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Innenpolitik

Der Staat als Getränkeautomat

Von Heinrich Neuhaus | 28.02.2013

Oder: Warum die Reichen immer mehr die Gesellschaft ausplündern können

Uns stehen harte Zeiten bevor, weil „wir“ ja „unsere Staatsschuldenkrise“ lösen und „unsere Wettbewerbsfähigkeit“ steigern müssen. So verkündet es die Kanzlerin als Sprachrohr der Herrschenden ohne Unterlass. Für eine winzig kleine Minderheit haben allerdings längst paradiesische Zustände begonnen.

Oder: Warum die Reichen immer mehr die Gesellschaft ausplündern können

Uns stehen harte Zeiten bevor, weil „wir“ ja „unsere Staatsschuldenkrise“ lösen und „unsere Wettbewerbsfähigkeit“ steigern müssen. So verkündet es die Kanzlerin als Sprachrohr der Herrschenden ohne Unterlass. Für eine winzig kleine Minderheit haben allerdings längst paradiesische Zustände begonnen.

Laut OECD gibt es derzeit kein kapitalistisches Industrieland, in dem sich die Schere zwischen reich und arm schneller öffnet als in der Bundesrepublik. Um es vorwegzunehmen: Die herrschende Klasse und ihre Handlanger gewinnen. Die arbeitende Klasse insgesamt und vor allem die unteren Schichten dieser Klasse verlieren immer mehr.
Schichten statt Klassen?
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) führt jährlich eine repräsentative Umfrage in 12.000 Haushalten durch. Natürlich wird dabei gemäß dem ideologischen Konstrukt einer „nivellierten Mittelstandsgesellschaft” nur nach Schichten und nicht nach Klassen unterschieden.

Dennoch sind die Zahlen interessant. 1998 zählten noch 52,3 Millionen Menschen oder 64,3 Prozent zur „Mittelschicht“, das heißt zu den besser bezahlten Teilen der arbeitenden Klasse. 2008 waren es nur noch 47,7 Millionen oder 58,7 Prozent. Fast alle dieser statistisch fehlenden 4,6 Millionen Personen sind abgestiegen.

1998 zählten 17,7 Prozent zu den „einkommensschwachen Haushalten“. 2008 gehörten schon 22,5 Prozent zu dieser Kategorie.

Laut DIW zählt zur „Mittelschicht“, wer zwischen 70 und 150 Prozent des mittleren Nettoeinkommens hat. Mit anderen Worten: Eine alleinstehende Person zählt zur „Mittelschicht“, wenn sie zwischen 1.130 und 2.420 Euro netto monatlich ausgeben kann. Sozialabgaben und Steuern sind bei diesen Zahlen bereits herausgerechnet.

Eine Familie mit zwei kleinen Kindern gehört mit einem Monatseinkommen zwischen 2.370 und 5.080 Euro netto dazu.
Schrumpfende „Mittelschicht“
Die Ursachen für diese Entwicklung sind grob gesagt sinkende Reallöhne, die Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse und gleichzeitig explodierende Firmengewinne.

In 2009 lag das Bruttoeinkommen für eine Vollzeitbeschäftigung durchschnittlich bei 2.922 Euro im Monat. Im Vergleich zu 2006 waren das monatlich vier Prozent oder 118 Euro brutto mehr. Nach Abzug der offziell bezifferten Inflation von sechs Prozent haben die abhängig Beschäftigten in diesem Zeitraum jedoch real rund zwei Prozent verloren.
 
In Deutschland stiegen selbst im Boom von 2005 bis 2008 die Reallöhne nicht mehr. Das gab es bisher nicht in der Geschichte der Bundesrepublik, und es ist auch einzigartig in der Europäischen Union. Von dieser Entwicklung profitierten allein die Kapitaleigner und Aktionäre.

Aber selbst wenn die Löhne und Gehälter steigen, ändert sich nichts an der Verteilung der Vermögen. Diese ist in Deutschland besonders extrem.

Offiziell leben wir zwar in einer „sozialen Marktwirtschaft“ und laut Grundgesetz verpflichtet Eigentum. In Wirklichkeit leidet jedoch die große Mehrheit unter einer knallharten kapitalistischen Klassengesellschaft. In ihr verfügen laut DIW ganze 0,1 Prozent über 22,5 % des privaten Nettovermögens und haben das Sagen. Das große Geld und die Macht ist also bei wenigen Familien konzentriert. Das reichste 1 Prozent verfügt über 35,8 % und die wohlhabendsten 10 Prozent besitzen 66,6 % des Reichtums dieser Gesellschaft.

Für die laut staatlichem Selbstverständnis in der „parlamentarischen Demokratie“ entscheidenden Mehrheiten der WählerInnen bleibt da nicht mehr viel übrig. 70 Prozent kommen auf weniger als 9 % des Vermögens, die unteren 50 Prozent sogar nur auf 1,5 %. Die untersten 20 Prozent haben laut DIW praktisch fast kein Vermögen, sondern meist Schulden.

Diese extrem ungerechten Vermögensverteilung ist systembedingt und durch die Politik der letzten Jahre massiv beschleunigt worden.
Anhaltende Unterstützung
Zwar schrumpft die „Mittelschicht“ zahlenmäßig. Mit 58,7 Prozent stellt sie aber immer noch die Mehrheit der Wahlberechtigten. Ihre wahlpolitische Bedeutung ist sogar relativ noch größer, weil die „Unterschicht“, also die Erwerbslosen und die prekär Beschäftigten, meist nicht mehr ihr Stimmrecht ausübt.
 
Der neoliberale Parteienblock aus CDU/CSU, FDP, Grünen und SPD buhlt um die „Mittelschicht“, weil sie wahlentscheidend ist, und selbst große Teile der Linkspartei orientieren sich auf sie. Die große Mehrheit der „Mittelschicht“ ist seit Jahren so freundlich, für die neoliberalen Parteien und deren „Reformpolitik“ zu stimmen. Zum Beispiel für deren Steuer- und Sozialpolitik, die nur den Reichen nutzt und ihr selbst schadet. Sie unterstützt also durch ihr Wahlverhalten die Politik der beschleunigten Umverteilung von unten nach oben.  

Zur Erinnerung: 1920 lag der Spitzensteuersatz bei 60 Prozent, unter der Regierung Kohl (CDU/CSU und FDP) lange Zeit bei 56 Prozent. Die massive Senkung des Spitzensteuersatzes von 53 auf 42 Prozent ist ein historischer „Verdienst“ der Regierung Schröder/Fischer (SPD und Grüne) – mit Unterstützung von CDU/CSU und FDP. Jedes Jahr kostet das die Gesellschaft rund 60 Milliarden an entgangenen Steuereinnahmen.
Denn alle diese Parteien waren der Meinung, dass die Mehrheit der Wähler unbedingt die Reichen beschenken wollten.

Die große Koalition aus CDU/CSU und SPD konnte gut daran anknüpfen. Sie ist verantwortlich für die Einführug der „Abgeltungssteuer“, durch die Kapitalerträge pauschal nur noch mit 25 Prozent besteuert werden. Millionäre versteuern seitdem – wenn sie das überhaupt tun –  ihre Zinserträge niedriger als viele abhängig Beschäftigte ihren Lohn. Dann gab es noch die „Reform“ der Erbschaftsteuer. Sie führte die Steuerfreiheit für nicht völlig unwissende Firmenerben ein, selbst wenn es um milliardenschwere Erbschaften geht.

Zum Ausgleich erhöhte die große Koalition die Mehrwertsteuer von 16 auf 19 Prozent. Sie trifft formal alle, real zahlen hierfür aber vor allem die BezieherInnen mittlerer und vor allem kleinerer Einkommen.
Gigantische Verschleierung
Wie funktioniert diese gigantische Verschleierung der wirtschaftlichen, sozialen und letztendlich politischen Interessen der herrschenden 0,1 Prozent?

Erstens fördert und nutzt sie die Illusionen der Mehrheit über die soziale Wirklichkeit und die angeblichen Aufstiegsmöglichkeiten skrupellos aus.

Zweitens be
dient und nährt sie mit Hilfe der Massenmedien skrupellose deren Ängste und Vorurteile.

Wenn also Steuersenkungen für die Reichen und Superreichen verabschiedet werden sollen, muss der „Mittelschicht“ das Gefühl gegeben werden, dass sie ebenfalls zur „Oberschicht“ gehört oder zumindest von deren Wohlergehen profitiert.
Permanenter Selbstbetrug
Wie wird die „Mittelschicht“ zum permanenten Selbstbetrug angehalten? Zunächst und vor allem wird die massive Verachtung der „Unterschicht“ gefördert, die sich angeblich nur aus „verdummten Sozialschmarotzern“ zusammensetzt.  Springer-Boss Döpfner beklagt etwa, dass der Staat von den unteren Schichten „als Getränkeautomat" begriffen wird, „von dem sich jeder etwas abzapfen kann, der gerade Durst hat“. Talk-Show-Philosoph Sloterdijk weiß: „Die Ausbeutung findet heute von unten nach oben statt“. Stern-Schreiberling Wüllenweber behauptet, Armut sei ein politischer Kampfbegriff im Interesse der „Asozialen“.

Laut Umfragen glauben immer noch 57 Prozent der Deutschen, dass sich Langzeitarbeitlose „auf Kosten der Allgemeinheit in der sozialen Hängematte“ lümmeln würden. Der Untertan sieht eben gerne auf die „ganz unten“ herab.

Zudem glauben viele aus der „Mittelschicht“ an die eigene Karriere. Ergänzt wird ihre Einstellung von der schönen Idee, dass die Sphäre des Reichtums knapp oberhalb des jeweiligen eigenen Einkommens beginnt. Folglich bedarf es nur einer gewissen Anstrengung, um nach „oben“ zu kommen. Das sei nun einmal so in einer „Leistungsgesellschaft“, in der der Mensch seines eigenen Glückes Schmied ist.

Dabei übersehen diese Leute gerne, dass noch nie so viele formal gut Ausgebildete dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen und dennoch die Reallöhne sinken. Die BRD ist in Wirklichkeit eine sehr festgefügte Klassengesellschaft, in der sich die „Elite“, etwa 3,6 Prozent der Bevölkerung, aus sich selbst rekrutiert.
Größtes Staatsgeheimnis
Schließlich gibt es kein so gut gehütetes Geheimnis wie das des Reichtums. Nicht nur können sich die Reichen legal (und illegal) systematisch arm rechnen. Deutschland ist das fünftreichste Land der Welt, aber allen „Armuts- und Reichtumsberichten“ zum Trotz ist über seinen wahren Reichtum sehr wenig bekannt. Die Statistik ist sehr lückenhaft. Zum Beispiel erfasst die Einkommens- und Verbrauchstichprobe keine Haushalte, die über ein Nettoeinkommen von mehr als 18.000 Euro monatlich verfügen. Diese Haushalte umfassen nur 0,1 Prozent der Bevölkerung, doch sie besitzen wie oben erwähnt schätzungsweise 23 Prozent des gesamten Volksvermögens. Nicht nur Milliarden, sondern Billionen Euro verschwinden aus der Statistik.

Wenn schon der Blick auf die „Elite“ vehüllt ist, dann sind Debatten über die Bezüge von Managern wohlfeil.

Natürlich gibt es keinen vernünftigen Grund, dass ein Konzernboss 7 Millionen Euro im Jahr kassiert. Dafür müsste ein durchschnittlicher Beschäftigter 213 Jahre arbeiten. Aber nach Berechnungen von sogenannten Aktionärsschützern betragen die Bezüge des Managements lediglich 1,5 Prozent der ausgewiesenen Konzerngewinne. Warum fragt fast niemand nach dem Verbleib der restlichen 98,5 Prozent?
 
Fast vergessen scheint, dass die billionenschweren Kosten der Krise des Finanzsektor vergesellschaftet wurden und werden. Ein Gutteil des Vermögens der reichsten 10 Prozent wurde durch den Staat gerettet, der die Banken und die „Realwirtschaft“ stützte. Die Herrschenden profitieren also zweifach: Rettung ihrer Finanzanlagen durch den Staat und steigende Zinseinnahmen für die dadurch verursachte zusätzliche Staatsverschuldung beim Finanzsektor.
Schlichte Alternative
Es gibt eine schlichte Lösung für eine Umkehr dieser verheerenden Entwicklung. Sie ist allerdings nicht leicht und höchstwahrscheinlich nicht in der nahen Zukunft durchzusetzen. Die Lösung umfasst zwei Punkte. Erstens: Die Reichen müssen zahlen, damit Armut, Ausgrenzung und Prekarität wirksam bekämpft werden können. Selbst in den USA lag gegen Mitte des 20. Jahrhunderts der Spitzensteuersatz bei 79 Prozent und die Erbschaftsteuer bei 77 Prozent. Zweitens: Erwerbslosigkeit, prekäre Jobs und Hungerlöhne müssen konsequent skandalisiert und bekämpft werden. Dazu bedarf es allerdings einer neuen außerparlamentarischen Opposition und einer Beendigung der Kungelei der Gewerkschaftsbürokratie mit den Herrschenden.

Quellen:
Ulrike Herrmann, Hurra, wir dürfen zahlen, Der Selbstbetrug der Mittelschicht, Westend 2010.
Albrecht von der Lucke, Aus Arm mach Reich: George Orwell an der Regierung; in Gegenblende 18, November/Dezember 2012.
ver.di Bundesvorstand, Bereich Wirtschaftspolitik,  Zahlen zur Vermögensverteilung in Deutschland,  27.09.2012.
Wirtschafspolitik aktuell, Nr. 16 von September 2012 (hg. von ver.di Bundesvorstand, Bereich Wirtschaftspolitik).

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