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Betrieb & Gewerkschaft

DGB und Tarifautonomie: Sommer-Pause dauert an

Von Heinrich Neuhaus | 01.12.2003

Mächtig ins Schwitzen gerieten Teile des Gewerkschaftsapparats Ende Oktober. Kein Wunder, denn der viel beschworene “heiße Herbst” fand im Saale statt. 500 Betriebs- und Personalratsmitglieder aus allen Teilen der Republik waren kurzfristig für den 30. Oktober ins Berliner Kongresszentrum am Alexanderplatz geladen worden.

Mächtig ins Schwitzen gerieten Teile des Gewerkschaftsapparats Ende Oktober. Kein Wunder, denn der viel beschworene “heiße Herbst” fand im Saale statt. 500 Betriebs- und Personalratsmitglieder aus allen Teilen der Republik waren kurzfristig für den 30. Oktober ins Berliner Kongresszentrum am Alexanderplatz geladen worden.

Sie durften die Kulisse einer Konferenz darstellen, deren Motto lautete: "Es läuft nur mit Tarifvertrag". Nach einleitenden Worten des Betriebsratsvorsitzenden der Frankfurter Rundschau zur Bedeutung der Tarifautonomie prägten im Wesentlichen zwei "Talkrunden" den weiteren Verlauf.
Flexibilität
In der ersten Diskussionsrunde durften neben dem DGB-Vorsitzenden Sommer handverlesene Betriebs- und PersonalrätInnen aus verschiedenen Bereichen den Vertreter des Metallarbeitgeberverbandes, Kannegießer, von der bereits erreichten Flexibilität der Tarifverträge überzeugen. Die Personalvertretung der Deutschen Post rühmte sich etwa, den Personalabbau in den letzten Jahren von 380.000 auf 225.000 Stellen geräuschlos und "sozialverträglich" mitgestaltet zu haben. Ein Betriebsrat aus dem Bereich der IG BCE durfte stolz berichten, dass unter Mitwirkung seiner Gewerkschaft der Entgeltkorridor bis zu 10 % nach unten und der Arbeitszeitkorridor bis zu 2,5 Wochenstunden zusätzlicher Arbeit ohne Lohnausgleich nach oben geöffnet worden sei.

Bei derart ausgeprägtem Verständnis für die Bedürfnisse des Kapitals war mit größeren Konflikten im Dialog mit "Sozialpartner" Kannegießer nicht mehr zu rechnen. Kannegießer konnte deshalb auch entspannt die Litanei des Unternehmerlagers herunterbeten. Ausgehend von den "Zwängen der Globalisierung", die die deutsche Wirtschaft "aufzusaugen" drohe, entwickelte er seine Argumente für eine konsequente und schnelle "Reformpolitik". Das deutsche Tarifvertragssystem müsse "mehr betriebliche Flexibilität" und "betriebliche Bündnisse für Arbeit" zulassen. Die Betriebsparteien, das heißt Geschäftsleitung und Betriebsrat, sollten sich in Zukunft als "Netzwerker" für den Standort Deutschland verstehen.

In vier Thesen brachte Kannegießer seine aktuelle Position zur Tarifautonomie auf den Punkt:

  • • Der Branchentarifvertrag müsse in seiner Funktion als bestes Instrument zum Erhalt des "Betriebsfriedens" erhalten bleiben.
  • • Die Unterscheidung zwischen Tarifvertrags- und Betriebsparteien dürfe nicht aufgegeben werden.
  • • Die betrieblichen Regelungsmöglichkeiten sollten konkret erweitert werden können (zum Beispiel durch so genannte Bandbreiten mit Optionen wie etwa die Streichung von Sonderzahlungen).
  • • Das "Günstigkeitsprinzip", das ein Unterlaufen tarifvertraglicher Mindestbedingungen untersagt, müsse neu definiert werden.

Drohungen
Sommer würdigte Kannegießer als "aufgeklärten Vertreter der Arbeitgeber". Er war so angetan von dessen Ausführungen, dass er beflissentlich die sanft formulierte, aber knallharte Drohung Kannegießers überhörte. Dieser hatte nämlich eindeutig von der zwingend notwendigen Öffnung der Tarifverträge gesprochen. Sollte dies durch "freiwillige" Einigung der Tarifvertragsparteien nicht möglich sein, dann müsse die Politik eingreifen.

Die zweite Gesprächsrunde mit vier "Größen" des Politgeschäfts ließ die Veranstaltung dann endgültig auf das unsägliche Niveau von Sabine Christiansens allsonntäglicher "Talkshow" herabsinken.

Die Fraktionsvorsitzenden der Bundestagsparteien Gerhardt (FDP), Göring-Eckhardt (Grüne), Merkel (CDU/CSU) und Müntefering (SPD) gaben sich die Ehre und dem nur teilweise wütenden Publikum ihr Bestes. Wie dem auch sei: Es war sicherlich für nicht wenige KollegInnen ein unvergessliches Erlebnis, den rhetorischen und intellektuellen Höhenflügen der Creme des Berliner Reichstags lauschen zu dürfen.

Herr Müntefering sprach sich für "betriebliche Bündnisse" aus. Als sehr selbstbewusst auftretender Fraktionsvorsitzender verbürgte er sich für den Erhalt der Tarifautonomie, zumal in die Tarifpolitik erfreuliche Bewegung gekommen sei. Arbeitszeitverlängerung etwa im öffentlichen Dienst sei durchaus sinnvoll. Frau Göring-Eckhardt beschwor die "notwendige" Senkung der "Lohnnebenkosten". Tarifpolitik müsse sich um "Chancen" und nicht um Umverteilung (von unten nach oben) bemühen.

Frau Merkel wollte dem Kampf gegen die Arbeitslosigkeit endlich zu einem entscheidenden Erfolg verhelfen – durch die unbezahlte Verlängerung der Wochenarbeitszeit um eine Stunde. Die "Reform" der Tarifautonomie, versicherte sie treuherzig, müsse natürlich mit dem Grundgesetz konform sein. Herr Gerhardt, ganz Basisdemokrat, plädierte engagiert für die Ausweitung von Freiheitsrechten im Betrieb. Belegschaften sollten in Zukunft mit Zwei-Drittel-Mehrheit über die Öffnung von Tarifverträgen (nach unten) entscheiden können. Ein Schelm, wer dabei an Erpressung der Beschäftigten durch "ihren Sozialpartner" denkt.
Würze
Das Salz in der faden Suppe, die der DGB an diesem 30. Oktober 2003 in Berlin auslöffeln ließ, waren einige empörte Zwischenrufe und kritische Wortmeldungen aus dem Publikum. So forderte zum Beispiel ein Kollege von Honeywell-Bull von den Gewerkschaften, statt Saalveranstaltungen Streiks und Demonstrationen zur Verteidigung der Tarifautonomie zu organisieren. DGB-Vorsitzender Sommer konnte derartigen Vorschlägen nichts abgewinnen. Proteste gegen den Sozialabbau und die Aushöhlung der Tarifautonomie seien zurzeit nicht angebracht.

Zwei Tage später und nur einen Steinwurf vom Kongresszentrum am Alexanderplatz entfernt, gaben ihm über 100.000 Menschen, ohne von der DGB-Spitze dazu gebeten worden zu sein, eine unüberhörbare Antwort.

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