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Innenpolitik

Bolkestein-Richtlinie: Freiheit à la Merkel…

Von Thadeus Pato | 01.01.2006

Als die frischgekürte Bundeskanzlerin neulich Willy Brandt paraphrasierte und von „mehr Freiheit wagen“ schwadronierte, wusste der geschichtsbewußte Bundesbürger, was ihn erwartet. Brandt hatte nach seiner Ankündigung, „mehr Demokratie wagen“ zu wollen, die Berufsverbote erlassen – seine Version von mehr Demokratie. Unter Merkels Ägide kommt, wenn niemand die herrschenden Parteien in der EU daran hindert, die Dienstleistungsrichtlinie – Freiheit, die die Merkels meinen….

Als die frischgekürte Bundeskanzlerin neulich Willy Brandt paraphrasierte und von „mehr Freiheit wagen“ schwadronierte, wusste der geschichtsbewußte Bundesbürger, was ihn erwartet. Brandt hatte nach seiner Ankündigung, „mehr Demokratie wagen“ zu wollen, die Berufsverbote erlassen – seine Version von mehr Demokratie. Unter Merkels Ägide kommt, wenn niemand die herrschenden Parteien in der EU daran hindert, die Dienstleistungsrichtlinie – Freiheit, die die Merkels meinen….

Seinetwegen heißt die – schon einmal im Europaparlament (EP) vorgelegte – Vorlage, die im Januar im EP diskutiert werden soll, auch Bolkesteinrichtlinie. Der smarte Frits Bolkestein war von 1999 bis 2004 EU-Kommissar und unter dem damaligen Kommissionspräsidenten Prodi für Binnenmarkt, Steuern und Zölle zuständig. Einer seiner letzten Coups kurz vor der Demission war die Vorlage einer Europäischen Dienstleistungsrichtlinie – und wer wissen will, welch (un)geistes Kind dieses Papier ist, der sollte sich einfach einmal mit der Biographie ihres Erfinders befassen:

Bolkestein, Jahrgang 1933, geboren in Amsterdam, studierte Mathematik, Physik, Philosophie und Griechisch, u.a. in den USA, und arbeitete dann von 1960 bis 1976 für den Multi Shell als Manager. Dann ging er in die Politik. Von 1978 bis 1999 saß er für die VVD (Volkspartei für Freiheit und Demokratie) im niederländischen Parlament, eine Partei, die als wirtschaftsliberal und wichtigste Kraft der sogenannten gemäßigten Rechten gilt – unter ihrer Mitgliedschaft sind viele UnternehmerInnen. Von 1982 – 86 war er Außenminister und 1988 – 89 Verteidigungsminister, von 1990 – 98 Fraktionsvorsitzender der VVD, von 1996 – 99 Präsident der liberalen Internationale.
Und so ist die Richtlinie denn auch ausgefallen.
Um was geht es?
Die knapp neunzig Seiten haben es in sich. Denn es geht um nicht mehr und nicht weniger als darum, das, was (illegal) zunehmend geschieht, nämlich, dass BürgerInnen anderer EU-Staaten zu Dumpingpreisen weit unterhalb der Tarife in reicheren Mitgliedsländern der EU arbeiten, nicht etwa zu bekämpfen, sondern endgültig zu legalisieren. Das Zauberwort heißt „Herkunftslandprinzip“. Bereits in der der eigentlichen Richtlinie vorangestellten Zusammenfassung heißt es, dass es „Ziel dieses Richtlinienvorschlags“ ist, „einen Rechtsrahmen zu schaffen, durch den die Hindernisse für die Niederlassung von Dienstleistungserbringern und den freien Dienstleistungsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten beseitigt werden.“ Dagegen wäre ja erst einmal nichts einzuwenden, möchte man sagen, aber in der nachfolgenden Begründung wird die Katze aus dem Sack gelassen: Der Entwurf stützt sich an erster Stelle auf „das Herkunftslandprinzip, nach dem der Dienstleistungserbringer nur den Rechtsvorschriften des Landes unterliegt, in dem er niedergelassen ist und wonach die Mitgliedsstaaten die Erbringung von Dienstleistungen durch in einem anderen Mitgliedsstaat niedergelassene Dienstleister nicht beschränken dürfen“. Natürlich wird darüber kein weiteres Wort verloren. Im Gegenteil, es wird beteuert, dass dieses Verfahren den „Empfängern von Dienstleistungen“, also den VerbraucherInnen nutze, weil ihnen bisher „eine breite Palette von Dienstleistungen zu wettbewerbsfähigen Preisen […] vorenthalten wird“. Dass diese „Empfänger“ von dann billigeren Dienstleistungen die gleichen sind, die aufgrund der durch die Richtlinie vorprogrammierten Lohndumpingspirale kaum mehr das Geld haben werden, diese Leistungen dann auch bezahlen zu können, darüber schweigt des Sängers Frits Höflichkeit.

Im Klartext heißt das, dass beispielsweise lettische, portugiesische oder slowakische Lohn- und Sozialstandards für Beschäftigte gelten, die in der BRD für einen Dienstleistungsbetrieb aus dem jeweiligen Land arbeiten – legales Lohn- und Sozialdumping also. Und es wird auch eine Liste präsentiert, welche Bereiche konkret unter die Richtlinie fallen: „Unternehmensberatung, Zertifizierungs- und Prüfungs- oder Wartungstätigkeiten, die Unterhaltung und die Bewachung von Büroräumen, Werbung, Personalagenturen, einschließlich Zeitarbeitsvermittlungen, die Dienste von Handelsvertretern, Rechts- und Steuerberatung, Dienstleistungen des Immobilienwesens, wie die Tätigkeit der Immobilienmakler, Dienstleistungen des Baugewerbes und der Architekten, Handel, die Veranstaltung von Messen, die Vermietung von Kraftfahrzeugen, Sicherheitsdienste, Dienstleistungen der Fremdenverkehrsbranche, einschließlich der Dienste von Reisebüros und Fremdenführern, audiovisuelle Dienste, Sportzentren und Freizeitparks, Dienstleistungen im Freizeitbereich, Gesundheitsdienstleistungen und häusliche Dienste, wie die Pflege älterer Menschen.“
Ein Gesetz für wen?
Wenn man wissen will, ob die Richtlinie tatsächlich wie beteuert zum Wohle und Nutzen der EU-BürgerInnen konzipiert wurde, muss man nur einmal überprüfen, wie oft von letzteren in ihr die Rede ist. Zunächst einmal geht es im eigentlichen Gesetzestext, der knapp 40 Seiten umfasst, ebenso wie in der fast genau so langen vorgeschalteten Begründung, ausschließlich um die ach so in ihrer Freiheit eingeschränkten UnternehmerInnen: „Vereinfachung der Verfahren“, „Einheitliche Ansprechpartner“, „Recht auf Information“, „Elektronische Verfahrensabwicklung“, ein eigener Absatz zu „unzulässigen(n) Anforderungen“, ein Kapitel zum „freien Dienstleistungsverkehr“, in dem das Herkunftslandprinzip festgeschrieben wird, und schließlich das Schlüsselkapitel zur „Entsendung von Arbeitnehmern“, in dem von Lohn- und Sozialstandards ebenso wie im Rest des Textes keinerlei Rede ist. Sehr wohl wird aber davon gesprochen, dass der sog. Entsendestaat (das ist der, in den die Beschäftigten entsandt werden) eine ganze Reihe von Dingen nicht tun darf, zum Beispiel dem Unternehmen „die Pflicht (aufzuerlegen), auf seinem Hoheitsgebiet oder unter den dort geltenden Bedingungen Sozialversicherungsunterlagen vorzuhalten oder aufzubewahren.“

Freiheit für die Unternehmen also, Lohndrückerei und Sozialabbau zu betreiben – das ist die Freiheit, die sie meinen. Damit befassen sich 80% der Richtlinie. Neben einem genauen Zeitplan für die schrittweise Umsetzung und einer Kostenaufstellung gibt es dann allerdings auch noch zwei Abschnitte zur „Qualitätssicherung“ und zur „Kontrolle“. Bei letzterer hat man der Einfachheit halber folgendes festgelegt: „Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die in ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgesehenen Befugnisse zur Überwachun
g und Kontrolle des Dienstleistungserbringers hinsichtlich der betroffenen Tätigkeiten auch in dem Fall ausgeübt werden, wenn die Dienstleistung in einem anderen Mitgliedstaat erbracht wird.“ Kurz gesagt: Lettland hat zu kontrollieren, dass die in der BRD für eine lettische Firma Tätigen nach (lettischem) Recht und Gesetz behandelt werden – nicht die Behörden der BRD. Und was die Qualität angeht, so hat man ein frappierend einfaches Verfahren gewählt: „Die Mitgliedstaaten ergreifen in Zusammenarbeit mit der Kommission begleitende Maßnahmen, um die Dienstleistungserbringer zu ermutigen, freiwillig die Qualität der Dienstleistungen zu sichern.“ Auch das ist die Freiheit, die sie meinen: Wer seine Qualität zertifizieren lassen will, kann es machen (und wird dabei, das wird betont, „unterstützt“), wer seinen Kunden lieber Schrott andreht, kann es auch bleiben lassen, keinerlei Vorschrift zwingt ihn dazu, bestimmte Standards nachzuweisen – wir sind so frei. Und für das bisschen Kontrolle, was vorgesehen ist (s.o.), ist auch nicht das Entsendeland, sondern das Herkunftsland zuständig – und das ist unter Umständen weit weg.
Und wer steckt dahinter?
Es gibt eine in Fachkreisen bekannte, für die breite Öffentlichkeit allerdings eher im Verborgenen wirkende Vereinigung, die Mont Pèlerin Society. Gegründet 1947 von Friedrich August von Hayek, stellt sie seither die international bedeutendste Lobbyvereinigung für Wirtschaftsliberalismus dar. Mitglieder waren/sind unter anderen Ludwig Erhard, Otto von Habsburg, eine Reihe von Wirtschaftsnobelpreisträgern (darunter der marktradikale Milton Friedman, dessen Chicago-Boys im Chile der Militärdiktatur die Wirtschaft umkrempelten und unter Pinochet fast alle Wirtschaftsminister stellten) – und eben auch unser Frits Bolkestein. Diese Gesellschaft besteht aus Überzeugungstätern, deren erklärte Absicht es von Beginn an war, die Staaten der Welt für einen „neuen Liberalismus“ zu gewinnen. Natürlich war auch Carl Popper mit von der Partie und die heutige Präsidentin ist Victoria Curzon-Price, eine schweizer Ökonomin, die gern auch schon einmal für die deutsche FDP in die Bütt steigt.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Natürlich handelt es sich hier nicht um eine Verschwörerbande, sondern schlicht um ein Instrument für die ideologische Verbrämung dessen – natürlich als „wissenschaftlich“ präsentiert – was die inhärente Logik des geltenden Wirtschaftssystems so mit den Lösungen für die Krisen, die sie hervorbringt, an realen Grausamkeiten hervorbringt.
Gegenwehr ist Pflicht
Wenn die Dienstleistungsrichtlinie, eine der Hauptkomponenten des sogenannten Lissabon-Prozesses, der den neoliberalen Umbau der EU beschreibt, durchkommt, dann gibt es kein Halten mehr in der europaweiten Anpassung von Lohn-, Tarif- und Sozialstandards nach unten. Im Februar steht das Papier im EU-Parlament zur Debatte. Zeigen wir den neoliberalen LobbyistInnen des europäischen Dienstleistungskapitals, was wir von ihnen halten: In Straßburg, vor dem Parlament, auf der Straße, laut und zahlreich!

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