Gut eineinhalb Jahre nach dem durch Generalstreik und Volksaufstand erzwungenen Rücktritt des damaligen Präsidenten Sanchez de Lozada hat die Volksbewegung erneut einen Aufschwung genommen und zu einer fast vorrevolutionär zu nennenden Lage geführt.
Der seither amtierende Präsi-??dent Carlos Mesa stand vor ??dem Problem, dass der Ausverkauf der Öl- und Gasvorkommen Boliviens an ausländische Energiekonzerne (Repsol-YPF Spanien, Petrobras Brasilien, British Gas Großbritannien, Chevron und andere) weiterhin auf den einhelligen Widerstand der Bevölkerung stößt. Die Forderung nach kompletter Nationalisierung der natürlichen Reichtümer des Landes ist die zentrale Achse der Demonstrationen und Blockaden, die in den letzten Wochen die Region La Paz/El Alto völlig lahmgelegt haben.
Und im Parlament hatte Mesa auch keine Mehrheit mehr: Sein vor gut zwei Monaten eingereichter Rücktritt wurde zunächst nicht akzeptiert und sein geplantes Gesetz zur Ölfrage, das die Situation beruhigen sollte, kam ebenfalls nicht durch. Das Gesetz sah allerdings nicht die Nationalisierung von Öl und Gas vor, sondern nur eine Steuererhöhung für die Multis. Stattdessen versuchten die Großgrundbesitzer ein Gesetz über eine Teilautonomie der Regionen durchzudrücken, welches ihnen in den Öl- und Gasförder-Gebieten de facto die Verfügungsgewalt sichern würde. Die in Bolivien mehrheitlich indigene Bevölkerung hat dagegen massiv mobilisiert, zeitweise musste angesichts der Lage das Parlament geschlossen werden. Hauptträger der Massenaktivitäten sind die Nachbarschafts- und Stadtteilorganisationen, die – allerdings recht schwache – Gewerkschaftszentrale COB geführt von Jaime Solares und die Indioorganisation Pachacuti von Felipe Quispe.
Als Ausweg rief Präsident Mesa zur Bildung einer verfassunggebenden Volksversammlung auf. Dabei wurde er von Evo Morales, dem Führer des MAS (Bewegung für den Sozialismus) gestützt. Aber dieser Vorschlag wurde von der Massenbewegung umgehend als das bezeichnet, was er ist: ein Manöver, um der Bewegung den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Nun ist Mesa endgültig zurückgetreten, die beiden nach der Verfassung an erster und zweiter Stelle in Frage kommenden Nachfolger traten das Amt freiwillig nicht an, da sie bei der Bevölkerung keinerlei Vertrauen genießen. So ist jetzt der Verfassungsgerichtspräsident ein Interimspräsident. Er handelte eine Art Waffenstillstand mit der Protestbewegung aus.
Das große Problem ist, dass in Bolivien derzeit keine politische Kraft in Sicht ist, die in der Lage wäre, dem Kampf eine strategische Ausrichtung zu geben und die Machtfrage zu stellen. Die Zersplitterung der radikalen Linken und die Schaukelpolitik von Leuten wie Evo Morales lassen befürchten, dass die Rechte wieder die Oberhand gewinnt..
Chronik der jüngsten Ereignisse in Bolivien |
2002 Die bolivianische Regierung trifft ein Abkommen mit dem Unternehmen Pacific LNG über den Export von Erdgas in die USA und nach Mexiko. 30.6.2002 Bei den Präsidentschaftswah- len gewinnt Sanchez de Lozada, Carlos Mesa wird Vizepräsident. 12./13.2.2003 Nach der Ankündigung von Steuererhöhungen aufstands- ähnliche Unruhen, es werden 31 Menschen getötet. 15. 9. 2003 Bauern demonstrieren gegen den geplanten Erdgasexport. 19. 9.2003 Zahlreiche Arbeitergruppen schließen sich den Forderun- gen an. In mehreren Städten kommt es zu Protestmärschen und Demonstrationen. 20. 9.2003 Bei Auseinandersetzungen mit Streitkräften kommen in Wari- sata, 70 Kilometer von La Paz entfernt, sieben Bauern ums Leben. 25. 9. 2003 Die größte Gewerkschaft des Landes beteiligt sich an den Demonstrationen. 29. 9. 2003 Landesweit starten Demonstra- tionen für einen Rücktritt Sanchez de Lozadas. 9. bis 12.10. 2003 In El Alto kommt es zu blutigen Unruhen. 13./14. 10.2003 Die Auseinandersetzungen greifen auf La Paz über. 13. 10. 2003 Sanchez de Lozada kündigt eine Aussetzung der Exportpläne und einen Volksentscheid über das Projekt an. Die Opposition lehnt das Angebot ab. 17.10.2003 Aufstand gegen Lozada. Nach gewaltsamem Einschreiten der Polizei und 70 Toten Rücktritt von Lozada, der in die USA flieht. Mesa wird Präsident. 18.7.2004 Erfolgreiches Referendum über die Erdgaspolitik, das u.a. die Wiederverstaatlichung und Steuern bis 50% für die fördern- den Unternehmen vorsieht. 2.-5.3.2005 Erfolgreicher Generalstreik in El Alto und Cochabamba gegen die Privatisierung der Wasser- versorgung 6.3.2005 Mesa bietet seinen Rücktritt an, dieser wird vom Parlament abgelehnt. 17.5.2005 Das Parlament verabschiedet ein Gesetz, in dem zwar die Steuern für die Ölkonzerne heraufgesetzt werden, aber lediglich auf 18%, während die Volksbewegung die Verstaatlichung fordert. Dar- aufhin kommt es erneut zu Massenprotesten, Streiks und Blockaden, die Region El Alto/ La Paz ist lahmgelegt, das Parlament muß zwischen- zeitlich geschlossen werden. 7.6.2005 Mesa erklärt seinen Rücktritt. Verfassungsgerichtspräsident Eduardo Rodriguez wird sein Nachfolger, der gemäß der Verfassung Neuwahlen ankün- digt. ? |