Patente oder Menschenleben

Glasflächschen mit Corona-Impfstoff in Nahaufnahme Foto: https://www.flickr.com/photos/foto_db/50744963411/, CC BY 2.0

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Impfstofffreigabe

Patente oder Menschenleben

Von Jakob Schäfer | 07.06.2021

Um die Weltbevölkerung möglichst schnell gegen Corona zu impfen, müssen die Impfstoff-Patente freigegeben werden. Doch die Pharmakonzerne weigern sich. Dabei muss sich noch mehr ändern.

Teile der herrschenden Klasse sind einer Aussetzung des Patentrechts bei Impfstoffen nicht abgeneigt. Zumindest einige Regierungen in Ländern, wo die entsprechenden Konzerne keine große Rolle spielen, befürworten dies. Doch dem stehen starke Interessen in Ländern wie der BRD gegenüber.

Bekanntlich ist eine Pandemie nur zu überwinden, wenn sie weltweit unter Kontrolle ist. Schon allein deshalb müssten sogar die herrschenden Klassen in den imperialistischen Ländern ein Interesse an einer schleunigen Impfung größter Teile der Weltbevölkerung interessiert sein, damit möglichst bald eine umfassende Herdenimmunität erreicht wird. Schließlich haben nur dann weitere Mutationen des Virus geringere Chancen der Entstehung und Verbreitung.

Das Interesse am kurzfristigen Maximalprofit wiegt aber schwerer als der Schutz von Menschenleben, erst recht jener im Globalen Süden, wo heute schon feststellbar ist, dass aufgrund der Auswirkungen von Covid-19 die dortigen Gesundheitssysteme völlig überfordert sind und Krankheiten wie Malaria, Aids und Tuberkulose noch häufiger als eh schon unbehandelt bleiben müssen. Und nicht von ungefähr warnt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) heute schon vor einer globalen „Hungerpandemie“.

„Im Oktober reichten Indien und Südafrika einen Antrag für eine befristete Ausnahmeregelung vom sogenannten Trips-Abkommen (Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights) bei der Welthandelsorganisation WTO ein, um unter anderem eine Freigabe der Patente der Corona-Impfstoffe zu erreichen. Sie wurden von Dutzenden Ländern unterstützt, zudem von Hunderten Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen, Human Rights Watch oder Amnesty International. Auch die UN-Menschenrechtskommission, die Unesco und die Weltgesundheitsorganisation WHO stehen hinter dem Vorhaben.“ (Deutschlandradio 9.5.2021.) Der vorgeschlagene Verzicht würde ausschließlich auf die genannten Abschnitte und für die Dauer der Pandemie gelten.

Was ist der Hintergrund? Einige wenige Hersteller kontrollieren die weltweite Produktion und den Verkaufspreis von Covid-19-Medikamenten, -Impfstoffen, -Diagnostika und anderen Technologien, einschließlich Masken und Beatmungsgeräten. Vor allem Länder des Globalen Südens haben nicht genug Mittel, um die festgelegten Preise bezahlen zu können.

Gäbe es mehr Hersteller, wäre es möglich, innerhalb von etwa einem halben Jahr bedeutend mehr Impfstoffe zu produzieren. Hätte es von Anfang an keinen Patenschutz gegeben, könnte heute in einer ganzen Reihe weiterer Länder produziert werden. Patente berühren die Frage des Preises und vor allem der Verfügbarkeit.

Was ohne Patentschutz möglich ist, lässt sich gut an der HIV-Epidemie vor 20 Jahren sehen: “Der Preis für die Medikamente zur HIV-Behandlung betrug damals über 10 000 US-Dollar für eine Person pro Jahr. Für viele Menschen war das schlicht zu teuer und das kostete Menschenleben, obwohl es die Medikamente gab. Bis sich Patientenaktivist:innen, die Zivilgesellschaft und Gesundheitsrechtsgruppen in Südafrika und anderen Ländern dafür einsetzten, HIV-Medikamente für alle Menschen zugänglich zu machen, die sie zum Überleben brauchten. Und es funktionierte: Die Überwindung von Patentmonopolen auf HIV-Medikamente machte die Produktion von Generika möglich. In der Folge fielen die Preise für HIV-Medikamente im Laufe des nächsten Jahrzehnts um 99 %. Somit wurden die HIV-Medikamente für Patient:innen weltweit erschwinglich.“[1]

Eine vorrübergehende Aufhebung des Patenschutzes für die Impfstoffe würde allerdings nicht ausreichen und könnte längst nicht die grundsätzlichen Probleme lösen.

Mörderisches, profitträchtiges Patentrecht

Ein Bericht von „Ärzte ohne Grenzen“ stellt fest, dass Patente eine ernsthafte Bedrohung für den Zugang zu erschwinglichen Versionen neuerer Impfstoffe wie Pneumokokken-Konjugatimpfstoffe (PCV) und Impfstoffe gegen humane Papillomaviren (HPV) sind. (https://msfaccess.org/fair-shot-vaccine-affordability).

Mit Patenten werden profitträchtige Monopole geschaffen bzw. über Jahre gesichert, vor allem gegenüber ärmeren Ländern, die bestenfalls die Kapazität zur Produktion patentfreier Generika haben. Neben der Propaganda des „freien Unternehmertums“ wird als Rechtfertigung für dieses menschenverachtende System das marktwirtschaftliche Argument angeführt: Investitionen in neue medizinische Produkte (vor allem Pharmaka) würden sich sonst nicht lohnen, es käme also zu einem Stillstand bei der Entwicklung neuer Präparate. Doch genau hier liegt die Crux: In einer privatwirtschaftlichen Forschung, Produktion und Verbreitung der Arzneien ist dieser mörderische Mechanismus vorprogrammiert.

Kapitalistischer Profit ist wichtiger, als Leben zu retten. Wenn nämlich bei einer so relevanten Frage (einer weltweiten Patentaufhebung) eingelenkt wird – so die Befürchtung nicht nur der Pharmakonzerne ‒ dann weckt dies „Begehrlichkeiten“ auch gegenüber anderen Patenten. Und da die Bundesregierung – als politischer Sachwalter der Gesamtinteressen des in Deutschland fungierenden Kapitals – nicht nur die Firma Biontech im Blick hat, sondern auch die anderen Pharmakonzerne oder auch die Patentinhaber ganz anderer Produkte, tritt sie auf die Bremse.

Gäbe es keinen Patentschutz und keine marktwirtschaftliche Produktion von Medizinprodukten, käme es leichter zur einer effektiven länderübergreifenden Ressourcennutzung und Zusammenarbeit in den Bereichen Forschung und Entwicklung.

Was ist Antrieb für Engagement?

Dem gesamten Begründungszusammenhang der kapitalistischen Argumentation liegt ein verlogenes Menschenbild zugrunde, wonach der Mensch sich nur dann über ein bequemes Mittelmaß hinaus engagiert, wenn großer Profit winkt. Wird eine wissenschaftliche/technische/wirtschaftliche Tätigkeit uneigennützig verrichtet, dann kommt mehr oder weniger nichts dabei heraus bzw. dauert Jahre usw. So oder ähnlich wird es teils offen formuliert, auf jeden Fall aber schwingt es ‒ quasi als unerschütterliches und nicht zu hinterfragendes Naturgesetz ‒ immer mit.

Dies ist anthropologischer Unsinn, denn das Gegenteil ist wahr: Wenn Menschen – bei gesicherter materieller Lebensgrundlage – gemeinsam betriebs- und länderübergreifend zusammenarbeiten und ihre Ergebnisse teilen, dann entstehen ganz andere Freuden, nämlich die, an gemeinsamen Projekten mitzuarbeiten, gemeinsam die Ergebnisse zu verbessern, sich vom solidarischen Austausch inspirieren zu lassen usw.

Was ist heute die Realität? Von nutzlosem Parallelarbeiten und Verschwendung von Arbeitskraft und sonstigen Ressourcen noch ganz abgesehen: Längst nicht alle Forscher:innen haben Erfolg und noch weniger haben wirtschaftlichen Erfolg. Viele leiden unter Stress, nicht wenige unter Burnout. Verlogen ist die Argumentation für den Patentschutz auch aus einem weiteren Grund: Biontech und CureVac haben bedeutende Unterstützungszahlungen eingestrichen – getreu dem Modell: Der Steuerzahler kommt für die Verluste auf, der Konzern hamstert die Profite ein. Vor allem die Grundlagenforschung wird zum größten Teil, in manchen Bereichen sogar ausschließlich, mit Öffentlichen Mitteln finanziert.

Staatliche Zuschüsse zur Patentgewinnung

Nach unterschiedlichen Schätzungen macht staatliche Finanzierung in einigen Ländern zwei Drittel der Kosten für die Entwicklung von Arzneimitteln aus. Auch bei den aktuell zur Debatte stehenden Patenten war es grundsätzlich nicht anders. Insgesamt wurden sehr beträchtliche öffentliche Gelder für die Covid-19-Forschung zur Verfügung gestellt. So hat allein Biontech 375 Mio. € Steuergelder bekommen, bei CureVac waren es 300 Mio. Euro. Der Gewinn von Biontech im ersten Quartal 2021 beträgt 1,13 Mrd. Euro, der übrigens auch und gerade deshalb zustande kommt, weil die Preise des Corona-Impfstoffs je nach Abnehmerland zwar unterschiedlich, insgesamt aber viel zu hoch sind. „Biontech und der amerikanische Konzern Pfizer haben von der EU-Kommission im Juni 2020 extrem hohe Preise von 54,08 Euro pro Impfdosis verlangt. Und das trotz Unterstützung durch Steuergeld. Was haben die Multi-Milliardäre Andreas und Thomas Strüngmann damit zu tun?“[2]

Ärzte ohne Grenzen führt folgendes Beispiel an: „Der Pharmakonzern Gilead beispielsweise hat das Medikament Remdesivir, ursprünglich zur Behandlung von Ebola entwickelt ‒ mithilfe von über 70 Millionen US-Dollar öffentlicher Gelder. Das Medikament wird jetzt stellenweise zur Behandlung von Covid-19 eingesetzt. Das Unternehmen hat daraufhin mit einigen wenigen Generikaherstellern seiner Wahl geheime, bilaterale Abkommen unterzeichnet. Diese Abkommen schließen jedoch ganz klar den Zugang zu dem Medikament für fast die Hälfte der Weltbevölkerung aus.“[3]

Verlogen ist in diesem Zusammenhang die Argumentation von Biontech, wonach die Lizenzfreigabe keine zusätzlichen Kapazitäten schaffe. Der Herstellungsprozess des Impfstoffs sei so kompliziert, dass dafür andere Firmen nicht infrage kämen. Dem widersprechen ganz klar Pharmaproduzenten in mehreren Schwellenländern und sogar in einem so armen Land wie Bangladesch, wo beispielsweise Incepta „zweieinhalb Produktionslinien“ für die Umstellung auf den entsprechenden Impfstoff bereitstehen hat (so ihr Chef Abdul Muktadir gegenüber dem Manager Magazin). „Die internationale Wissensorganisation KEI kam Ende Februar nach der Analyse von mehr als 70 Outsourcing- und Technologietransfergeschäften in der Sache zu dem Ergebnis, ‘dass die Hersteller von Covid-19 Impfstoffen in der Regel in weniger als sechs Monaten nach dem Technologietransfer mit der Auslieferung beginnen können’.“ (Wiesbadener Kurier 8.5.2021).

Das Gegenbeispiel ist Kuba, das sein medizinisches und pharmazeutisches Knowhow ohne Lizenzgebühren der Weltgemeinschaft zur Verfügung stellt.

Auch unterhalb des Patentschutzes gibt es viel zu tun: Es fängt schon damit an, dass die Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) mindestens schon mal so angepasst werden muss, sodass nicht mehr (wie noch vor 20 Jahren, als die Technik noch nicht so weit entwickelt war) mindestens 129 € für einen PCR-Test abzurechnen sind, sondern diese Tests von den hier tätigen Laboren auch für 30 Euro oder weniger angeboten werden dürfen.[4]

In der Pandemie geht es vor allem um Patente, aber es geht auch um den realen Technologietransfer und um die Bereitstellung von Ressourcen. Denn mit der Freigabe von Patenten allein ist noch keine ausreichende Gesundheitsversorgung herzustellen.

Was ist demzufolge zu fordern und wofür müssen wir kämpfen?

  • Aufhebung aller Patente und zwar nicht nur vorübergehend;
  • Bildung von Wissenschaftspools und uneingeschränktes Teilen der Ergebnisse;
  • Transfer von Technologie (Schutzausrüstungen, Beatmungsgeräte usw. sowie das entsprechende Knowhow) und Ausbildungskapazitäten vor allem in Länder des Globalen Südens;
  • Aufhebung bzw. Austritt aus dem TRIPS-Abkommen und der Welthandelsorganisation (WTO), auf deren Grundlage das TRIPS-Abkommen abgeschlossen wurde.

Bei uns braucht es für ein bedarfsgerechtes Gesundheitswesen als erstes mehr Gesundheitsschutz in den Betrieben, aber auch die Abschaffung der Fallpauschalen (DRG) und das Verhindern weiterer Krankenhausschließungen. Eine konsequente Umsetzung einer am Menschen ausgerichteten Gesundheitspolitik wird nicht an der Vergesellschaftung der Pharmakonzerne sowie der Medizintechnik und der Krankenhäuser vorbeikommen. All dies muss unter die Kontrolle der dort Beschäftigten und der Öffentlichkeit (in dem Fall der Patient:innen) gestellt werden.

Zweifellos ist dies ein weiter Weg. Hilfreich wird es sein, wenn es z. B. gelingt, die inzwischen zahlreichen Initiativen im Gesundheitssektor zu einer wirklichen Druck erzeugenden Kraft zusammenzuführen. Dann könnte z. B. der für die Zeit vor der Bundestagswahl angedachte Streik in einigen Krankenhäusern auch wirklich umgesetzt und möglichst bald ausgeweitet werden. Daran sollten wir arbeiten.

19.5.2021


[1] https://www.aerzte-ohne-grenzen.de/faq/1927

[2] https://perspektive-online.net/2021/05/mit-steuergeld-im-ruecken-biontech-macht-113-milliarden-e-gewinn/

[3] https://www.aerzte-ohne-grenzen.de/faq/1927

[4] Mehr Details dazu unter: Sendung von Plusminus vom 12. 5. 2021 unter www.ardmediathek.de/video/plusminus

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