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Betrieb & Gewerkschaft

Bonbon für Tarifunterschreitung

Von Lisa Lang | 01.12.2004

Der Mitgliederverlust der Gewerkschaften ist dramatisch: 1991 zählte der DGB 11,8 Millionen Mitglieder. Ende 2003 waren es nur noch 7,36 Millionen, obwohl 2001 die DAG hinzukam. Monatlich verlieren die Gewerkschaften unterm Strich 25 – 30 000 Mitglieder. Der Organisationsgrad in den Betrieben liegt heute im Bundesdurchschnitt unter 24 Prozent.

Der Mitgliederverlust der Gewerkschaften ist dramatisch: 1991 zählte der DGB 11,8 Millionen Mitglieder. Ende 2003 waren es nur noch 7,36 Millionen, obwohl 2001 die DAG hinzukam. Monatlich verlieren die Gewerkschaften unterm Strich 25 – 30 000 Mitglieder. Der Organisationsgrad in den Betrieben liegt heute im Bundesdurchschnitt unter 24 Prozent.

Den Austritten versucht die Gewerkschaftsführung mit typisch bürokratischen Methoden zu begegnen. Statt die Organisation zur Vorkämpferin in Sachen Arbeitszeitverkürzung oder bei den Protesten gegen den Sozialabbau zu machen, setzt sie auf Versicherungsdenken. Gerade im Jahr 2004 hat man sich noch weiter vom Konzept einer kollektiv handelnden und kämpfenden Organisation abgewandt.
Innerhalb der IG Metall hat die Bezirksleitung NRW den Vogel abgeschossen. Dort wurden in den vergangen Monaten 15 Firmenzusatzverträge abgeschlossen, die eine Unterschreitung des Flächentarifvertrages besiegeln. Dabei geht es je nach Fall um unbezahlte Mehrarbeit, Streichung des tariflichen Weihnachtsgeldes, Kürzung des Urlaubsgeldes und dergleichen mehr. Beispiel Bühler-Binder: Dort arbeiten die KollegInnen jetzt zwei Jahre lang 2,5 Stunden in der Woche länger. Dies ist eine kostenlose Verlängerung der Arbeitszeit um 7,14%. Wenn man diese Durchlöcherung des Tarifvertrages im Fall Bühler-Binder als de facto Senkung des Stundenlohns begreift, dann bedeutet dies, dass der/die durchschnittliche FacharbeiterIn damit ca. 1700 Euro/Jahr verliert.

Und das Bonbon?

Die IGM-Bürokraten kommen sich besonders pfiffig vor, wenn sie zum Trost den Gewerkschaftsmitgliedern einen Bonus von 100 Euro zukommen lassen können. Sicherlich ist es richtig, was von Gewerkschaftsseite aus seit eh und je über die nicht organisierten KollegInnen gesagt wird: Sie sind Trittbrettfahrer, denn sie nehmen – ganz selbstverständlich – die Leistungen der von den Gewerkschaften durchgesetzten Tarifabschlüsse entgegen, wollen aber nichts zum Erhalt der Gewerkschaften beitragen. Sie bilden bei Arbeitskämpfen in aller Regel die Nachhut, vor allem , wenn sie länger dauern.
Aber die Frage ist doch: Wie gewinnt man diese KollegInnen für die Gewerkschaft? Und: Welche Gewerkschaft wollen wir? Wollen wir nur einen Versicherungsverein, der dafür sorgt, dass Rückschritte mit einem Bonbon versüßt werden?
Wenn Gewerkschaften zukünftig nur noch da sind – und nur noch dazu gebraucht werden – um tarifliche Standards zu untergraben, dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis man von Kapitalseite aus noch nicht mal mehr das Bonbon geben wird. Wenn die Kolleg/innen darauf eingestimmt werden, dass die Grundfunktion der Gewerkschaft aufgegeben wird – nämlich sich gerade dem betriebswirtschaftlich argumentierenden Druck entgegenzustellen, um damit die Spirale nach unten zu stoppen – dann muss sich jeder Kollege und jede Kollegin fragen: Welchen Sinn hat eigentlich die Gewerkschaft?

Hubers ganzer Stolz

Die Linie in NRW ist kein unkontrolliertes Ausscheren aus der Politik des IGM-Vorstandes: Die designierten Bezirksleiter von Frankfurt, Armin Schild, und Jutta Blankau für den Bezirk Küste haben in ersten Stellungnahmen deutlich gemacht, dass sie diesen Weg richtig finden. Am verheerendsten allerdings sind die Signale, die der zweite Vorsitzende, Bertold Huber, zuständig für Tarifpolitik, in verschiedenen Interviews ausgesendet hat. Im Interview der Frankfurter Rundschau vom 11.11.04 erläutert er ganz stolz, dass man der IG Metall doch ehrlicherweise gar nicht den Vorwurf machen könne, sie sei unflexibel. Im letzten Jahr habe man doch schon 250 Firmentarifverträge für „betriebliche Lösungen“ abgeschlossen und in den ersten 10 Monaten des Jahres 2004 seien es schon über 300! „Wir kümmern uns seit langem um betriebliche Belange“!. Und wo bleiben die Belange der KollegInnen? Wer die Flexibilisierung als Erfolgsmodell preist hat vor allem eines im Sinn: betriebswirtschaftliche Lösungen zu finden, die die Gegenseite beruhigen. Das Problem: Damit wird aktiv an der Schraube nach unten gedreht, die Auswirkungen der Konkurrenz aber keineswegs ausgeschaltet.

Gefährliche Konsequenz

Wenn die IG Metall Abweichungen vom Tarifvertrag akzeptiert und dafür einen Bonus aushandelt, den sie dann an ihre Mitglieder auszahlt, dann hat das aber auch noch eine andere, ganz gefährliche Konsequenz: Bewusst oder unbewusst haben dann hauptamtliche Gewerkschaftsfunktionäre ein Interesse daran, möglichst viele solcher Abweichungen zu beschließen, um ausreichend Mittel in die Hand zu bekommen, KollegInnen mit Geld in die Gewerkschaft zu locken. So jedenfalls wirkt sich die damit eröffnete Logik auf solche Hauptamtliche aus, deren oberste Sorge nicht die Verteidigung von Klasseninteressen ist, sondern die scheinbare Funktionsfähigkeit des gewerkschaftlichen Apparats (genauer: die Bezahlung ihrer Bürokratenposten).
Natürlich ist diese bürokratische Herangehensweise sehr kurzsichtig und trügerisch. Denn das, was sich dadurch – kurzfristig – an wirksamer Beitragseinnahme ergibt, wird auf der anderen Seite hundertfach untergraben durch die Zerstörung der eigentlichen Existenzberechtigung der Gewerkschaften.

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