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Länder

Bürgerrecht statt Burgerverkauf

Von Harry Tutle | 01.06.2006

Am 1. Mai streikten in den USA mehrere Millionen MigrantInnen. Sie fordern eine Amnestie für die zwölf Millionen Illegalisierten im Land. In diesem Jahr nutzten die Illegalisierten den 1. Mai, der in den USA kein gesetzlicher Feiertag ist, für eine Demonstration der Stärke. Sie streikten, boykottierten die Schulen und gingen auf die Straße.

Am 1. Mai streikten in den USA mehrere Millionen MigrantInnen. Sie fordern eine Amnestie für die zwölf Millionen Illegalisierten im Land.

Kaum mehr als 1000 DemonstrantInnen wagten es, an der Kundgebung auf dem Haymarket Square in Chicago teilzunehmen. Bei der Niederschlagung eines Streiks hatte die Polizei am Tag zuvor vier Arbeiter erschossen, und weitere Angriffe waren zu erwarten. Als die Demonstranten schon begonnen hatten, den Platz zu verlassen, wurde eine Bombe geworfen. Mehrere Demonstranten, aber auch einige Polizisten starben. Obwohl ungeklärt ist, wer die Bombe warf, wurden vier Anarchisten als „Verschwörer“ zum Tode verurteilt und hingerichtet.

Die Presse machte illegale Migranten für die Gewalt verantwortlich. Die „feindlichen Kräfte“, so schrieb damals die Chicago Times, seien „verlumpte Halsabschneider vom Rhein, der Donau und der Elbe“. Viele der anarchistischen Aktivisten waren aus Deutschland Zugewanderte.
Über den Rio Grande
Die internationalen Proteste gegen das Haymarket-Massaker im Jahr 1886 und die anschließenden Justizmorde führten dazu, dass der 1. Mai zum Kampftag der ArbeiterInnenbewegung erklärt wurde. Auch 110 Jahre später ist der 8-Stunden-Tag, für den die Arbeiter in Chicago damals kämpften, noch keine Selbstverständlichkeit. Insbesondere illegalisierte Migranten sind gezwungen, länger zu arbeiten oder mehrere Jobs anzunehmen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Und noch immer werden „verlumpte Halsabschneider“ für Gewalt verantwortlich gemacht, allerdings ortet man sie derzeit eher unter den Latinos, die illegal den Rio Grande überqueren, um in die USA zu gelangen.

In diesem Jahr nutzten die Illegalisierten den 1. Mai, der in den USA kein gesetzlicher Feiertag ist, für eine Demonstration der Stärke. Sie streikten, boykottierten die Schulen und gingen auf die Straße. Selbst die Polizei zählte 400 000 DemonstrantInnen in Chikago und 600 000 in Los Angeles. Auf zahlreichen Baustellen ruhte die Arbeit, Wal Mart und andere Supermarktketten konnten viele Kassen nicht besetzen, und unzählige Hamburger erkalteten, weil es niemanden gab, der sie über den Tresen gereicht hätte.

Die Zahl der Illegalisierten in den USA wird auf zwölf Millionen geschätzt, sie arbeiten überwiegend in den Wirtschaftsbereichen, in denen die niedrigsten Löhne gezahlt werden. Im Kongress wird derzeit über ein neues Migrationsgesetz diskutiert, und nach den Massendemonstrationen im März und April war der Protest am 1. Mai ein weiterer Versuch, eine Amnestie zu erkämpfen. Unterstützt wird diese Forderung nicht nur von einem großen Teil der Gewerkschaftsbewegung, den Organisationen der Linken und der Bürgerrechtsbewegung. Auch die meisten Unternehmerverbände und George W. Bush werben für eine liberale Migrationspolitik. „Es ist weder weise noch realistisch, Millionen von Menschen, von denen viele tiefe Wurzeln in den Vereinigten Staaten haben, zusammenzutreiben und über die Grenze zu schicken“, erklärte der Präsident.

Viele Wirtschaftsbereiche sind abhängig von der Arbeit der Illegalisierten, die beispielsweise in der Textilindustrie 80% der Beschäftigten stellen. Die Interessenverbände wünschen den Status ihrer Beschäftigten zu legalisieren, und sie wollen einen weiteren Zustrom an Billigarbeitskräften sicherstellen. Diesem Zweck dient das von Bush propagierte Gastarbeiterprogramm, das die Ausstellung befristeter Arbeitsgenehmigungen vorsieht.
A wie Amnestie
Bush gehört jenem Flügel der Republikanischen Partei an, der einen modernen multikonfessionellen und multiethnischen Konservatismus befürwortet. Er propagiert die heilige Dreieinigkeit von Arbeit, Familie und Vaterland in einer auch konservative Katholiken, Muslime, Buddhisten, Hindus und Juden integrierenden Weise. Das aber verärgert die rassistischen Wasps (weiße angelsächsische Protestanten), die weiterhin zur republikanischen Wählerbasis gehören und großen Einfluss in der Partei haben. „Alle, die für eine Amnestie stimmen, sollen mit einem scharlachroten A gebrandmarkt werden“, forderte etwa der Republikaner Steve King im Repräsentantenhaus.

Bush hat der Parteirechten weit reichende Zugeständnisse gemacht. Die Amnestie soll nicht, wie ursprünglich vorgesehen, bedingungslos gewährt, sondern von der Zahlung einer Geldbuße und nachträglich erhobener Steuern abhängig gemacht werden. Zudem soll die Militarisierung der Südgrenze der USA durch die Entsendung von 6000 Nationalgardisten und eine Verstärkung der elektronischen Überwachung vorangetrieben werden.
Die MigrantInnen wiederum, deren Demonstrationen die größte Mobilisierung seit dem Vietnamkrieg waren, haben deutlich gemacht, dass die Regierung ihre Interessen nicht ungestraft übergehen kann. Die Proteste der Illegalisierten sind nicht explizit links, vielen geht es um die Teilhabe am „amerikanischen Traum“. „Ich werde am Montag nicht zur Arbeit gehen“, kündigte der mexikanische Bauarbeiter Leonardo dem Reporter des Miami Herald an. „Für mich ist es wie für Patrick Henry: Gebt mir Freiheit oder den Tod.“ Henry war ein führender Kämpfer des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges Ende des 18. Jahrhunderts.

Amnestieregelungen für Illegalisierte gab es in der jüngeren US-Geschichte etwa alle zehn Jahre, sowohl unter dem Republikaner Ronald Reagan 1986 als auch unter dem Demokraten Bill Clinton 1996. Neu ist jedoch, dass Millionen von MigrantInnen auf der Straße und in den Betrieben für ihre Rechte kämpfen. Wenn diese Bewegung erfolgreich ist, wird sich nicht nur die Situation der zwölf Millionen Illegalisierten und ihrer Familien deutlich verbessern. MigrantInnen mit einem gesicherten Status sind auch eher bereit und in der Lage, sich gewerkschaftlich zu organisieren.
Huelga General
In den vergangenen 50 Jahren ist der Anteil der gewerkschaftlich Organisierten im privaten Sektor von 35 auf unter 10% gefallen. Die Gewerkschaftsbewegung konzentriert sich daher auf die Gewinnung neuer Mitglieder, insbesondere in Bereichen, in denen die Unternehmer bislang jede Organisierung unterbinden konnten. Häufig sind dies Branchen, in denen viele Illegalisierte beschäftigt sind.

Selbst die bürokratische Führung des größten US-Gewerkschaftsverbandes AFL-CIO hat sich vor sechs Jahren dazu durchgerungen, die Illegalisierten nicht mehr als unerwünschte Konkurrenz, sondern als Verbündete zu sehen, deren Kämpfe unterstützt werden müssen. Viele lateinamerikanische MigrantInnen haben Kampferfahrungen aus den sozialen Bewegungen mit in die USA gebracht. Bei v
ielen Streiks, unter anderem bei Gebäudereinigungsfirmen und im Einzelhandel Kaliforniens, haben sie eine wichtige Rolle gespielt. Im politischen Establishment hat der Streik am 1. Mai den Unwillen vieler Befürworter einer Migrationsreform erregt, sie bezeichneten ihn meist als „kontraproduktiv“. Denn die Aktionen deuten darauf hin, dass viele MigrantInnen sich nicht mit dem ihnen zugesprochenen Platz als BilligarbeiterInnen zufrieden geben werden. Das Wort Huelga General, spanisch für Generalstreik, wird Corporate America, die Geschäftswelt der USA, in Zukunft vielleicht noch öfter zu hören bekommen.

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