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Länder

Die Flucht der Supermacht

Von Harry Tuttle | 01.05.2005

Vor 30 Jahren zogen die letzten US-Soldaten aus Vietnam ab. Was waren die Ursachen der Niederlage, und was bedeutet sie für die heutige Antikriegsbewegung?

 
Dem Letzten blieb kaum noch Zeit, das Licht auszumachen. Die Truppen der Nationalen Befreiungsfront (NLF) hatten Saigon bereits erreicht. Eile war geboten, als am 30. April 1975 die letzten Soldaten und Diplomaten mit Hubschraubern vom Dach der US-Botschaft in Saigon evakuiert wurden.
Die überstürzte Flucht der letzten Repräsentanten einer Supermacht wurde zu einem für Jahrzehnte wirksamen Symbol. Auf dem Höhepunkt der US-Intervention waren 1969 mehr als 500.000 amerikanische Soldaten in Vietnam stationiert, die mit Ausnahme der Atombombe (deren Einsatz mehrfach erwogen wurde) das gesamte damals zur Verfügung stehende Kriegsarsenal einsetzten, unter anderem Napalm, die „Bombenteppiche“ der B-52-Flotten und das hoch giftige Agent Orange zur Entlaubung der Wälder. Mehr als zwei Millionen VietnamesInnen, überwiegend ZivilistInnen, starben in diesem Krieg.
Wie war der Sieg der NLF dennoch möglich? Vier Faktoren waren entscheidend: der steigende militärische Druck der NLF, die wachsende Isolierung der USA in der Weltpolitik, die Antikriegsbewegung und der Widerstand in der US-Armee selbst. Es gelang dem US-Militär nie, die Guerillabewegung entscheidend zu schwächen. In der Konkurrenz mit der Sowjetunion um die Hegemonie über die „Dritte Welt“ war die Bombardierung vietnamesischer ZivilistInnen eine schlechte Werbung für die „freie Welt“. Die US-Regierung wurde in der UNO heftig attackiert, und es gab eine globale Antikriegsbewegung, die den Abzug der US-Truppen forderte.
Die Ansicht der Weltöffentlichkeit hätte man ignorieren können, und als Reaktion auf die Erfolge der NLF war auch eine weitere militärische Eskalation denkbar. Es war wohl vor allem die Lage an der „Heimatfront“, die die US-Regierung 1970 zu der Entscheidung bewog, den größten Teil der Bodentruppen abzuziehen, obwohl klar war, dass das korrupte südvietnamesische Regime allein durch den Bombenkrieg nicht zu retten war.

Unruhe an der Heimatfront

1970 fand die bis dahin größte Antikriegsdemonstration mit 750.000 TeilnehmerInnen in Washington und 300.000 in San Francisco statt. Nachdem die Nationalgarde an der Kent State University auf eine friedliche Demonstration gefeuert und vier Menschen getötet hatte, wurde an 350 Universitäten gegen Krieg und Polizeiterror gestreikt. In den überwiegend von Schwarzen und anderen diskriminierten Bevölkerungsgruppen bewohnten Armenvierteln war es im Vergleich zum Vorjahr, in dem es in 65 Städten zu zum Teil bewaffneten Aufständen gekommen war, relativ ruhig. Doch die Black Panthers und andere radikale Gruppen verteidigten ihre Rechte mit der Waffe in der Hand gegen die Polizei.
Bereits 1969 hatte der Kompanieführer der 196. Infanteriebrigade seinen Vorgesetzten melden müssen: „Sir, meine Leute weigern sich zu gehen, wir können nicht vorrücken.“ Die GIs waren mitten auf dem Schlachtfeld in einen Sitzstreik getreten. Das Pentagon gab an, dass 1970 jeder dritte GI eine Disziplinarstrafe erhielt, 202 US-Offiziere seien von ihren eigenen Soldaten getötet worden – eine Zahl, die GI-Organisatioen für weit untertrieben hielten.
Die Regierung hatte die Loyalität wichtiger Bevölkerungsgruppen verloren. Seit Mitte der sechziger Jahre waren die oppositionellen Bewegungen nicht nur gewachsen, sie hatten sich auch radikalisiert. Die Mehrheit der weißen ArbeiterInnen beteiligte sich zwar nicht an der Revolte, aber auch die proletarische Jugend begann sich zu radikalisieren, und 1970 fand in New York die erste ausschließlich von Gewerkschaften organisierte Antikriegsdemonstration statt. In dieser Situation drängten die Gemäßigten im „Establishment“, wie die von republikanischer und demokratischer Partei gemeinsam gebildete Oligarchie damals genannt wurde, auf eine Rückzug aus Vietnam.
Die Antikriegsbewegung hatte zunächst den offensichtlichen Widerspruch zwischen den amerikanische Idealen und der Realität des Krieges diskutiert, sich jedoch schnell radikalisiert und begonnen, auch über die Ursachen des Krieges und den Kapitalismus zu debattieren. Eine vergleichbare Radikalisierung gab es bei den Bewegungen der Schwarzen und anderer ethnischer Minderheiten. Die Bürgerrechtsbewegung der frühen sechziger Jahre war überwiegend pazifistisch und an einer besseren Integration der Schwarzen interessiert. Die offiziellen Apartheid-Gesetze wurden abgeschafft, die ökonomische und politische Diskriminierung, Rassismus und Polizeigewalt blieben. „Hier wollen sie euch gewaltfrei haben, aber in Vietnam sollt ihr sehr gewalttätig sein“, stellte der radikale Aktivist Malcolm X fest.

Der Krieg im Krieg

Zudem war der Krieg, der überwiegend von Wehrpflichtigen geführt wurde, für alle männlichen Jugendlichen eine existentielle Frage. Sich durch Verweigerung oder Flucht zu entziehen, bedeutete gesellschaftliche Marginalisierung. „Ich kann keinen Arbeitsplatz finden, wenn ich das hinter mir habe“, erklärte der GI-Aktivist Howard Levy. „Ich kann nach Vietnam gehen und im wesentlichen für die Nationale Befreiungsfront kämpfen, ohne dafür ins Gefängnis zu müssen.“
Die überwiegend spontane, selbstorganisierte Bewegung schuf sich, in den USA mit Unterstützung der Antikriegsbewegung, eine Infrastruktur mit eigenen Cafés und Zeitungen, die etwa jeden zweiten Soldaten erreichten. Sabotage war häufig, manchmal kam es zu Aufständen. Auch die Zahl der Kriegsverbrechen dürfte durch oppositionelle GIs gemindert worden sein. Auf der Webseite „Soldiers for the Truth“ berichtet ein Veteran über seine Reaktion, als er einen Offizier bei der Misshandlung eines vietnamesischen Gefangenen beobachtete: „Wenn ich das noch einmal sehe, werde ich dich erschießen.“ Jeder Offizier wusste, dass so eine Drohung ernst zu nehmen war. Viele wagten es nicht mehr, ihren Soldaten einen Angriff zu befehlen oder sie auch nur au
f Patrouille zu schicken. Dass fast alle westlichen Staaten heute eine Berufsarmee haben bzw. einführen wollen, ist vor allem eine Folge des Vietnamkrieges.
Seit die Zahl der im Irak getöteten SoldatInnen 1000 überstiegen hat, ist auch in bürgerlichen US-Medien häufig von einem „neuen Vietnam“ die Rede. Aus der Armee von Wehrpflichtigen ist eine Armee von ArbeiterInnen und Arbeitslosen geworden, rekrutiert werden überwiegend Menschen, denen die Armee als einzige Chance auf einen Arbeitsplatz und sozialen Aufstieg erscheint. Unter den SoldatInnen breitet sich Unruhe aus. Auf einer Vielzahl von Webseiten diskutieren kritische GIs über ihre Dienstbedingungen und den Krieg. Offen oppositionelle Haltungen sind noch selten, es gibt jedoch Ansätze zu „gewerkschaftlichen“ Forderungen an eine Regierung, die sich in patriotischem Pathos überschlägt, aber an Bildungs- und Sozialleistungen spart und verwundet zurückkehrenden SoldatInnen als erstes den Sold kürzt. Offenbar sehen viele SoldatInnen sich als Lohnabhängige in Uniform, die wie jeder in der Industrie Beschäftigte erwarten, dass ihr Chef anständig zahlt und alles für ihre Sicherheit tut.
Erschwert wird die oppositionelle Organisierung allerdings durch die überwiegend rechtsextreme Orientierung der bewaffneten Widerstandsgruppen im Irak. Es gab auch Kriegsverbrechen seitens der NLF, doch die offizielle, wohl von den meisten KämpferInnen geteilte Position betrachtete den einzelnen GI nicht als Feind. „Im Mai 1969 retteten die VCs Bruder Pitts das Leben“, berichtet ein schwarzer Marine. „Irgend jemand warnte ihn mit einem Geräusch – psst oder so ähnlich -, in Deckung zu gehen. Er warf sich hin, und schon flog die ganze Gegend in die Luft.“ Islamistische und ba’athistische Gruppen im Irak dagegen veröffentlichen Videos von der Ermordung ihrer Geiseln, auch die Anschläge auf ZivilistInnen bestärken viele GIs in der Ansicht, letztlich doch auf der richtigen Seite zu stehen.

Zweierlei Widerstand

Die Bewegung gegen den Vietnamkrieg solidarisierte sich zum Teil mit dem vietnamesischen Befreiungskampf, liberale Gruppen vertraten die Ansicht, die VietnamesInnen sollten über die Zukunft ihres Landes selbst entscheiden. Die NLF war stalinistisch geführt, vertrat jedoch ein Programm der Befreiung von einer vorbürgerlichen Diktatur, sie forderte unter anderem Landreform, Alphabetisierung und die Gleichberechtigung der Frauen. Die bewaffneten Ba’athisten und Islamisten dagegen wollen im Irak eine vorbürgerliche Diktatur durchsetzen.
Entscheidend ist nicht die Form, sondern das Ziel des Widerstands. Vietnam hat bewiesen, dass die GIs und Bevölkerung auch Verständnis und Sympathie für einen bewaffneten Widerstand entwickeln können, dem es um Probleme geht, mit denen sie, wenn auch unter günstigeren Bedingungen, selbst zu kämpfen haben: einen angemessenen Lebensunterhalt, Bildungsmöglichkeiten und Gesundheitsversorgung zu sichern. Die Arbeiterkommunistische Partei des Irak, die eine zentrale Rolle im sozialen Widerstand spielt, ist nicht pazifistisch, lehnt den bewaffneten Kampf zum derzeitigen Zeitpunkt jedoch ab.
Anders als während des Vietnamkrieges ist die Antikriegsbewegung heute nicht Teil einer allgemeinen Radikalisierung, und sie hat eine solche Radikalisierung auch bislang nicht ausgelöst. „Vietnam“ gilt meist nur als allgemeines Symbol für die bleibende Brutalität der US-Kriegsmaschine, doch die Analyse kann wichtige Hinweise für die Strategiebildung liefern. Auch wenn derzeit die Revolution in weiter Ferne scheint, ist es sinnvoll, sich rechtzeitig Gedanken über Wehrkraftzersetzung zu machen. Mit der Umstellung auf Berufsarmeen haben sich die Bedingungen für die revolutionäre Linke verschlechtert, doch die Unruhe in der US-Armee belegt, dass auch BerufssoldatInnen keine hoffnungslosen Fälle sein müssen.
Nur die wenigsten Kriege werden auf dem Schlachtfeld entschieden. Auch unterhalb der Schwelle des politischen Generalstreiks ist es möglich, einen kriegführenden Staat zum Rückzug zu zwingen. Es bedürfte allerdings einer Radikalisierung in anderen gesellschaftlichen Bereichen, um die nötige Unruhe zu erzeugen. In den sechziger Jahren erfolgte dies durch den Kampf gegen die christliche Zwangsmoral und den Obrigkeitsstaat. Heute könnte es der Kampf gegen die immer stärkeres Zumutungen des kapitalistischen Verwertungszwangs sein, der ArbeiterInnen mit oder ohne Uniform über die nationalen Grenzen hinaus zusammenführt.

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