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Länder

Der erste Georgienkrieg

Von B.B. | 01.09.2008

Im Georgien trifft eine gescheiterte US-Strategie auf die neuen Großmachtambitionen Russlands.

Im Georgien trifft eine gescheiterte US-Strategie auf die neuen Großmachtambitionen Russlands.

Die jüngste Geschichte kennt vier Kriege im Kaukasus: Den Krieg Armeniens, das von Russland unterstützt wurde, mit Aserbaidschan 1991-94, die Kriege Russlands um Tschetschenien 1994-96 und 1999-2002 und nun den Krieg Russlands mit Georgien. Alle vier Kriege gingen um die politische Vorherrschaft in der Region und um die Kontrolle des Öls und seiner Transportwege. Auch die Nationalitätenfrage spielte naturgemäß eine Rolle.
Fehlkalkulation um Auflösung Russlands
Nach dem politischen und wirtschaftlichen Zusammenbruch der Sowjetunion versuchten die USA auch den Zerfall des kapitalistischen Russlands zu beschleunigen. Der Koloss mit dem großen militärischen Potenzial stand auf tönernen wirtschaftlichen Füßen. Laut dem US-Politiker Brzezinski sollten die USA die Vorherrschaft über Eurasien, das bis dahin die Sowjetunion bzw. Russland beherrschte, anstreben, um sich als einzige Weltmacht zu etablieren. Brzezinskis „Pluralismus“ wollte die untere Hälfte des europäischen und asiatischen Russlands verselbständigen, wo z. B. in Kasachstan, Turkmenistan und Usbekistan die großen Öl- und Gasvorkommen liegen. So entwickelten die USA die „Seidenstraßenstrategie“, die vom Balkan bis nach China neue Staatsgebilde in Abhängigkeit von den USA schaffen wollte. Dafür nützt auch die EU- und NATO-Ost­erweiterung.

Obwohl die „Seidenstraßenstrategie“ nach wie vor die US-Politik bestimmt, kann sie aus drei Gründen als gescheitert angesehen werden, die „Russland“, „China“ und „EU“ lauten. Die Explosion der Rohstoffpreise stärkte die wirtschaftliche Basis Russlands. Wie das Beispiel Georgien zeigt, ist die reanimierte Großmacht wieder in der Lage, offensive Militäroperationen durchzuführen. Zudem unterschätzte die US-Strategie die EU als imperialistische Konkurrentin und das Aufkommen Chinas. Die Hegemonie der USA wurde nicht gestärkt, sondern ist zunehmend in Frage gestellt.

Aber selbst die Diskussion um das Erreichen des weltweiten Ölfördermaximums schwächte die aggressive US-Strategie nicht ab, sondern bestärkte sie. 2007 ging die Ölproduktion weltweit um 0,2 % zurück, während sich der Weltölverbrauch um 1,1 % erhöhte. Mit dem Maximum wäre eine steigende Nachfrage nicht mehr durch höhere Förderung auszugleichen, was einen weiteren Anstieg des Ölpreises zur Folge hätte, der vor allem die USA treffen würde.
Blick auf die Röhre
Wie Klassen bei abnehmendem Verteilungsspielraum um so heftiger gegeneinander kämpfen, tun es die Großmächte auch. Der Konflikt der Interessengruppen USA-Georgien-Türkei-Aserbaidschan und Russland-Südossetien-Abchasiens-Armenien-Iran ist an den Pipelines ablesbar, die die Region durchziehen (s. Karte). Der Bau der wichtigsten Pipeline Baku-Tiflis-Ceyhan (BTC) durch Aserbaidschan, Georgien und die Türkei wurde von den USA seit 1998 gefördert, um beim Transport des Erdöls aus Aserbaidschan Russland auszuschalten. Die BTC wurde mit 2,5 Mrd. Euro u. a. von der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung finanziert und pumpt täglich bis zu einer Million Barrel Rohöl von Baku nach Ceyhan. Parallel dazu verläuft die Gaspipeline Baku-Erzurum. Beide gehören der BP. Das angestrebte Militärbündnis Türkei, Aserbaidschan und Georgien richtet sich u. a. gegen Kurdistan; Georgien will in die NATO.
Unter der Deckung Olympias
Eigentlich dürften die USA kein Interesse an einem Krieg Georgien – Russland haben, denn nur im Frieden läuft die Pipeline Baku-Tiflis-Ceyhan ungestört. Doch mit der „Seidenstraßenstrategie“ im Rücken wurde die georgische Regierung von ihren US-BeraterInnen in die Besetzung Südossetiens gejagt. Sie rechneten nicht mit einer militärischen Reaktion Russlands, das sich 2004 bei der Einschränkung der Autonomie Adschariens und 2006 beim Einmarsch georgischer Truppen in die abchasische Kodori-Schlucht mit Diplomatie, Waffen- und Hilfslieferungen begnügt hatte. Doch stellte sich der günstige Zeitpunkt der Olympischen Spiele zur Rückeroberung Südossetiens für die Regierung Saakaschwili, die noch im November 2007 eine Demonstration in Tiflis gegen Verarmung und Korruption niederknüppeln ließ, als viel passender für Russland heraus, um Georgien auf Dauer Südossetien und Abchasien zu entreißen.
Sprengsatz Nationalismus
Um entsprechend der US-Strategie von Russland unabhängige Staaten zu schaffen, muss in diesen eine Nationalität die Vorherrschaft erlangen. Das führt zur Unterdrück­ung nationaler Minderheiten und zu ethischen Säuberungen, wie auf dem Balkan vorexerziert. Die nationalistisch-chauvinistische Politik ist im Kaukasus mit seinen über 40 Nationalitäten doppelt und dreifach verbrecherisch. Besonders die dort lebenden kleinen und kleinsten Nationalitäten wie die Laken mit 246, die Lezgen mit 3650 oder die Uden mit 500 Menschen werden in Georgien von Krieg und Vertreibung bedroht.

Ein Krieg muss Georgien völlig auseinandersprengen, leben dort neben 2,5 Millionen „GeorgierInnen“ noch 500000 sprachlich verwandte MingrelInnen und 30000 LasInnen, auch 448000 ArmenierInnen, 38000 GriechInnen, 120000 PontierInnen, 101000 AbchasInnen und 372000 RussInnen; sowie 52000 UkrainerInnen, 308000 Aserbaidschanerinnen usw. Saakaschwilis eigentliches „Staatsvolk“ umfasst gerade mal 55% der in Georgien lebenden Bevölkerung.
Die BRD sprengt mit
Auf die Karte des georgischen Nationalismus setzt auch Deutschland, der „Koordinator der Freundesgruppe des Generalsekretärs der Vereinten Nationen für Georgien“. Ende April 2008 verfolgte SPD-Außenminister Steinmeier „mit Sorge … die Moskauer Kontaktaufnahme zu den abtrünnigen georgischen Provinzen Abchasien und Südossetien“ sowie den Abschuss einer georgischen Spionage-Drohne über Abchasien.

Im Zeichen deutscher Realpolitik hielt sich der parlamentarische Staatssekretär im BRD-Verteidigungsministerium Christian Schmidt, begleitet von einer Gruppe von Militärexperten, vom 16. bis 18. Juli 2006 in Tiflis auf, um mit Staatspräsident Saakaschwili, Außenminister Beschuaschwili, dem Parlamentsvorsitzenden Burschanadse, dem stv. Verteidigungsminister Kudava und dem Sekretär des Nationalen Sicherheitsrates Kemularia zu verhandeln. Schmidt besuchte das Nationale Ausbildungszentrum mit der georgischen Unteroffizierschule in Krtsanisi, die mit deutscher Unterstützung gegründet, ausgestattet und militärisch beraten wurde. Überwiegend in Deutschland ausgebildete georgische Offiziere bildeten dort 49 Unteroffizieranwärter zu Gruppenführern aus. „Der Besuch wird die engen deutsch-georgischen Beziehungen im Bereich Sicherheitspolitik weiter festigen“ (au
s einer Pressemitteilung der Deutschen Botschaft in Tiflis vom 17.07.2006). Hochrangige Bundeswehroffiziere besuchten vom 25. bis 28.9.2007 das georgische Verteidigungsministerium, was georgische Offiziere 2008 erwidern wollen. Im September 2007 war auch eine 25‑köpfige Unternehmerdelegation in Tiflis eingefallen, dem wenige Tage zuvor die Gründung der Deutschen Wirtschaftsvereinigung in Georgien unter Führung der Lufthansa und der ProCredit Bank vorausgegangen war. Investitionen müssen militärisch abgesichert werden.
Internationalismus und Stalinismus
Vor hundert Jahren war Georgien sozialdemokratisch. Dort hatten auch nach der Oktoberrevolution die Menschewiki die Mehrheit der ArbeiterInnen und Bauernschaft hinter sich. Die alte internationalistische Sozialdemokratie organisierte ihren bunt gemischten Anhang über alle nationalen Grenzen hinweg in einer einzigen Partei, veröffentlichte aber Publikationen in allen Sprachen und verteidigte die Rechte der nationalen Minderheiten. Die Oktoberrevolution erkannte auch der kleinsten Nationalität das Recht auf Selbstbestimmung bis hin zur Lostrennung zu, wobei die KommunistInnen selbst oft nur die Autonomie für sinnvoll hielten. Während die Lostrennung im Fall Finnlands und Polens auch anerkannt wurde, besetzte die Rote Armee 1921 Georgien und stürzte die menschewistische Regierung. Gegen Stalins Grobheiten in der nationalen Frage in Georgien wollte Lenin eine „Bombe“ platzen lassen, was durch seinen Tod verhindert wurde.

Ende der zwanziger Jahre ersetzte dann der Stalinismus das Absterben der Nation im Übergang zum Sozialismus durch die Entdeckung der „sozialistischen“ Nation und des „Sowjetpatriotismus“. 1936 wurde die Transkaukasische Sozialistische Föderale Sowjetrepublik in Georgien, Armenien und Aserbaidschan aufgespalten. Während der großen Säuberungen 1937 wurden dort nicht nur die bedeutendsten Intellektuellen der verschiedensten Nationalitäten ermordet, sondern auch fast alle führenden kommunistischen FunktionärInnen Armeniens, Aserbaidschans und der Autonomen Republiken der OssetInnen und TschetschenInnen. In Georgien, der Heimat Stalins, wurden von 644 Delegierten des 10. Parteitags im Mai 1937 425 Delegierte (= 66%) verhaftet, verbannt oder erschossen. Seit Stalins Zeiten setzt die Nationalitätenpolitik der Sowjetunion auf Russifizierung. Heute macht Russland dort weiter, tarnt aber seine Großmachtpolitik mit der Verteidigung der Rechte der Minderheiten.

Für MarxistInnen gibt es kein Lineal, mit dem im Kaukasus eine einheitliche Taktik in der Nationalitätenfrage gezeichnet werden kann. Die Einheit der ArbeiterInnenklasse(n) über alle Nationalitäten hinweg kann nur hergestellt werden, wenn die Taktik unterschiedlich ist: Sozialist­Innen in Russland müssen gegen dessen Intervention auftreten, sonst würden sie die russische imperialistische Großmachtpolitik unterstützen.

SozialistInnen in Georgien müssten die abenteuerliche Kriegspolitik Saakaschwilis in den Mittelpunkt ihrer Kritik rücken, sonst stünden sie aufseiten des georgischen Nationalismus. Und ossetische und abchasische Linke müssten die Solidarität mit ihren KlassengenossInnen in Georgien betonen, um nicht für ihre bürgerlichen Eliten Partei zu ergreifen. Eine Transkaukasische Räterepublik würde auf der völligen Gleichberechtigung aller Nationalitäten basieren.
Die Konkurrenz USA – EU
Der Krieg in Georgien verdeckt den Konflikt zwischen den imperialistischen Blöcken USA und EU. Die Vereinigten Staaten wollen die Entwicklung der EU zu einer politischen Weltmacht bremsen: Die US-Raketenstationierung in Polen, die militärisch Russland bedroht, richtet sich auch gegen einen souveränen, supranationalen EU-Staat. Ebenso spielt Bush die georgische Karte gegen die Beziehungen EU – Russland und EU – Türkei aus.

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