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Die Globalisierung der Barbarei

01.08.2003

Seit den frühen achtziger Jahren macht der Begriff ”Globalisierung” weltweit Karriere und sorgt für Furore. Diese Entwicklung hat sich in den neunziger Jahren verstärkt, da durch den Zusammenbruch der bürokratischen Regime des Ostblocks dem Kapitalismus scheinbar der Gegner abhanden gekommen ist. Neokonservative Autoren wie Francis Fukuyama wollten sogar im Sieg des Liberalismus ein Ende der Geschichte erkennen, weil ihrer Weltsicht nach keine Alternative zu westlicher Demokratie und Marktwirtschaft mehr möglich bzw. zu erwarten sei.

In Wirklichkeit handelt es sich bei der sogenannten Globalisierung um einen neuen Schub im Internationalisierungsprozess des Kapitals. Die Bedingungen dafür wurden nach dem Zusammenbruch des langen Nachkriegsbooms durchgesetzt. In der Wirtschaftskrise der 80er Jahre setzten die bürgerlichen Kräfte in einer Reihe von Ländern auf die Ausweitung der Binnennachfrage und auf den ”Klassenkampf von oben”. Diesen Kräften ging und geht es wesentlich um die ”Sanierung der Profitrate” durch verstärkte Ausbeutung der lohnabhängigen Massen, der Länder der Peripherie und der Natur. Dieser Prozess verfügt über viele Ähnlichkeiten mit früheren Globalisierungsprozessen, etwa der Eroberung der ”Neuen Welt” im 16. und 17. Jahrhundert oder dem klassischen Kolonialismus im 19. Jahrhundert. Ein Blick in die Passagen, in denen Marx und Engels im ”Kommunistischen Manifest” den weltweiten Siegeszug der Bourgeoisie beschreiben, ist durchaus erhellend. Auch der Blutzoll, den die Menschheit für die neue Phase des Kapitalismus zu bezahlen hat, ist mit früheren Perioden vergleichbar (die militärische Zerstörungskraft außer acht gelassen). Allerdings machen es neue Technologien wie elektronische Datenverarbeitung (EDV) und Telekommunikation möglich, die Ausbeutung der Arbeitskraft über Ländergrenzen hinweg in einer für das Kapital erheblich rationelleren Weise zu organisieren. Durch die ”Delokalisation der Produktionsketten” ist es heute möglich, modernste Technologie bei hoher Arbeitsproduktivität und guter Qualität mit geringen Löhnen und Sozialleistungen zu verbinden. Ein wesentlicher Aspekt der kapitalistischen Globalisierung besteht daher in der rasch voranschreitenden Polarisierung zwischen Arm und Reich sowohl zwischen den kapitalistischen Zentren und der Peripherie wie auch innerhalb der entwickelten Kernländer und innerhalb der abhängigen Länder. Diese Polarisierung geht mit einer zunehmenden Gewaltförmigkeit der sozialen Verhältnisse einher. Zwar leben heute mehr Menschen als je zuvor direkt oder indirekt unter der Knute des Kapitals, doch führt dies für die meisten nicht zu einer Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse oder steigenden Wohlstand, sondern zu Überausbeutung und Elend.

Besonders einschneidende Konsequenzen für die Lage der abhängig Beschäftigten und die schwächeren Ökonomien des Planeten hat die Globalisierung der Finanzmärkte. Während 1971, zum Zeitpunkt der Aufgabe der Goldbindung des Dollar und damit des Zusammenbruchs des 1944 errichteten Systems von Bretton Woods, noch etwa 90 Prozent aller Devisentransaktionen mit der Finanzierung des Handels und von Investitionen verbunden waren und etwa 10 Prozent zu spekulativen Zwecken eingesetzt wurden, sind heute über 90 Prozent aller Transaktionen Spekulationsbewegungen. Die Umsätze an den Devisenmärkten belaufen sich heute auf über zwei Billionen Dollar täglich. Die neuen, spekulativen Finanzprodukte wie futures und swaps hatten bereits Mitte der neunziger Jahre einen Umfang von über 20 Billionen Dollar angenommen. Was koordinierte Angriffe der Spekulation gegen die Währungen einzelner Länder anrichten können, war Ende der neunziger Jahre in Südostasien, in Brasilien, Argentinien und Russland zu sehen.

Die Diktatur der Finanzmärkte, die durch die internationalen Finanzinstitutionen wie IWF, Weltbank und Welthandelsorganisation (WTO) verstärkt wird, bewirkt, dass jeder Staat, der Kapital und Investoren anlocken will, seine Wirtschafts-, Steuer-, und Währungspolitik den Forderungen des ”Marktes” anzupassen hat. Die internationalen Finanzinstitutionen zwingen den Regierungen ihre ”Rezepte” von ”Strukturanpassungen” auf, was bedeutet, dass Exportorientierung und Tilgung der Auslandsschulden oberste Priorität bekommen müssen. Dadurch erhalten die betroffenen Länder nicht nur eine sehr einseitige und abhängige Wirtschaftsstruktur, sondern die Reformen führen auch zu massiven Einsparungen bei Sozialausgaben und Bildung und verstärken Armut und Unterentwicklung.

Der alte Glaube des sozialdemokratischen Reformismus seit Bernstein, die zunehmende Anhäufung von Reichtum führe quasi naturgesetzlich zum Abbau sozialer Spannungen, zu immer weniger Diktaturen und immer mehr Demokratie, zu immer weniger Kriegen und weniger gewaltsamen Konflikten, hat sich als eine vielfach blutige Illusion erwiesen. Mehr und mehr zeigt sich, dass der Kapitalismus ein Projekt für eine kleine und radikale Minderheit der Weltbevölkerung ist, welches sich die große Mehrheit immer weniger leisten kann, wenn sie überleben will.

Das Gesicht der Barbarei

Für die Mehrheit der Weltbevölkerung hat sich die Lebenssituation in den vergangenen zwanzig Jahren teilweise dramatisch verschlechtert. Wenn es in den industriell entwickelten Ländern Teiche der Armut gibt, dann muss in einem großen Teil der übrigen Welt von riesigen Seen der Armut gesprochen werden. In Afrika, einigen Regionen Asiens und in Lateinamerika ist das Pro-Kopf-Einkommen der Bevölkerung dramatisch gesunken, und immer größere Teile der Bevölkerung kämpfen ums nackte überleben. In einigen Teilen Afrikas ist der Staatszerfall soweit fortgeschritten, dass ganze Regionen von (häufig mit multinationalen Konzernen kooperierenden) Warlords beherrscht werden, die sich gegenseitig bekriegen. Seit der tiefen Krise in Südostasien ab 1997 hat auch in dieser Region die Hoffnung auf eine Annäherung des Lebensniveaus an das der reichen OECD-Länder einen schweren und dauerhaften Rückschlag erlitten.

Die Folgen der Jagd nach Profit sparen keinen Bereich des Lebens auf dem Planeten mehr aus.

* Nach den Zahlen des UNDP (United Nations Development Programme – entwicklungspolitische Organisation der Vereinten Nationen) leidet annähernd eine Milliarde Menschen an Hunger, davon sind gut zwei Drittel Frauen. Allein die Zahl der Kinder, die jährlich an Hunger und einfach zu behandelnden Infektionserkrank
ungen sterben, wird von den Hilfsorganisationen auf zwischen 15 und 20 Millionen beziffert. über ein Drittel der im Süden geborenen Menschen wird das vierzigste Lebensjahr nicht erreichen.

* AIDS breitet sich mit rasender Geschwindigkeit über Afrika, Asien und Lateinamerika aus und trifft auch schon Teile der Bevölkerung Osteuropas. Armut, die Auflösung traditioneller gesellschaftlicher Beziehungen und die Preis- und Patentpolitik der Pharmakonzerne verwandeln die Krankheit besonders im südlichen Afrika in eine soziale Katastrophe, der auch ein Großteil der arbeitsfähigen Bevölkerung zum Opfer fällt.

* Seit vielen Jahren wissen wir über die Gefahren der globalen Erwärmung und des Treibhauseffektes Bescheid. Sturm- und Flutkatastrophen häufen sich, ihre Ursachen sind bekannt: der ungebremst zunehmende Ausstoß von Kohlendioxid, das vor allem durch die Industrie und den motorisierten Individualverkehr freigesetzt wird. Dennoch wird nichts dagegen getan. Im Gegenteil: Die Ölkonzerne können durchsetzen, dass die US-Regierung das wachsweiche Protokoll von Kyoto kündigt; die Regierungen vieler Industrieländer machen sich zu willfährigen Bütteln der Automobilindustrie und zerschlagen funktionierende öffentliche Verkehrssysteme zugunsten des privaten Pkw.

* Der Ausbruch von Rinderwahn und Schweine- bzw. Geflügelpest hat den Finger auf den Wahnsinn der industriellen Nahrungsmittelproduktion gelegt, der nur noch durch die Genmanipulation von Saaten und Pflanzen übertroffen wird. Die Nahrungsmittelkonzerne behandeln natürliche Ressourcen und Lebewesen ausschließlich als Produktionsfaktoren; Profit läßt sich mit ihnen machen, wenn sie möglichst schnell vernutzt werden. Für den Menschen sind sie aber Teil seiner Natur, und die kennt einen anderen Rhythmus als den von Kapitalzyklen und Abschreibungsobjekten. Die Lebensmittelkonzerne setzen auf gemeingefährliche Weise die Gesundheit der Bevölkerung aufs Spiel. Leben im Kapitalismus ist im Wortsinn lebensgefährlich geworden.

* Und als wäre dies nicht genug, wächst Tag für Tag das Arsenal an Waffen, mit denen sich die Menschheit gleich mehrfach vernichten kann. An die Stelle der Drohung mit dem atomaren Erstschlag ist nach der Auflösung des Warschauer Pakts die ungehemmte Verbreitung von Landminen, Kleinwaffen, Streubomben und Munition aus abgereichertem Uran getreten. Das sind die Waffen der vielen großen und kleinen Gangster, die auf eigene Faust oder im Auftrag von Regierungen und Militärallianzen wie der NATO Krieg führen – wie eh und je für die Sicherung von Rohstoffen und geostrategischen Interessen. Dies trifft insbesondere auf die Regionen am Persischen Golf und am Kaspischen Meer zu.

Anstelle der versprochenen ”Friedensdividende” haben wir nach 1989 mehrere Kriege erlebt, die mit den technologisch entwickeltsten Präzisionswaffen, aber deswegen für die Zivilbevölkerung nicht weniger barbarisch geführt wurden: den Golfkrieg II, den NATO-Krieg gegen Jugoslawien, den Afghanistan- und den Irak-Krieg. Die Bevölkerungen der kriegführenden Staaten haben sie nur akzeptiert, weil ihnen eingeredet wurde, damit würde der Terrorismus bekämpft, Diktaturen beseitigt und Menschenrechte und Demokratie verteidigt. In allen Fällen zeigt sich, dass kein einziges Problem gelöst wurde; jedoch werden angesichts sich zersetzender Staaten immer deutlicher neokoloniale Verhältnisse errichtet, die große Ähnlichkeit mit den früheren Protektoraten haben.

Freiheit für die Konzerne

Die Zerstörung unserer Gesellschaften und Lebensgrundlagen hat Namen und Gesichter; es sind keine Naturkatastrophen, die über uns hereinbrechen, es ist die logische und nachvollziehbare Folge einer Politik der radikalen Durchsetzung der Marktmechanismen, für die die neoliberale Wirtschaftsschule von Friedrich von Hayek seit den 40er Jahren wirbt und die ab Anfang der 80er Jahre in aller Welt einen Siegeszug ohnegleichen angetreten hat.

Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts waren die Wirtschaftsbosse in den Industrie- und Kolonialländern mit einem beispiellosen Aufschwung der Arbeiterbewegung, der Studenten- und Jugendbewegungen und der antikolonialen Befreiungsbewegungen konfrontiert, die die Allmacht des Kapitals in Frage stellten; wenig später kam es zur ersten internationalen Rezession der Nachkriegszeit und steigenden Verwertungsschwierigkeiten des Kapitals; in England analysierte man diese Entwicklung als ”Profitklemme”.

Die neoliberalen Lehren wurden in Chile nach dem Sturz der ”Unidad Popular” am 11. September 1973 – unter Aufsicht der ”Chicago Boys” um Milton Friedman – unter der Diktatur Pinochets erprobt, bevor sie als die neue Verheißung und Alternative zum Keynesianismus der Nachkriegszeit von Thatcher und Reagan übernommen wurden. Nicht in allen Ländern wurde die liberale Doktrin freiwillig eingeführt: die Länder der Dritten Welt adoptierten sie zumeist unter dem Diktat der Schuldenkrise; ebenso geschah es in Osteuropa nach dem Fall der Mauer. In den meisten westeuropäischen Ländern wurde sie mit dem Knüppel der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion und der daraus abgeleiteten Maastricht-Kriterien eingeführt. Hier lernten die Bevölkerungen erst in den 90er Jahren, was es heißt, nach der Pfeife der Interessen großer Konzerne tanzen zu müssen.

Der Siegeszug des Neoliberalismus tarnt sich verschämt hinter dem Begriff ”Globalisierung”, der einen Sachzwang suggerieren soll, wo es handfeste Akteure und Interessen gibt. Percy Barnevik, der ehemalige Vorstandvorsitzende eines der mächtigsten Konzerne der Welt, der Asea-Brown-Boveri-Gruppe, formulierte entwaffnend ehrlich: ”Ich definiere Globalisierung als die Freiheit unserer Firmengruppe zu investieren, wo und wann sie will, zu produzieren, was sie will, zu kaufen und verkaufen, wo sie will, und alle Einschränkungen durch Arbeitsgesetze oder andere gesellschaftliche Regulierungen so gering wie möglich zu halten.”

”Globalisierung” meint in der Tat vor allem die Verschärfung der Konkurrenz und die ungehemmte Durchsetzung von Kapitalinteressen. Der wichtigste Hebel zur Überwindung ihrer ”Profitklemme” lag für die exportorientierte Industrie und die Multinationalen Konzerne im Unterlaufen oder der rücksichtslosen Beseitigung aller Einrichtungen, Regularien, Gesetze und Vorkehrungen, die ihre Investitionsfähigkeit irgendwie beeinträchtigen. Dazu gehörten die Existenz des Ostblocks und einer g
egenüber dem Ausland abgeschirmten Wirtschaft ebenso wie die sozialen Sicherungsnetze, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Westeuropa geknüpft worden waren; dazu gehören der Schutz lokaler Märkte in den Ländern des Südens ebenso wie Umwelt- und Arbeitsschutzgesetze in den Ländern des Nordens; dazu gehören Flächentarifverträge, Mitbestimmungsgesetze und Arbeitszeitregelungen ebenso wie Auflagen über die Reinheit von Lebensmitteln (z. B. das Verbot der Einfuhr von hormonbehandeltem Rindfleisch) und die Verpflichtung zur flächendeckenden und preiswerten Versorgung mit Gesundheit, Bildung und Kultur.

Den Konzernen ist es gelungen, durch massive Verschärfung der Standortkonkurrenz die Regierungen der Staaten gefügig zu machen; die Länder der Welt, die nicht dem mainstream neoliberaler Politik folgen, kann man an einer Hand abzählen. Vor allem haben die Multis es verstanden, die supranationalen Institutionen entscheidend zu beeinflussen, die einen wachsenden Teil der weltweiten Wirtschafts- und Finanzpolitik an den meisten gewählten Regierungen vorbei machen: Zentralbanken, Internationaler Währungsfonds (IWF) und Weltbank, Welthandelsorganisation (WTO), EU-Kommission.

In den 70er Jahren war die neue Form des Produzierens auf Freie Produktionszonen und die ”Maquilas”* beschränkt. Heute ist sie bis ins Herz der hochindustrialisierten Länder vorgedrungen, wo sie immer größere Bereiche und Regionen mit tarifloser Beschäftigung, gewerkschaftsfreien Zonen und individuellen Arbeitsverträgen schafft. Die Arbeitsbedingungen kommen hier oft Verhältnissen von Sklavenarbeit nahe. In den Anfangszeiten wurden solche Beschäftigungsverhältnisse nur Frauen zugemutet – wobei die Unternehmer darauf aufbauen konnten, dass die patriarchalischen Beziehungen im Kapitalismus Frauen eine eigenständige Existenzgrundlage verweigern, weil sie die Reproduktionsarbeit nicht als Arbeit honorieren. Die Entwicklung zeigt aber, dass die Tendenz zur Deregulierung aller Arbeitsverhältnisse sich auch in Westeuropa nicht auf wenige Wirtschaftszweige beschränkt. Die davon betroffenen Bereiche und die Zahl der ungeschützt Beschäftigten hat in den 90er Jahren auch in der Bundesrepublik stetig zugenommen. Frauen stellen über 90 Prozent dieser Arbeitskräfte, aber sie halten den Männern nur deren Zukunft vor Augen: Schon seit einigen Jahren arbeiten auch WanderarbeiterInnen, MigrantInnen, Flüchtlinge, Studierende, SchülerInnen und gering Qualifizierte in ungeschützten Beschäftigungsverhältnissen.

Diese Entwicklung führt geradewegs zurück ins 19. Jahrhundert, in die Zeit des Verlagskapitalismus** und der Armengesetze, als es keine Gewerkschaften und keine soziale Absicherung gab. Sie unterminiert in den Ländern des Nordens den Sozialstaat und die Gewerkschaften, und sie stellt wesentliche Elemente der bürgerlichen Demokratie in Frage: die Gewaltenteilung, das Prinzip der Repräsentation, die Volkssouveränität, das Recht auf Selbstbestimmung.

Sie verbindet die Niederwerfung aller Grenzen für den Kapitalverkehr mit der Errichtung neuer und willkürlicher Grenzen für Personen. Das Schengener Abkommen teilt die Menschen nach Herkunftsländern und nach ihrer Brauchbarkeit für den hiesigen Arbeitsmarkt ein – und stuft dementsprechend ihre Bürgerrechte ab. Das Prinzip der Gleichheit wird damit außer Kraft gesetzt und der rassistischen Ideologie, die die Ungleichheit des Menschen zu ihrem Ausgangspunkt macht, Tür und Tor geöffnet.

Ursprüngliche Akkumulation im Osten

In der ehemaligen Sowjetunion und in Osteuropa ist der Schlachtruf des Neoliberalismus, ”Bereichert Euch”, von den einheimischen Profiteuren des Zusammenbruchs der bürokratisch gelenkten Wirtschaft willig aufgenommen worden. Teile der ehemaligen Nomenklatura haben sich an die Spitze einer mehr oder weniger wilden Privatisierung der Wirtschaft gestellt. Der Prozess der privaten Aneignung gesellschaftlichen Reichtums – ein Raubzug von historisch seltenen Ausmaßen – erfolgt über Strukturen, die als mafiös zu beschreiben den Namensgebern unrecht tut. Aufgeheizt durch nationalistische Abgrenzungen von inneren und äußeren Nachbarn finden hier Neuverteilungskämpfe statt in der Hoffnung, einige Krumen vom Kuchen abzubekommen. Bilderbuchhaft wird diese Tragödie im ehemaligen Jugoslawien und im früheren Süden der Sowjetunion aufgeführt.

Die ”kalte Privatisierung” der Reichtümer Russlands und seine partielle Integration in den Weltmarkt verschärfen die aus der stalinistischen Industrialisierungspolitik ererbten Ungleichgewichte mit dem extremen übergewicht der Schwerindustrie: Das Land wird mehr und mehr zu einem Drittweltland vergleichbaren Exporteur von Energie (Erdöl und Erdgas) und Metallen, wobei die ökologische Bilanz jeder Beschreibung spottet. Schwerindustrielle Kombinate überleben dank eines komplizierten Systems von Tauschbeziehungen mit der Region, während es unter dem Druck der Interessen der ”Paten” und der billigen Konkurrenz aus dem Westen nicht gelingt, die Sektoren der Leicht- und der Konsumgüterindustrie gezielt zu entwickeln.

In den wenigen Ländern, die noch von einer ”kommunistischen” Partei regiert werden wie China und Vietnam, ist es zwar gelungen, den nationalen Zusammenhang beizubehalten. Mit der Einführung liberaler Modelle der Wirtschaftsentwicklung und von ”Sonderzonen” nehmen die sozialen Spannungen durch Massenarmut und Landflucht aber täglich zu. Die Arbeitsverhältnisse sind vergleichbar mit denen in den lateinamerikanischen ”Maquilas”.

In unserer unmittelbaren Nachbarschaft, in den Ländern Osteuropas, hat das Diktat der Strukturanpassungsmaßnahmen des IWF zur Brachlegung ganzer Wirtschaftszweige, zum sprunghaften Anwachsen der Arbeitslosigkeit und zu einer neuen Kolonialisierung geführt: Westliche Konzerne üben eine direkte Kontrolle über Finanzdienstleistungen (Banken), Handelsketten, Verlage und große Betriebe aus; über den IWF und inzwischen mehr noch über die EU, deren Assoziationsverträge und Beitrittsbedingungen, greifen westliche Regierungen direkt in die wirtschaftlichen und sozialen Belange dieser Länder ein, die damit keine Chance auf eine eigenständige wirtschaftliche Entwicklung haben. Mehr und mehr wird Osteuropa zu einer verlängerten Werkbank des Westens ohne eigene industrielle Basis und zu einem Reservoir billiger Arbeitskräfte umgebaut.



* maquilas oder maquiladoras werden in Mexiko und in Mittelamerika die Fabriken genannt, die zuerst in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts im Norden von Mexiko, entlang der Grenze zu den USA aufgekommen sind und in den achtziger und neunziger Jahren auch in mittelamerikanischen Ländern oder Indonesien, China usw. in "freien Produktionszonen" eingerichtet wurden. Im Auftrag von ausländischen Firmen werden z. B. Textilien gefertigt, einheimisch sind nur die Arbeitskräfte (oft junge Frauen), Material, Maschinen und Management werden importiert, produziert wird für die Märkte in den USA, Westeuropa, Japan. Vielfach gelten Ausnahmen von der Arbeits- und Steuergesetzgebung des Landes, werden Gewerkschaften nicht zugelassen und herrschende schikanöse Bedingungen.

** Eine Form des Frühkapitalismus, die für den Übergang vom Handwerk zum Fabrikbetrieb steht und durch gewerbliche Heimarbeit gekennzeichnet ist. Ein Verleger führt den Absatz der in Heimarbeit hergestellten Erzeugnisse durch, häufig stellt er auch Rohstoffe und Maschinen zur Verfügung.

 

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