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Betrieb & Gewerkschaft

Der Mindestlohn und der Untergang des Abendlandes

Von Heinrich Neuhaus | 01.04.2014

Oder: Ist die Erde eine Scheibe?
Je mehr die Verabschiedung eines „gesetzlichen Mindestlohns von 8,50 Euro“ näher rückt, umso lauter und dümmer werden die Parolen der Herrschenden zu diesem Thema. Und umso bereitwilliger greifen die meisten Medien diese Sprüche auf.

Oder: Ist die Erde eine Scheibe?
Je mehr die Verabschiedung eines „gesetzlichen Mindestlohns von 8,50 Euro“ näher rückt, umso lauter und dümmer werden die Parolen der Herrschenden zu diesem Thema. Und umso bereitwilliger greifen die meisten Medien diese Sprüche auf.

Wie immer, wenn es um Lohnfragen geht, droht der Untergang – zumindest von Teilen – des Abendlandes. So ist wegen des Mindestlohns angeblich die Pressefreiheit in Gefahr, junge Menschen werden dadurch vom Beginn einer Ausbildung abgehalten, große Teile der Landwirtschaft stehen vor dem Kollaps und – ganz besonders schlimm – Biergärten können nur noch zeitweise geöffnet werden. Zudem natürlich: Lohnerhöhungen vernichten Arbeitsplätze, und die Erde ist eine Scheibe.

Natürlich steht der Untergang des Abendlandes nicht bevor, und die Biergärten bleiben geöffnet. Vor allem aber und im Ernst: Lohnerhöhungen verbessern die Lage der arbeitenden Klasse im Kapitalismus – und die Einnahmen der gesetzlichen Sozialversicherungen.
Offene Fragen
Im Koalitionsvertrag der GroKo heißt es: „Zum 1. Januar 2015 wird ein flächendeckender gesetzlicher Mindeststundenlohn von 8,50 Euro brutto je Zeitstunde für das ganze Bundesgebiet eingeführt. … Ab 1. Januar 2017 gilt das bundesweite gesetzliche Mindestlohnniveau uneingeschränkt. … Die Höhe des allgemein verbindlichen Mindestlohnniveaus wird […] – erstmals zum 10. Juni 2017 mit Wirkung zum 1. Januar 2018 – von einer Kommission der Tarifpartner überprüft.“

Diese Formulierungen werfen für jeden denkenden Menschen mindestens folgende drei Fragen auf:

1. Warum nur 8,50 Euro Mindestlohn?

Selbst bei einer theoretisch angenommenen Vollzeitbeschäftigung mit einer 38,5-Stundenwoche ergibt ein Stundenlohn von 8,50 Euro rund 1.400,00 Euro monatlich brutto. Das reicht jetzt schon nicht zum Leben, und erst recht nicht im Jahr 2017 oder 2018. Zudem wäre selbst bei einer real kaum vorkommenden ununterbrochenen langjährigen Tätigkeit (35 Jahre) die gesetzliche Rente dann so gering, dass sie durch Transferleistungen aufgestockt werden müsste. Eine massive Verschärfung der Altersarmut wäre dadurch vorprogrammiert. Deshalb ist ein höherer Mindestlohn unabdingbar.

2. Warum soll die Höhe des Mindestlohnniveaus erst 2017 bzw. endgültig 2018 nach der nächsten Bundestagswahl überprüft werden?

Diese Festlegung lässt alle denkbaren Manöver gegen die Umsetzung eines flächendeckenden Mindestlohns zu. Er muss jetzt ohne Wenn und Aber eingeführt werden.

3. Warum sollen Ausnahmeregelungen festgelegt werden?

Bundesarbeitsministerin Nahles (SPD) ist eifrig dabei, immer mehr Ausnahmen vom Mindestlohn in ihren Gesetzesentwurf einzubauen. Würden allein die geringfügig Beschäftigten, RentnerInnen, SchülerInnen, Studierenden und hinzuverdienenden Erwerbslosen vom Mindestlohn ausgenommen, so kommt man laut Gewerkschaftsangaben auf zwei Millionen Personen. Und da sind SaisonarbeiterInnen oder branchenspezifische Ausnahmen wie die 300.000 ZeitungszustellerInnen noch gar nicht mitgerechnet. Die ausgegrenzten Bereiche der arbeitenden Klasse brauchen den einheitlichen Mindestlohn jetzt. Denn, wenn die Lohnuntergrenze schon von Anfang durch zahlreiche Ausnahmen durchlöchert wird, wirkt sie nicht mehr.
Wenig Lohn für Viele?
Der Niedriglohnsektor der Bundesrepublik ist sehr groß. 8,1 Millionen Beschäftigte erhielten 2011 weniger als zwei Drittel des mittleren Stundenlohns, also unter 9,14 Euro brutto. Bei den tariflich Beschäftigten sind es nach einer aktuellen Studie von 2014 immerhin noch zehn Prozent, die weniger als 8,50 Euro brutto erhalten.

Durch die „Reform-Politik“ mit Hartz IV, Agenda 2010 und anderen Maßnahmen ist ein bundesweiter Niedriglohn-Sektor entstanden, in dem die Menschen von dem Lohn ihrer Arbeit nicht mehr leben können. Vielen muss der Staat aushelfen – die Gemeinschaft zahlt, weil Unternehmern ermöglicht wird, Billiglöhne zu zahlen.

Das muss sich ändern. Denn nur ohne den Zwang, prekäre Billigjobs annehmen zu müssen, wird es die reale Durchsetzung eines gesetzlichen Mindestlohnes geben können.
Die große Beschäftigtenbefragung der IG Metall von 2013 hat ein eindeutiges Bild ergeben. 93 Prozent wollen, dass der Niedriglohnsektor und unsichere Beschäftigung zumindest eingrenzt werden.
12,00 Euro mindestens
Diese Fakten sind seit langem bekannt, aber dennoch beharren die meisten Vorstände des DGB und der Einzelgewerkschaften auf der Beschlusslage zum Thema Mindestlohn – nämlich 8,50 Euro – und begrüßen das Vorhaben der GroKo. Lediglich an den Versuchen, Ausnahmeregelungen ins Gesetz einzubauen, gibt es wahrnehmbare Kritik aus diesen Reihen. Die SPD hält – welcher Zufall – ebenfalls 8,50 Euro für ausreichend, die Linke immerhin 10,00 Euro.
Verschiedene ver.di-Gliederungen haben mittlerweile Forderungen nach einem höheren gesetzlichen Stundenlohn erhoben. Der ver.di-Erwerbslosen-Ausschuss Baden-Württemberg fordert 12,00 Euro, der ver.di-Bezirk im „Ländle“ ebenso wie der ver.di-Vorsitzende Bzirske 10,00 Euro gesetzlichen Mindestlohn. Das geht in die richtige Richtung, ist aber nicht ausreichend.

In einem Interview mit dem Neuen Deutschland (vom 18.10.2013) führte Thorsten Schulten, Referent beim Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung folgendes aus: „Es gibt bekannte Berechnungen zum nötigen Einkommen, um nach einem Arbeitsleben auch als Vollzeitbeschäftigter nicht auf Transferleistungen angewiesen sein zu müssen. Dann muss man deutlich über zehn Euro verdienen. In der Europäischen Sozialcharta, die auch Deutschland ratifiziert hat, ist auch das Recht auf ein gerechtes Arbeitsentgelt festgehalten. Wir haben das ausgerechnet und sind auf ein Stundenbrutto von über zwölf Euro gekommen.“

Aber selbst ein gesetzlicher Mindestlohn von 12,00 Euro wird allein nicht ausreichen. Denn seit Jahren wachsen nicht nur die Produktivität und die Profite, sondern gleichzeitig steigen die Lebenshaltungskosten einschließlich der Mieten und der Nebenkosten spürbar. Deshalb muss der Mindestlohn zudem jährlich an die Preissteigerungen angepasst werden.
Gegen soziale Unsicherheit
2012 arbeiteten nur noch rund 60 % im Westen und 48 % im Osten unter dem Schutz eines Flächentarifvertrages. Die Gewerkschaften brauchen deshalb eine aktive Strategie zur Ausweitung der Tarifbindung. Es muss möglich sein, viel leichter als derzeit Tarifverträge für eine Branche als allgemeinverbindlich festsetzen zu können. Zudem ist es erforderlich, der Tarifflucht einen gesetzlichen Riegel vorzuschieben.

Schließlich muss die soziale Unsicherheit konsequent bekämpft werden. Es gilt also, unbefristete Vollzeitarbeitsverträge als allgemeingültige rechtliche Norm durchzusetzen. Ohne diese wird ein wirksamer gesetzlicher Mindestlohn, der für ein menschenwürdiges Leben ausreicht, ein frommer Wunsch bleiben.
Und niemals vergessen: Lohnfragen sind Machtfragen! Auch beim Mindestlohn.

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