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Erklärung der Koordination der Internationalen Sozialistischen Organisation

#Aufstehen – Weckruf oder Spaltungsgefahr?

Von Koordination der Internationalen Sozialistischen Organisation (ISO) | 21.12.2018

Am 4. September ist die neue „Sammlungsbewegung“ offiziell an die Öffentlichkeit getreten. Führen­de Repräsentant*innen hatten zur Pressekonferenz in Berlin eingeladen, die Webseite wurde scharf geschaltet. Schon im Vorfeld hatten sich über 100.000 Interessent*innen registrieren lassen, inzwi­schen werden es wohl über 165.000 sein. Für den 3. Oktober wurde bundesweit zu regionalen Treffen eingeladen, die unterschiedliche Resonanz fanden. Am 9. November hatte #Aufstehen zu einer großen Kundgebung vor das Brandenburger Tor eingeladen, die mit ca. 600 Besucher*innen enttäuschend verlief.

Versuch einer Antwort gegen rechts

Das erklärte wichtigste Ziel der Initiator*innen ist, eine wirksame Antwort auf den Aufschwung der extremen Rechten zu geben. Tatsächlich ist der wahlpolitische Aufschwung der AfD äußerst beun­ru­higend. Die AfD wird in der Öffentlichkeit als Protestpartei wahrgenommen, während DIE LINKE vom Absturz der SPD kaum profitiert. Obwohl DIE LINKE seit dem Wahlsieg von Trump und dem Aufstieg der AfD Zuwächse hat und vor allem im Westen viele neue, häufig jüngere Mitglieder gewin­nen konnte, stagniert sie seit Monaten bundesweit bei etwas unter 10 Prozent (Bundestagswahl 2017: 9,2%). Die Schuld dafür kann nicht einfach #Aufstehen zugeschoben werden.

#Aufstehen will Wähler*innen, erklärtermaßen auch solche, die zur AfD abgewandert sind, für eine linkspopulistische Alternative (zurück)gewinnen. Nach dem Vorbild von La France Insoumise von Jean-Luc Mélenchon meint die Initiative, mit einer Kapitalismuskritik, die auf Elitenkritik verkürzt ist, mehr Menschen erreichen zu können.

Tatsächlich ist das politische Profil von #Aufstehen rechts von dem Programm der Partei DIE LINKE. Das gilt nicht nur für die Themen Flucht und Migration, sondern auch für die allgemeine Orientierung von #Aufstehen an der SPD-Politik der 70er Jahre, an einem guten und kuscheligen Kapitalismus.

Die Initiator*innen von #Aufstehen verwahren sich gegen den Vorwurf, nationalistische Positionen zu vertreten. Sie verweisen darauf, dass sie mehr Geld für Flüchtlingslager in den Ländern des globalen Südens fordern. Vor allem aber gilt ihnen der Nationalstaat als letzter Schutzraum gegen das interna­tionale Kapital und seine Institutionen, und gegen Zuwanderung.

In unserem Verständnis geht Internationalismus aber einher mit der Ausweitung des internationalen Klassenkampfs und erstrebt die weltweite Angleichung der Lebensverhältnisse bei gleichen Rechten für alle.

Welche Perspektiven?

Der Zulauf zu der maßgeblich von Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine initiierten „Sammlungs­bewegung“ #Aufstehen ist nicht einfach einzuschätzen. Über die Klicks im Internet hinaus sind sicher­lich Tausende unter diesem Etikett unterwegs, und auch viele Mitglieder der Partei DIE LINKE sehen in #Aufstehen eine Chance für breiter getragene linke Politik. Laut einer Umfrage von Emnid im Auf­trag der Zeitschrift Focus konnten sich im August 2018 34 Prozent der deutschen Wähler*innen vor­stel­len, #Aufstehen zu wählen, davon 87% der LINKEN-Anhänger*innen, 53% der Grünen-Wähler*­in­nen und 37% der SPD-Anhänger*innen. Gleich wie fragwürdig solche Zahlen sein mögen, zeigen sie doch, dass die Initiative politisch nicht unbedeutend ist.

Es gibt derzeit allerdings keine Anzeichen dafür, dass #Aufstehen wirklich zu Wahlen antritt. Die Euro­pawahlen kommen dafür zu früh, und derzeit ist nicht absehbar, ob es zu Neuwahlen zum Bun­des­tag kommen wird.

Die Initiator*innen von #Aufstehen haben keine einheitliche Meinung zur Bildung einer Partei. Wäh­rend Sahra Wagenknecht behauptet, keine wahlpolitische Alternative aufbauen zu wollen, betonen an­dere genau diese Notwendigkeit. Ihr Argument, mit #Aufstehen Druck auf SPD, Grüne und Linke aus­üben zu wollen, wirkt allerdings mehr als hohl, wenn es beim Sammeln bleiben soll. Weder bei der SPD noch bei den Grünen (von der LINKEN ganz zu schweigen) sind Tendenzen zu erkennen, auf die Absichten von #Aufstehen positiv zu reagieren.

#Aufstehen setzt aber offensichtlich nicht nur auf Mitglieder dieser drei Parteien, die Initiative wirbt auch um Mitglieder von CDU/CSU, FDP und sogar der AfD. Möglicherweise setzt Sahra Wagen­knecht auf „offene Listen“ der LINKEN bei der nächsten Bundestagswahl, auf der dann Prominente von #Aufstehen kandidieren sollen. Dadurch soll vor allem ehemaligen AfD-Wähler*innen die Mög­lich­keit eröffnet werden, ihrem Gefühl einen politischen Ausdruck zu verleihen, dass die soziale Ungerechtigkeit die „Mutter aller Probleme“ ist.

Berechtigte Ängste

In der Partei DIE LINKE sind nicht nur viele vom linken Flügel, insbesondere die Antikapitalistische Linke (AKL) und die Bewegungslinke, gegen #Aufstehen, sondern auch viele vom Partei-Establish­ment und von der Parteirechten. In der Bundestagsfraktion hingegen gibt es ein Bündnis von #Aufste­hen-Befürworter*innen und Teilen der Parteirechten, das sogenannte Hufeisen-Bündnis. Die Kritik an #Aufstehen fällt seitens der Parteirechten und der Parteilinken allerdings recht verschieden aus, was durch die gemeinsame Gegnerschaft zu #Aufstehen teils überdeckt wird.

Trotzdem ist #Aufstehen derzeit der Zankapfel Nr. 1 in der Partei Die LINKE, alle stehen unter dem Druck, sich dafür oder dagegen zu positionieren. Denn die Entstehung von #Aufstehen drückt unzwei­felhaft wirkliche Probleme der Partei aus, insbesondere dass sie so wenig vom spektakulären Nieder­gang der SPD profitiert und so wenig in der Lage ist, sich als die wirkliche Systemalternative zu pro­fi­lieren.

Insbesondere die Tatsache, dass DIE LINKE in den Bundesländern, in denen sie mitregiert, weite Teile ihrer Programmatik aufgibt, und im Bund ein großer Teil der Partei- und Fraktionsführung weiter auf Rot-Rot-Grün orientiert, obwohl diese Option unter den gegebenen Bedingungen nicht einmal realis­tisch ist, unterminiert ihre Glaubwürdigkeit. Wir sind gegen eine solche Orientierung.

Nun hat #Aufstehen aber kein anderes Projekt als „Rot-Rot-Grün“, will dafür aber eine breitere Bewe­gung von unten schaffen. Die bisherigen Versuche sind gescheitert, und wie eine Bewegung aufgebaut werden soll, ohne eine massive Beteiligung an den bedeutenden gesellschaftlichen Auseinandersetzun­gen gegen Rassismus, gegen die rechten Aufmärsche und gegen den Klimawandel, bleibt das Geheim­nis der Initiator*innen. Mal abgesehen davon, dass weder die SPD noch die Grünen besonders viel Zu­trauen zu Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine entwickeln werden, bleibt die Frage, zu welchen Konzessionen #Aufstehen denn bereit wäre, damit die „Bewegung“ bei einer solchen Konstellation mit­machen darf. Diese Diskussion steht #Aufstehen erst noch bevor.

#Aufstehen war von vornherein Ausdruck eines innerparteilichen Machtkampfes. Das ist mit einem Strukturproblem verbunden, nämlich dem wachsenden Einfluss der Mandatsträger*innen im Verhält­nis zu den Parteigremien, wie auch allgemein von bezahlten Berufspolitiker*innen und Funktionär*in­nen gegenüber den Ehrenamtlichen und Mitgliedern der Partei. Diesen Makel teilt #Aufstehen aller­dings mit dem Rest der Partei. Wagenknecht stützt sich als populärste Linke fast ausschließlich auf ihre Präsenz in den Medien. Ihr daraus erwachsenes politisches Gewicht nutzt sie, um die Meinungs­bil­dung in den Parteigremien und in der Mitgliedschaft zu umgehen.

Der „Top Down“-Charakter von #Aufstehen ist unübersehbar. Alles wird an der Spitze entschieden, die Macher*innen sind oft nicht bekannt. Die „Unterstützer*innen“ werden nicht gefragt bei der Ausarbei­tung von Positionen, bei der Entwicklung von Initiativen und bei Entscheidungen. Auch in Bezug auf die innere Demokratie ist dies ein wesentlicher Rückschritt gegenüber der Partei.

Ob das so bleibt, ist unklar. Immerhin sind örtliche #Aufstehen-Gruppen auch selbstorganisiert, ohne vorausgehende Initiative der Initiator*innen entstanden. Von der #Aufstehen-Basis gab es auch hefti­gen Widerspruch gegen die Weigerung von Sahra Wagenknecht, zur #Unteilbar-Demo am 13. Oktober in Berlin aufzurufen.

Aus diesen Gründen gibt – oder gab es wenigstens zeitweise – eine reale Spaltungsgefahr, in jedem Fall der Bundestagsfraktion, vielleicht aber auch der Partei insgesamt. Eine solche Spaltung hätte der­zeit nicht zu einer politischen Klärung geführt und DIE LINKE insgesamt geschwächt. Zumal das große Vorbild von #Aufstehen, La France Insoumise, auf den Trümmern nicht nur des Linksbündnisses Front de Gauche, sondern auch der französischen Linkspartei Parti de Gauche entstanden ist.

Mit der gemeinsamen Erklärung der vier Partei- und Fraktionsvorsitzenden zu Flucht und Migration vom 1. Dezember scheint die Spaltungsgefahr erstmal gebannt. Wie lange das anhält, bleibt unklar. Die Erklärung verweist selbst auf weitere Auseinandersetzungen: „Das Thema Arbeitsmigration wird auch innerhalb unserer Partei intensiv diskutiert. Bei diesen Diskussionen, ob und wie Arbeitsmigra­tion reguliert und beschränkt werden soll und wie Einwanderung gestaltet werden kann, wollen wir als LINKE die sozialen Grundrechte der Betroffenen schützen und ermöglichen.“ Die Rivalitäten zwi­schen Partei- und Fraktionsspitzen sind nicht aus der Welt.

Unzureichende Antworten

Manche aus den Reihen der Partei argumentieren, Die LINKE sei doch schon eine Sammlungsbewe­gung, da bräuchte es doch #Aufstehen nicht. Diese Haltung ist offensichtlich unzureichend. Zutreffend stellen Parteilinke, insbesondere die AKL und die Bewegungslinke, fest, dass DIE LINKE, vor allem mit ihren Regierungsbeteiligungen im Osten, selbst schon zu sehr zur „etablierten Politik“ gehört, als dass sie überall zum Sprachrohr von Empörung, tiefer Unzufriedenheit und Auflehnung werden könnte.

Auf die Fragen der Flüchtlings- und Migrationspolitik, und ob DIE LINKE sich genügend um die Sor­gen und Ängste der „einheimischen“ Bevölkerung kümmert, gibt es aus den Reihen der Partei viele verschiedene Antworten.

Nicht zu leugnen ist auch, dass DIE LINKE nach außen keinen geschlossenen Eindruck macht und dass dies ihrer Glaubwürdigkeit schadet. Zwischen denen, die „offene Grenzen“ fordern, und denen, die die einheimischen Arbeiterinnen und Arbeiter vor der Konkurrenz der Zuwander*innen schützen wollen, ist alles vertreten. So kann die Partei keine klaren Signale an die Wähler*innen aussenden.

Die große Mehrheit der Partei setzt sich allerdings für gleiche Rechte aller in Deutschland lebenden Menschen und für einen gemeinsamen Kampf gegen den Versuch der Rechten ein, die Bevölkerung in In- und Ausländer*innen zu spalten. Und von prekären Lebens- und Arbeitsverhältnissen sind Migran­t*innen am stärksten betroffen. Die Aufgabe der Linken ist es deshalb, die gemeinsamen Interessen der Lohnabhängigen herauszuarbeiten, zu formulieren und Bündnisse der Solidarität zu schmieden.

Unsere Antworten

Für uns als ISO und für die linken Kräfte in der LINKEN liegen die notwendigen Antworten auf diese Entwicklung auf der Hand:

  • Innerhalb wie außerhalb der Partei DIE LINKE kämpfen wir dafür, dass der Hauptschwerpunkt der Aktivität auf die Unterstützung und Zusammenführung der stärker werdenden sozialen Bewegungen gelegt wird.
  • Wir lehnen die zunehmende Machtübernahme durch Parlamentsfraktionen und Berufspolitiker*in­nen ab und treten für die politische Unabhängigkeit der Partei ein; immerhin ist Sahra ein Musterbei­spiel für das eigenwillige Agieren von Parlamentarier*innen.
  • Wir unterstützen alle Bemühungen, politische und organisatorische Mittel gegen die weitere Verpar­lamentarisierung der Linken zu entwickeln: durch Befristung von Amtszeiten, Rotation, Ächtung der Ämterhäufung und vieles mehr.
  • Wir kritisieren, dass DIE LINKE auf Länderebene in die Krisenverwaltung des Kapitalismus einge­bunden ist (siehe beispielsweise ihre Unterstützung für den Braunkohleabbau in Jänschwalde und für das neue Polizeigesetz in Brandenburg) und dass große Teile der Parteiführung auch auf Bundesebene darauf orientieren. Diesem vorherrschenden Kurs seitens der Parteiführung muss entschiedener Wider­stand entgegengesetzt werden. Nur dann kann eine tiefgreifende Diskreditierung sozialistischer Ideen verhindert werden.
  • Wir verteidigen das 170 Jahre alte internationalistische Prinzip des weltweiten Klassenkampfes und des Rechtes auf Mobilität und Migration.
  • Wir kritisieren das kapitalistische Europaprojekt EU vom Standpunkt der sozialen Bewegungen, der Arbeiter*innenklasse und eines grenzüberschreitenden Klassenkampfes von unten.
  • DIE LINKE kann nur nützlich sein als plurales Projekt und als bewegte Partei der Bewegungen.

Koordination der Internationalen Sozialistischen Organisation (ISO), 2.12.2018

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