einem Konzept des nation building, das über den Aufbau von Institutionen hinausgeht. Das Desaster wird durch politische Fehler verschärft. Vor allem aber hat der kapitalistische Weltmarkt kaum Platz für Staaten, in denen nicht, wie in vielen asiatischen Ländern, in den siebziger und achtziger Jahren eine Kapitalakkumulation und Industrialisierung stattgefunden hat. Ausländische Finanzhilfe könnte zwar theoretisch die Akkumulation ersetzen, doch wären dann Beträge in einer ganz anderen Größenordnung gefragt. Entwicklungsperspektiven gibt es jedoch kaum, das Wirtschaftswachstum beschränkt sich daher auf wenige Sektoren, die vom Zustrom der Auslandshilfe abhängig sind. In Afghanistan ist das im Wesentlichen die Versorgung der Mitarbeiter von Hilfsorganisationen und Soldaten.
Unter den Bedingungen gesellschaftlicher Zerrüttung und ökonomischer Krise fällt es den Menschen schwer, sich für ihre sozialen Interessen zu organisieren. Schutz, Geld und Arbeit bieten nur die Milizen der Warlords, und wo es kaum reguläre Arbeitsverhältnisse gibt, kann sich auch keine Gewerkschaftsbewegung bilden. Bedeutende Bewegungen, die sich sowohl gegen Regierung und Interventionstruppen als auch gegen den rechtsextremen Terror der Islamisten wenden, gibt es nicht.
Kampf der Milizen
Vergleichbare gesellschaftliche Zustände haben sich auch im Irak etabliert, obwohl das ölreiche Land bessere Voraussetzungen für den Wiederaufbau hat. Doch selbst im vergleichsweise friedlichen, überwiegend kurdischen Norden ist das Wirtschaftswachstum überwiegend eine Folge des Bau- und Handelsbooms, der durch die Öleinnahmen ermöglicht wurde. Die Verwaltung dieser Einnahmen gibt den dort herrschenden kurdischen Parteien PUK und KDP die Möglichkeit, eine Klientel an sich zu binden.

Die wohl erfreulichste Entwicklung im Irak ist der wachsende Widerstand gegen die kurdischen Parteifürsten. Seit dem Frühjahr kommt es immer wieder zu Massendemonstrationen gegen Menschenrechtsverletzungen, Korruption und autoritäre Herrschaft. Insgesamt aber sind die sozialen Bewegungen schwach, Gewalt, gesellschaftliche Zerrüttung und ökonomischer Niedergang haben ungeachtet einiger kämpferischer Streiks auch verhindert, dass die Gewerkschaftsbewegung zu einem bedeutenden Faktor wurde.

Der Rest des Landes, insbesondere der Großraum Bagdad, befindet sich faktisch bereits im Bürgerkrieg. Dies ist mittlerweile weniger eine Folge der Anschläge von al-Qaida und anderen islamistischen Gruppen. Vielmehr sind es die Milizen überwiegend in Parlament und Regierung vertretener Parteien, die einander bekämpfen und die Zivilbevölkerung terrorisieren. Obwohl der konfessionelle Unterschied zwischen Schiiten und Sunniten meist die ideologische Grundlage ist, hat sich der Konflikt längst verselbständigt.

Die Warlordisierung scheint noch weiter vorangeschritten zu sein als in Afghanistan. Viele Milizen und Banden kontrollieren nur ein Stadtviertel und einen Straßenzug. Islamistische Milizen setzen den Tugendterror, den Schleierzwang für Frauen, das Alkoholverbot und andere Gebote der Sharia mit Gewalt durch. Meist aber geht es in mindestens ebenso großem Ausmaß schlicht um Schutz- und Lösegelderpressung, Raub und Plünderung.
Der Rückzug des Ayatollahs
Jeden Monat werden allein im Leichenschauhaus von Bagdad 1500 Leichen Ermordeter eingeliefert. Die Parteien scheinen die Kontrolle über ihre bewaffneten Truppen weitgehend verloren zu haben. Selbst Ayatollah Ali al-Sistani, der angesehenste schiitische Geistliche des Landes, der zahlreiche Konflikte vermittelnd beendet hat, büßte seinen Einfluss ein. Jüngst zog er sich offiziell aus der Politik zurück.

Im Irak und in den USA werden nun verstärkt Konzepte zur Teilung des Landes diskutiert. Die Verwirklichung dieser Pläne würde jedoch zu „ethnischen Säuberungen“ in gewaltigem Ausmaß führen, denn Millionen von Schiiten, Sunniten und Kurden leben außerhalb des Territoriums, das ihrer Bevölkerungsgruppe dann zugesprochen würde. Zudem dürften sich die Sunniten nicht zu einer Teilung bereit finden, denn während im schiitischen Süden und im kurdischen Norden Öl vorhanden ist, bliebe ihnen im Zentralirak nur Wüstensand. US-Präsident George W. Bush kann seine Parole „den Kurs halten“ nur deshalb durchsetzen, weil es ungeachtet der wachsenden Kritik in der Bevölkerung und auch im Establishment keine realpolitische Alternative gibt, die nicht zu einem Rückschlag für die imperialistische Politik, und nicht nur für seine Regierung, führen würde.

Die Kriege im Irak und in Afghanistan sind Konflikte einer neuen Epoche nach dem Ende des Kalten Krieges. Kennzeichnend für sie ist einerseits das Versagen der westlichen Interventionsmächte bei der politische Integration, andererseits der Mangel an fortschrittlichen Perspektiven bei den bewaffneten Widerstandgruppen. Es gibt derzeit keine Anzeichen dafür, dass die klassischen linken Befreiungskonzepte – der Aufbau einer von städtischen Intellektuellen geführten bäuerlichen Guerillaarmee in Afghanistan, Generalstreik und der Aufbau einer bewaffneten Gegenmacht im Irak – in absehbarer Zeit eine Renaissance erleben könnten. Derzeit liegt die Hoffnung für den Aufbau sozialer Bewegungen vor allem bei Organisationen wie RAWA und den kurdischen Protestierenden, die sich mit Elend und Entrechtung nicht abfinden wollen.

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