TEILEN
isl

Deutschland in Europa und der Welt

01.08.2003

Mit der totalen Niederlage des nationalsozialistischen Deutschland im Zweiten Weltkrieg ging eine Epoche zu Ende, in der die ”verspätete Nation” unter Führung der preußisch-deutschen Kraut- und Schlotjunker versucht hatte, einerseits den Westen Europas unter ihre Kontrolle zu bringen und andererseits sich im Osten ”durch Unterwerfung der Slawen” ein neues Kolonialreich mit billigen Rohstoffen und Arbeitskräften zu sichern. Besonders in Deutschland kommt dem Zweiten Weltkrieg die Bedeutung einer tiefgreifenden historischen Zäsur zu, die durch den Judenmord (Auschwitz) noch akzentuiert wird. Dies zeigt sich vor allem in der Tatsache, dass die Geschichte der (alten) Bundesrepublik seit 1949 wesentlich von den Parteien der ”Reichsfeinde” des deutschen Kaiserreiches – der Partei des politischen Katholizismus und der Hauptpartei der Arbeiterbewegung – geprägt worden ist. Auf den Trümmern des Dritten Reichs kam so der ”Klassenkompromiss” des Grundgesetzes zwischen CDU/CSU und SPD zustande, in dem an gewisse Traditionen der Paulskirchenbewegung und der Revolution von 1848 angeknüpft wurde.

Auch in der sowjetischen Zone beriefen sich diejenigen Menschen, die die Bewegung zur Gründung einer ”Deutschen Demokratischen Republik” ins Leben riefen, zunächst auf diesen historischen Zusammenhang und wollten ebenfalls gemäß den Grundsätzen der 48er Revolution ein bürgerlich-demokratisches Regime etablieren.

Die Maßnahmen zu einer radikalen und umfassenden Durchführung der Bestimmungen des Potsdamer Abkommens von 1945 (Entmilitarisierung, Entnazifizierung, Brechung der Macht der Großkonzerne und Demokratisierung) wurden auf beiden Seiten des ”Eisernen Vorhanges” durch den sich verschärfenden Ost-West-Gegensatz zunächst gebremst und dann unmöglich gemacht, was im Westen zur Gründung des ”Adenauer-Staates” mit starken restaurativen Tendenzen (Integration von Altnazis, Rückgabe von Fabriken an enteignete Kapitalisten, KPD-Verbot) und im Osten (nach Ausschaltung der demokratischen Kräfte) zur Etablierung der SED-Diktatur führte.

Die zentralen politischen Grundlagen der staatstragenden Parteien des Weststaates in der Nachkriegszeit waren die Westintegration (NATO und EWG), der Antikommunismus und der relativ ausgebaute Sozialstaat (Lohnfortzahlung, Dynamisierung der Rente ab 1957) des ”rheinischen Kapitalismus” (Michel Albert). Ab Mitte der fünfziger Jahre ließ die SPD-Führung endgültig von ihren Plänen ab, die deutsche Wiedervereinigung nach österreichischem Vorbild mittels Neutralisierung des Landes zu erreichen, und übernahm die zentralen Vorgaben der von Adenauer und Erhard entwickelten Variante bürgerlicher Politik (Westintegration und ”soziale” Marktwirtschaft). Im Verlauf des ”Wirtschaftswunders”, also des langen Nachkriegsbooms, setzte sich spätestens mit Bad Godesberg die ”Konsensdemokratie” durch, in der alle wesentlichen politischen Fragen in Übereinstimmung der großen Parteien gelöst wurden. Der Union kam dabei die Rolle zu, das bürgerliche und kleinbürgerliche Lager, der SPD, die Gewerkschaften (und ggf. soziale Bewegungen, besonders die verschiedenen Schübe der Friedensbewegung) einzubinden.

Die restaurativen Tendenzen der Nachkriegszeit und die geringe Bereitschaft zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit haben viele Linke dazu geführt, die historische Zäsur des Zweiten Weltkriegs und der vernichtenden Niederlage kleinzureden oder gar ein IV. Reich vorherzusehen. Die nicht nur von der Bourgeoisie, sondern auch breiten Teilen der Bevölkerung vorgenommene Verdrängung der Verbrechen des NS-Regimes, insbesondere von Auschwitz, an denen einige Hunderttausend beteiligt waren, hat gerade bei jungen Menschen seit den sechziger Jahren zu einer moralischen Empörung über die hierzulande herrschenden Zustände geführt, die häufig in die Nähe des Dritten Reiches gerückt wurden (”Nie wieder Deutschland”). Doch mit dem Zweiten Weltkrieg war das Bismarckreich endgültig untergegangen und der ”deutsche Sonderweg” zu Ende. Die ”Verwestlichung” Deutschlands bedeutet für die politische Linke, dass sie die politische Auseinandersetzung wie ihre PartnerInnen im Westen im Rahmen ”normaler” kapitalistischer und bürgerlich-demokratischer Verhältnisse führen muss. Dies heißt nicht, dass wir die besondere Verantwortung aller Deutschen ihrer Vergangenheit gegenüber leugnen oder herunterspielen möchten. Der Kampf gegen faschistische und rassistische Gruppen und Bestrebungen muss weiterhin ein integraler Bestandteil linker Politik bleiben. Auch ist eine kritische Sicht der modischen These von der ”Befreiung Deutschlands durch die USA” angebracht; sie unterschlägt die Rolle der internationalen ArbeiterInnenbewegung und vor allem den ungeheuren Blutzoll, den die Sowjetunion im Verlauf des Zweiten Weltkrieges zu zahlen hatte.

In einzelnen Fragen wurde der Konsens der Nachkriegszeit zunächst durch die Studentenbewegung 1967/68 aufgebrochen und dann etwa seit Mitte der siebziger Jahre durch die Neuen sozialen Bewegungen erheblich in Frage gestellt (Kampf gegen Atomkraftwerke, Umwelt und Energie, Aufrüstung, Rolle der Frau, Konsummodell etc.). Der Radikalisierungsprozess der Studentenbewegung geriet nach Ende des SDS mit der Gründung zahlloser Kleinparteien in eine Sackgasse; einige Strömungen orientierten sich seit Wyhl 1974 vor allem in der Anti-AKW-Bewegung auf neue Subjekte einer breiteren Bevölkerung; es entstand zu vielerlei Themen eine Umwelt- und Alternativbewegung. Diese Bewegungen und das Festhalten der Schmidt-SPD an den traditionellen Positionen im Streit um die Atomenergie und den NATO-Nachrüstungsbeschluss führten zur Gründung der Partei der Grünen, die als erste neue Partei seit 1953 im Jahr 1983 erstmalig den Einzug in den Bundestag schaffte. Führende Mitglieder der neuen Partei hatten die Bedeutung des ”Jahrhundertthemas” Ökologie begriffen und sich damit von der Konkurrenz abgesetzt. Anfänglich versuchten die Grünen mehrheitlich eine Verbindung von Arbeit in Massenbewegungen und parlamentarischer Intervention; die Wirtschaftskrise mit dem Siegeszug der neoliberalen Ideologie sowie der Zusammenbruch des Ostblocks und das Zurückfluten der sozialen Bewegungen führten die Grünen in eine Orientierungskrise, in der der ”Realoflügel”, der auf eine (ökologische?) Modernisierung des Kapitalismus im Bündnis mit der SPD setzt, schließlich Oberwasser bekam.

Während die erste Rezession in Deutschland 1966/67 zum Sturz der Regierung Erhard und zur Etablierung einer Großen Koalition unter Kiesinger und Brandt geführt hatte, die zentrale Positionen des Keynesianismus (antizyklische Konjunkturpolitik, Staatsinterventionismus) in den Verfassungsrang erhob, beendete die zweite Mitte der siebziger Jahre die kurze Reformära unter Brandt und Scheel. Nachdem die keynesianischen Politikansätze zu hoher Inflation und rasch zunehmender Staatsverschuldung geführt hat
ten, verabschiedete sich die FDP unter Lambsdorff mit dem nach ihm benannten ”Papier” von der Sozialdemokratie und orientierte sich nun an den neoliberalen Vorgaben aus Washington und London. Die Regierungen Kohl/Genscher begannen mit einer Umverteilungspolitik durch Privatisierungen und Beschneidungen des Sozialstaates, ohne jedoch die Radikalität der anglo-amerikanischen Vorbilder erreichen zu können oder zu wollen (hieran waren sie unter anderem durch die Bindung auch des katholischen Milieus an den Sozialstaat gehindert).

Die ”europäische Integration”

Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) war 1957 als Projekt der westeuropäischen wirtschaftlichen und politischen Integration gegründet worden und schuf im ersten Jahrzehnt ihres Bestehens eine Freihandelszone; das bereits in den römischen Verträgen anvisierte Ziel der politischen Integration scheiterte jedoch an den Widersprüchen und Rivalitäten der verschiedenen Nationalstaaten mit ihren besonderen Interessen und politischen Kulturen. Nach einem Jahrzehnt der Krise ab Mitte der siebziger Jahre versuchte die neue EG-Kommission um Jacques Delors ab Mitte der achtziger Jahre, den wirtschaftlichen und politischen Integrationsprozess neuerlich voranzutreiben: Die Abkommen von Maastricht und Amsterdam schufen den einheitlichen Binnenmarkt und schließlich die gemeinsame Währung, den Euro. (Beides sollte ursprünglich schon Anfang der siebziger Jahre eingeführt werden, siehe Werner-Plan). Die verabredeten Stabilitätskriterien orientierten sich völlig am neoliberalen Dogma (Bekämpfung der Inflation hat Vorrang vor Abbau der Arbeitslosigkeit). Sie schufen eine Zwangsjacke, die zusammen mit der von der neuen Mobilität des Finanzkapitals verursachten ”Krise des Steuerstaates” massiven Druck auf Kommunen und Länder ausübt, den verbliebenen Kommunal- bzw. Staatsbesitz zu verschleudern und öffentliche Dienstleistungen, den Nahverkehr sowie die Versorgung mit Wasser und Energie zu privatisieren. Im Rahmen der GATS-Runde der Welthandelsorganisation, deren Verhandlungen von der EU-Kommission unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt werden, soll eine Ausdehnung der Marktöffnung auf verbliebene Reservate öffentlicher Dienstleistungen wie Gesundheit und Bildung durchgesetzt werden. Nicht zufällig entstand mit den ”Europäischen Märschen gegen Erwerbslosigkeit, ungeschützte Beschäftigung und Ausgrenzung” 1997 ein erstes europäisches Netzwerk gegen die neoliberale Wirtschafts- und Sozialpolitik der EU.

Mit der Einführung des Euro (und damit der Aufgabe der Währungssouveränität der beteiligten Staaten) wurde ein weiterer Schritt bei der Entmachtung der nationalen Parlamente und der Stärkung der Exekutiven (Europäische Zentralbank, Regierungen) getan. Auch in der Außenpolitik engagieren sich einige EU-Staaten immer stärker militärisch. Das zielt vor allem Richtung Balkan und die Mittelmeerregion, aber auch in Vorder- und Mittelasien sind Tendenzen zur militärischen Interessensdurchsetzung sichtbar. Gerade Sozialdemokraten und Grüne betreiben das Projekt des Aufbaus einer europäischen Armee bzw. von ”Eingreiftruppen”, um ggf. auch ohne US-Beteiligung in Konflikte (Afrika) intervenieren zu können. Die Radikalisierung der US-Außenpolitik hin zum Unilateralismus wird die Absetzbewegungen der EU sicherlich beschleunigen, selbst wenn die gemeinsamen Interessen an der Plünderung des Südens, aber auch die innere Uneinigkeit (Frankreich gegen Britannien) vorläufig verhindern, dass sich ”Europäer” und die USA endgültig entzweien.

Die politischen Auseinandersetzungen im Vorfeld des Irak-Krieges haben die Widersprüchlichkeit des europäischen Einigungsprozesses in aller Deutlichkeit herausgestellt und ihn geschwächt: Während Paris und Berlin die US-Politik einer militärischen Intervention ablehnten, gerierte sich Blair als Bushs Statthalter; Italien, Spanien und die meisten Osteuropäer folgten (trotz mehrheitlicher Ablehnung des Krieges in der Bevölkerung) der in Washington beschlossenen Linie.

Als Internationalisten engagieren wir uns im Kampf gegen den Aufbau eines marktradikalen, imperialistischen und militaristischen Europa durch unsere Beteiligung am Aufbau eines ”Europas von unten”, wobei die sozialen und politischen Bewegungen zusammengeführt und politisch vorangebracht werden müssen. Unser besonderes Augenmerk gilt dem Aufbau einer europäischen Gewerkschaftsbewegung, um dem Europa des Kapitals mehr als nationalen Widerstand entgegensetzen zu können. Desweiteren gilt es, den Aufbau einer europaweiten Bewegung gegen Militarisierung und Krieg voranzutreiben. Dies müssen Kernthemen der kommenden Sozialforen sein.

Mit dem Untergang des Ostblocks wurde die Spaltung Deutschlands und die Funktion der beiden deutschen Staaten als Frontstaaten des jeweiligen Blocks im Kalten Krieg beendet. Der Anschluss der DDR führte zu einem gigantischen Raubzug des westdeutschen Kapitals, so dass heute ca. 80 % der besitzbaren Güter, besonders aber die (deindustrialisierte) produktive Basis, ”Wessis” gehören. Nicht nur wurde die ex-DDR zur verlängerten Werkbank des Westens umstrukturiert; vielmehr wurden dort die Möglichkeiten des ”neoliberalen Umbaus” (lean production, unbegrenzte Mobilität) in aller Radikalität durchgesetzt: Aushöhlung der Tarifverträge, massenhafte unbezahlte Überstunden, Pendler, die oft Hunderte von Kilometern zur Arbeit anreisen, Niedriglohnsektor, Abwanderung von über einer Million (vor allem junger) Menschen, billigste öffentliche Arbeiten für Erwerbslose usw.

Die von vielen Ostdeutschen als Demütigung empfundene Art der Überstülpung des westdeutschen ”Erfolgsmodells” und der Kreuzzugsgeist vieler Wessis, möglichst alle Übrigbleibsel des ”kommunistischen Unrechtregimes” mit Stumpf und Stiel auszurotten, führte in der ehemaligen DDR zur Herausbildung einer besonderen Ossi-Mentalität mit gewissen Tendenzen zur Verklärung der Vergangenheit. Durch Bedienung dieser Mentalität ist es der PDS gelungen, Teile der früheren Bürokratie mit neuen Selbständigen und wirklich oder vermeintlich Unterprivilegierten zusammenzuführen und sich als deren politische Interessenvertretung darzustellen. Die tiefe Krise der PDS zeigt jedoch, dass ohne neue Schichten, die nicht mehr in der DDR sozialisiert wurden, und ohne eine klare, von Rot-Grün deutlich unterscheidbare sozialistische programmatische Perspektive mit dem Ziel, den Kapitalismus zu überwinden, diese Partei vom herrschenden Angebot aufgesogen werden wird.

Die BRD unter Rotgrün

Die Rückwirkungen des Umbaus des Kapitalismus im Westen und des Anschlusses der DDR, die geringen wirtschaftlichen Wachstumsraten, die Verbrauchtheit der Kohl’schen Führungsgarnitur und schließlich der Spendenskandal um Kohl und in Hessen führten die Union in eine tiefe programmatische Krise und Führungskrise. Unter dem Motto ”Modernisierung u
nd Gerechtigkeit” gewann Rot-Grün die ”neue Mitte” und damit die Bundestagswahl 1998. Ihr Ansatz besteht aus einer ”modernisierten” und sozial etwas ”abgefederten” Form neoliberaler Politik: Umstrukturierung, Privatisierung und Sozialabbau ”zur Sicherung des Wirtschaftsstandortes Deutschland” sollen ”im Dialog” mit den gesellschaftlichen Gruppen (z. B. Bündnis für Arbeit, Ausstieg aus der Kernenergie, Ethikrat zur Gen-Technologie, Rürup-Kommission) erarbeitet werden; dadurch sollen Konflikte vermieden oder mögliche Konfliktpotentiale durch Spaltung neutralisiert werden (Atomtransporte, Bundeswehreinsätze, Sozialabbau). Die Einsetzung zahlreicher ”Konsensrunden” akzentuiert die Politik des neoliberalen Pragmatismus, was zu einem weiteren Einflussrückgang des ohnehin geschwächten Parlaments (Außenpolitik, EU) führt.

Der SPD kommt (gleich den Grünen) bei der Durchsetzung einer ”ausgewogenen” neoliberalen Politik einerseits zugute, dass im Massenbewusstsein auch und gerade der Lohnabhängigen heute radikale Veränderungen nach dem Scheitern des ”Realsozialismus” als völlig utopisch erscheinen, dass sie andererseits (im Unterschied zu Union und FDP) jedoch keine Fraktion der Bourgeoisie organisiert (selbst wenn die Verbindungen in die Vorstandsetagen von Großkonzernen heute intensiver sind denn je zuvor, z.B. die der Wirtschaftsminister Müller bzw. Clement), so dass sie unter bestimmten Umständen mittels Kontrolle der Spitze des Staatsapparates die Rolle eines Schiedsrichters und Integrators zu spielen vermag.

Die besondere Rolle der SPD zeigte sich auch in den letzten Wochen vor der Wahl 2002, als es Schröder und Genossen gelang, durch Mobilisierung der Ablehnung des und der Ängste vor dem Irakkrieg (bisweilen mit nationalen Untertönen) und durch publikumswirksame Auftritte als ”Deichgreif” in den Hochwassergebieten Sachsens und Thüringens einen Solidarisierungseffekt zugunsten von Rotgrün zu erreichen und die sicher scheinende Wahlniederlage noch einmal abzubiegen. Die wirtschaftliche Depression und die geplanten Kürzungen sozialstaatlicher Leistungen führten bald nach der Wahl zu einem massiven Vertrauensverlust in die SPD.

Der ”Erfolg” der rotgrünen Politik wird einerseits vom versprochenen ”wirtschaftlichen Aufschwung”, der bislang Chimäre geblieben ist, andererseits vor allem aber von der Integration der Gewerkschaften und möglicher sozialer Bewegungen in die ausgehandelten Vorgaben (Agenda 2010) abhängen. Kohls Angriff auf die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall war 1996 das Fanal für seine Abwahl. Ein vergleichbarer ”Fehltritt” könnte auch Schröder und Rot-Grün in die Bredouille bringen; sollte die Massenarbeitslosigkeit nicht zurückgehen, sondern weiter ansteigen, dann dürfte ”Rot-Grün” in absehbarer Zeit eine Episode geblieben sein. Bislang werden sie nicht von der eigenen politischen Stärke, sondern von der Konzeptionslosigkeit der Union und der FDP an der Regierung gehalten.

Die wesentlichen, in der vergangenen Legislaturperiode vorgenommen bzw. in der neuen vorbereiteten ”Reformmaßnahmen”, folgen alle der neoliberalen Logik der ”Stärkung der Angebotsseite”:

* Die Steuerreform bringt eine Senkung des Spitzensteuersatzes von 53% über 48,5% auf 42%; die Senkung der Körperschaftssteuer auf ausgeschüttete Gewinne von 30% bzw. 40% auf 25% (ohne jede Progression) begünstigt zusammen mit der steuerlichen Freistellung von Unternehmensverkäufen eindeutig das Großkapital und verschärft die Finanzkrise, besonders der Kommunen.

* Die eingeleitete ”Sparpolitik” geht in starkem Maße zu Lasten der sozialen Sicherungssysteme, die unter ”Finanzierungsvorbehalt” gestellt werden. Gleichzeitig werden durch sie die depressiven Tendenzen der Konjunktur verstärkt.

* Die Rentenreform legt die Grundlagen für eine Teilprivatisierung der Altersversorgung und damit verbunden, eine Senkung der ”Lohnnebenkosten” (Aufgabe der paritätischen Finanzierung der Rentenversicherung). Der gravierendste Aspekt dürfte in der Zerstörung des Netzes der Solidarität liegen, denn bisher führten erkämpfte Lohnerhöhungen auch zu Rentenerhöhungen der jetzigen und der späteren Rentnergenerationen.

* Zahlreiche Maßnahmen zur ”Bekämpfung der Arbeitslosigkeit” bekämpfen in Wirklichkeit die Arbeitslosen, so die teilweise Privatisierung der Arbeitsvermittlung, das neue Job-Aqtiv-Gesetz und die geplante Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe. Die Hartz-Vorschläge bzw. -Gesetze radikalisieren diesen Kurs. Letztlich sollen nur diejenigen vom Arbeitszwang ausgenommen werden, die aufgrund ihrer körperlichen Verfasstheit absolut nicht mehr einsetzbar sind.

* Der in einer ”Konsensrunde” beschlossene ”Ausstieg aus der Atomenergie” entpuppt sich als Freibrief für die Atommafia, bei einem Verzicht auf Neubauten möglichst lange Laufzeiten für ihre neueren Meiler genehmigt zu bekommen. Obwohl völlig ungeklärt ist, wie (und zu welchen Kosten!) der strahlende Atommüll auf Jahrmillionen sicher verwahrt werden soll, wird sich dieser Müllberg bis zum ausgehandelten Auslaufen der Mailer nochmals verdoppeln.

* Das neue ”Zuwanderungsgesetz” erkennt zwar an, dass Deutschland faktisch Einwanderungsland ist, macht jedoch die ”deutschen Interessen” zur alleinigen Richtschnur der Aufnahme. Gleichzeitig werden die Abschreckungsmaßnahmen gegen Menschen, die man nicht hier haben will (bestimmte Flüchtlingsgruppen, nachziehende Kinder) durch Kürzungen der Sozialhilfe und ”Ausreisezentren” verschärft.

* Der Umbau der Bundeswehr macht aus der Armee im Kern eine ”schnelle Eingreiftruppe”, die tendenziell weltweit eingesetzt werden soll. Schon das ”Weißbuch” von 1992 definierte die sichere Rohstoffversorgung der BRD als ein ”weltweites Interesse”, das ggf. auch gewaltsam einzufordern sei. Durch ihre Einsätze auf dem Balkan und in Afghanistan versucht die BRD, ihren außenpolitischen Spielraum zu erweitern und zu einer ”mittleren Ordnungsmacht” zu werden. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei der Kontrolle des Mittelmeerraumes und vor allem der rohstoffreichen und sensiblen Region um das Kaspische Meer.

Trotz einiger ermutigender Erfahrungen, besonders im Dienstleistungsbereich (Gewerkschaft HBV bzw. ver.di), ist es den Gewerkschaften bisher nicht gelungen, dem Umstrukturierungsprozess des Kapitals wirksamen Widerstand entgegenzusetzen, auch wenn die Einbrüche in den Mitgliederzahlen (abgesehen vom Osten) wegen des weniger ausgeprägten Deindustrialisierungsprozesses nicht jene dramatischen Ausmaße angenommen haben wie in vielen anderen Ländern. Die Reduzierung und Verjüngung der Belegschaften wurde außerdem in aller Regel zu Lasten der Sozialkassen durchge
führt, so dass sich die Konsequenzen erst mit erheblicher Verspätung einstellen. Die Gewerkschaftsführungen hatten sich zu sehr auf die Gegebenheiten der ”alten Ökonomie” in der alten BRD verlassen, zu sehr den Korporatismus gepflegt, zu sehr waren keynesianische Ansätze durch den Globalisierungsprozess an den Rand gedrängt worden, als dass ein konsequentes Umsteuern möglich gewesen wäre. Vor allem die Massenarbeitslosigkeit und deren demoralisierende Auswirkungen haben seit 1991 zu einem Rückgang der Mitgliedschaft um etwa 30 Prozent geführt.

Die Einbindung der Gewerkschaftsbürokratie in die Regierung und vor allem ins ”Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit” nach holländischem Vorbild sorgte bislang zusätzlich für die Verhinderung von größeren Klassenaktionen der abhängig Beschäftigten. Das Arbeitskampfniveau in der BRD hat – wiewohl es fast immer bescheiden war – eine historische Tiefstmarke erreicht. Trotzdem hat es in der Gesellschaft zu gären begonnen, wie die Diskussionen um die Höhe der Lohnforderungen und die Einkommensverteilung, die Streiks im Osten um die 35-Stunden-Woche oder die Ablehnung der rotgrünen Agenda 2010 deutlich werden lassen. Die Basis glaubt nicht mehr, dass Lohnverzicht zu einer Senkung der Arbeitslosenzahlen führen würde; die Argumentation, es müsse die Massenkaufkraft gestärkt werden, gewinnt an Boden. In der Führung der IG Metall und bei ver.di scheinen sich Tendenzen zu regen, die ”blutleere Politik der Mitte” (Klaus Lang) zu kritisieren und durch einen gewissen Abstand zur rot-grünen Bundesregierung einen Freiraum für eigenständige Mobilisierungen zu bekommen. Auch die proklamierte Annäherung an Attac deutet in diese Richtung.

In den neunziger Jahren befanden sich in der BRD auch die sozialen Bewegungen auf einem Tiefpunkt; ihre Mobilisierungen waren zumeist lokal oder regional begrenzt und bezogen sich auf sehr spezifische Themen. Einzig die Bewegung gegen die Neonazis konnte nach den Brandanschlägen von Solingen, Mölln und Rostock eine gewisse Breite entfalten und vor allem viele Jugendliche ansatzweise politisieren.

Massenhaften Widerstand gab es gegen verschiedenen Castor-Transporte ins Wendtland bzw. nach La Hague, ohne dass die Bewegung aber auch nur in Ansätzen das organisatorische oder politische Niveau der Mobilisierungen der siebziger Jahre erreichen konnte.

In Teilen des Landes (Thüringen) entwickelte sich eine teilweise gut organisierte Bewegung von Erwerbslosen, die sich zu ”runden Tischen” und Erwerbslosenparlamenten traf.

Die Hoffnungen auf einen ”Politikwechsel” im Gefolge von Rot-Grün 1998 wurden massiv enttäuscht; es kam in der BRD jedoch nicht zu massenhaften Mobilisierungen, wie sie – ausgehend von den Streiks in Frankreich im Winter 1995 -, sich in vielen europäischen Ländern ausgebreitet haben.

Dennoch scheint sich auch hier in letzter Zeit der Wind zu drehen: Der über Erwarten große Erfolg des Attac-Kongresses vom Oktober 2001 in Berlin sowie weiterer Treffen und die anhaltende Zunahme der Mitgliedschaft deuten zumindest in diese Richtung. Es beginnt sich eine globalisierungskritische Bewegung außerhalb der traditionellen Parteien aufzubauen, die sich positiv auf die internationalen Erfahrungen und Mobilisierungen (Seattle, Prag, Nizza, Genua, Porto Alegre, Barcelona, Florenz, Genf…) bezieht und auch hier den übermächtigen Konsens des ”Einheitsdenkens” aufzuweichen beginnt. Es ist durchaus möglich, dass es in dieser Bewegung zu einem Politisierungsschub von Teilen gerade der jüngeren Generation kommt, die nach der Zeit der Gründung der Grünen und deren progressiver Integration ins System aufgewachsen sind und nun unter den Bedingungen geringer Erwartungen ins etablierte Parteiensystem (Parteienverdrossenheit angesichts des Konsenses in ”Standortfragen”) eigenständige Erfahrungen machen können. Die Bewegung gegen den Irak-Krieg hat diese Tendenz vor allem bei jungen Menschen bestätigt.

Wir sollten unsere Kräfte darauf konzentrieren, unsere Kenntnisse und Erfahrungen in diese sich entwickelnde Bewegung einzubringen und unseren Beitrag dazu leisten, für einen politischen Klärungsprozess und den Aufbau einer organisierten Struktur zu arbeiten, die in Theorie und Praxis das ”Einheitsdenken” herausfordert und einen Beitrag zur Vernetzung des kritischen Potentials zu leisten vermag. Die Sozialforen auf kommunaler, nationaler, kontinentaler und weltweiter Ebene werden dabei eine herausragende Rolle spielen.

 

Artikel teilen
Kommentare auf Facebook
Zur Startseite