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Innenpolitik

Die Bewegung muss nach links offen bleiben

Von Andrej Hunko/B.B. | 01.07.2006

Interview mit Andrej Hunko, Moderator der Demonstration der sozialen Bewegung „Schluss mit den ‚Reformen‘ gegen uns!” am 3.6. in Berlin.

Interview mit Andrej Hunko, Moderator der Demonstration der sozialen Bewegung „Schluss mit den ‚Reformen‘ gegen uns!” am 3.6. in Berlin. Das Interview führte B.B.

Avanti: Schätzt du die Demonstration vom 3.6. als Erfolg ein?
Andrej Hunko: Wenn man bedenkt, dass es seit dem Abflauen der Montagsdemonstrationen Ende 2004 das erste mal war, dass sich die sozialen Bewegungen wieder bundesweit sichtbar zu Wort meldeten – auf jeden Fall. Um das endgültig beurteilen zu können, wird man sehen müssen, wie sich die Nachfolgeaktionen entwickeln, etwa die bundesweiten Aktionstage am 26./27. Juni und die geplanten Mobilisierungen im Herbst. Schließlich verstand sich der 3.Juni auch als Auftakt weiterer Proteste gegen die Politik der großen Koalition.
Positiv fand ich insbesondere den Charakter der Demo, zusammengesetzt aus „Ossis, Wessis und Kanackis“, wie sich ein Aachener Genosse in der Nachbesprechung äußerte.

Es waren aber erheblich weniger Menschen auf der Straße als am 1.11.2003. Wie ist das zu erklären?
Das hat mehrere Gründe: Am 1.11. war der Kreis derjenigen Gruppen, die der Demonstration höchste Priorität einräumten, größer als jetzt. Das liegt auch daran, dass viele der AkteurInnen des 1.11.2003 heute stark in den Parteibildungsprozess aus Linkspartei und WASG eingebunden sind und nur wenig zusätzliche Kapazitäten frei hatten. Zudem wirkten auch die Spaltungen und Zerwürfnisse am Ende der Montagsdemos 2004 noch nach.
Sicher spielte auch der letztlich doch unglückliche Pfingsttermin, der Dauerregen und die Brutalität der Berliner Polizei eine Rolle dabei, dass sich nicht spontan viele Berlinerinnen und Berliner anschlossen, wie das beim 1.11.2003 der Fall war. Damals hatten wir mit 10.000 gerechnet, am Ende waren es 100.000.
Man muss aber auch jenseits aller Schwächen oder Fehler mit Blick auf regionale Sozialproteste konstatieren, dass die Bereitschaft zu Massenprotesten zur Zeit noch begrenzt ist. Zwar gibt es deutliche Anzeichen von Unzufriedenheit mit den Zumutungen der großen Koalition, sie schlagen aber noch nicht in kollektive Gegenwehr um.

Auch die Gewerkschaften haben nicht mobilisiert?!?
Die Gewerkschaftsspitzen haben weder zum 1.11.2003 noch zum 3.6. 2006 mobilisiert. Das hängt in erster Linie mit ihrer Verfilzung mit der SPD zusammen, die ja damals wie heute an der Regierung ist und versucht, die Gewerkschaften ruhig zu halten. Um mit dieser Situation umzugehen und realen Druck auszuüben, muss die soziale Bewegung konkrete Aktionsangebote an die Gewerkschaften auf allen Ebenen mit eigenständiger Mobilisierungsfähigkeit verbinden. Dies ist ansatzweise gelungen, muss in Zukunft aber noch verbessert werden.

Wie erklärst du dir den Einsatz der Berliner Polizei, für die ja die SPD-Linkspartei.PDS-Regierung politisch verantwortlich ist, gegen die Demonstration?
Die Berliner Polizei ist ja schon als Schlägertruppe berüchtigt, bislang war sie aber bei Sozialprotesten eher zurückhaltend. Offensichtlich fürchtet man gegenwärtig jedoch größere soziale Konfrontationen in der Zukunft und versucht die soziale Bewegung einzuschüchtern und zu kriminalisieren. Dass das nicht gelungen ist, gehört auch zu den Erfolgen des 3. Juni.
Die identifizierbaren Schläger müssen zur Rechenschaft gezogen werden, und der verantwortliche Innensenator Körting (SPD) müsste eigentlich zurück treten. M.E sollte die Linksfraktion im Berliner Senat dies auch zur Koalitionsfrage erheben. Schließlich hat ihre eigene Partei ja auch zu dieser Demo aufgerufen. Ich frage mich da allmählich schon, was die mitregierende Linkspartei in Berlin noch alles tolerieren will.

Hat sich mit dem 3.6. ein linker Flügel der sozialen Bewegung gebildet?
Man kann das so sehen, schließlich sind die Forderungen des Aufrufs recht weitgehend und es bedarf schon größerer gesellschaftlicher Umwälzungen, um sie zu verwirklichen. Ich glaube nicht, dass alle Teile der sozialen Bewegungen bereit sind, so weit zu gehen. Man kann also schon von einem linken Flügel sprechen.
Mir persönlich ist jedoch wichtig, dass die komplette Breite der sozialen Bewegung bis hin zu den Sozialverbänden und den Gewerkschaften in den Widerstandsprozess eingebunden wird. Wir werden respektieren müssen, dass Teile weniger weitgehende Forderungen stellen. Wichtig ist, dass es zu gemeinsamen Aktionen kommt und dass es keine Maulkörbe gibt. Die Bewegung muss nach links offen bleiben, wenn sie eine Zukunft haben will.

Mindestlohn und Arbeitszeitverkürzung sind wichtige Themen, aber die soziale Bewegung kann sich darauf nicht beschränken. Was meinst du, welche Inhalte wir diskutieren müssen?
Zu diesen beiden Forderungen gehört für mich untrennbar als dritte das Recht auf gesellschaftliche Teilhabe derjenigen, die aus dem kapitalistischen Verwertungsprozess ausgestoßen werden, dazu. Ich will mich hier nicht um Modelle oder Begriffe wie Grundeinkommen, Grundsicherung oder Existenzgeld streiten, auch wenn die Diskussion darum wichtig ist.

Es gibt gerade in der traditionellen marxistischen Tradition eine Unterbelichtung dieses Aspekts: Massenarbeitslosigkeit ist ein strukturelles Merkmal kapitalistischer Gesellschaft, die sozialistische Arbeiterrevolution schafft die Voraussetzungen zu erneuter Vollbeschäftigung. Die Erwerbslosen spielen in diesem Konzept bestenfalls eine Nebenrolle.

Es stellt sich schon die Frage, wie eine Gesellschaft damit umgehen soll, dass die Produktivität mittlerweile so entwickelt ist, dass vermutlich ein großer Teil der Menschen nicht mehr im klassischen Sinne erwerbstätig sein wird. Gegenwärtig steuern wir an diesem Punkt auf eine neue Form der Barbarei zu. Hier muss schon heute versucht werden, das Ruder herum zu werfen und das Recht auf gesellschaftliche Teilhabe proklamiert werden, nicht nur der „Kampf um jeden Arbeitsplatz“. Die Gewerkschaften haben an diesem Punkt in der Vergangenheit völlig versagt.
Ob das die Grenzen unseres Wirtschaftssystems sprengt, weiß ich nicht. Wichtig ist, das zu diskutieren und einzufordern, was notwendig ist, und im gemeinsamen Kampf die Erfahrungen auszuwerten. Alternativen jenseits des Kapitalismus sollten dabei natürlich auch diskutiert werden.

Was sollte deiner Meinung nach die Mobilisierungsperspektive der sozialen Bewegung sein?
Ich würde mir wünschen, dass es im Herbst zu Widerstandsverhältnissen wie in Frankreich kommt. Das hängt aber nicht nur von uns ab. Große gesellschaftliche Bewegungen lassen sich nicht planen, sie brechen sich meist Bahn, wenn keiner damit rechnet, so etwa die Montagsdemos. Wichtig ist, dass wir die Voraussetzungen dafür schaffen, dass sie erfolgreich sein können. Dazu gehört die Bildung von Netzwerken, die soziale Verankerung, die Entwicklung elementarer Strukturen von Kommunikation und Solidarität, ein offener Austausch untereinander etc. Dafür kann man auch die Zeit niedriger Kampfbereitschaft nutzen.

Vielen Dank.
 

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