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Geschichte und Philosophie

Aufrecht – wie sonst?

17.03.2009

Vom Linkssozialisten zum Sozialdemokraten und zurück: Am 16. März starb Peter von Oertzen

Er hatte den ihm eigenen Biss nicht verloren, als ihn der Stern-Redakteur Mitte 2005 im Pflegeheim in Hannover besuchte, um der Frage nachzugehen: “Was macht eigentlich Peter von Oertzen?” Das damals aufgenommene und veröffentlichte Foto zeigt ihn als einen abgemagerten 80-Jährigen mit Achtung erheischendem Mecki-Haarschnitt und einem aufrecht trotzigen Blick, der einen nicht loslässt – vor allem nicht, wenn man weiß, wie er in den letzten Jahren darunter gelitten hat, dass der Körper einfach nicht mehr so wollte, wie der Kopf noch konnte. Was der seit 2003 ans Bett gefesselte Oertzen Freunden nur noch in Form von Telefonaten und bei den noch selteneren Besuchen zu sagen hatte, davon ist ein kleiner Teil auch in das kurze Gespräch mit dem Stern-Journalisten eingeflossen, der ihn fragte, warum er denn nach fast 60 Jahren aus der SPD ausgetreten und in die gerade neu entstandene WASG eingetreten sei: “Das musste einfach sein. Ich ging ohne Groll. Ich weiß ja, was für eine Partei die SPD ist (…) Ich kenne meine Ex-Genossen.”

In der Tat kann ihm diese Kenntnis nicht abgesprochen werden, und es ist keine kritische Geschichte der Sozialdemokratie nach dem Zweiten Weltkrieg denkbar, die nicht auch auf sein Wirken eingehen würde. Am 2. September 1924 in Berlin in ein altes mecklenburgisches Adelsgeschlecht geboren, gehörte von Oertzen zu jenen Kindern aus sozial-konservativem Elternhaus, die durch die Kriegserfahrung in faschistischer Zeit gründlich desillusioniert und so in ihrer geistigen Neuorientierung nach ganz links getrieben wurden. Der sich origineller Weise an Max Adler, Georg Lukács und Erich Gerlach schulende junge Geist suchte zwischen den aufziehenden Fronten des Kalten Krieges zu Beginn der 50er Jahre auch praktisch-politisch einen dritten Weg jenseits von realsozialistischem Politbürokratismus und realkapitalistischem Antisozialismus. Wohl wissend, dass einzig die klassenpolitische Selbsttätigkeit der lohnarbeitenden Klasse die Wege nach Utopia zu öffnen vermag, dieser Weg jedoch andererseits kein automatisch sich durchsetzender, kein zwangsläufig vorherbestimmter ist, setzte er auf politische Lernprozesse dort, wo sich die real existierende Arbeiterklasse in Westdeutschland politisch wieder fand, in der Sozialdemokratie.

Seitdem war sein Lebensweg mit dieser Partei verbunden – ob als linkssozialistischer “Entrist” und südniedersächsischer Landtagsabgeordneter in den 50ern, oder als einer der wenigen aktiven Gegner der sozialdemokratischen Wende von Bad Godesberg 1959; ob als Herausgeber der so genannten Arbeitshefte in den 60ern, mit denen er die letzten Reste der nicht ausgeschlossenen linken Sozialdemokratie und die linke Gewerkschaftsszene um Otto Brenner zusammenbrachte, oder als erneuter niedersächsischer Landtagsabgeordneter und nun auch Kultusminister in den 70ern; ob als Mitglied des SPD-Bundesvorstandes und Führungsfigur der sozialdemokratischen Grundsatzkommission in den 70ern und 80ern oder schließlich als vehementer Kritiker der Entsozialdemokratisierung unter Gerhard Schröder in den 90er Jahren.

Auch wenn er letzteren schon rein habituell nicht leiden konnte – “Schröder tickt ganz einfach, er will von den feinen, den reichen, den mächtigen Leuten anerkannt werden. Er ist ein aufstiegssüchtiger Plebejer voll schrecklicher Minderwertigkeitskomplexe”, so von Oertzen im Stern – so war die Kritik an der neuesten Entwicklung der Sozialdemokratie alles andere als persönlicher Natur: “Das Projekt ‚Sozialdemokratie’ ist nun beendet. Man kann nicht gleichzeitig Gott dienen und dem Mammon.”

Wer es ausführlicher und politisch-theoretischer mag, konnte von Oertzens Kritik seit Ende der 1990er Jahre in Zeitschriften wie Sozialismus oder der Sozialistischen Zeitung (SoZ) lesen. Politisch bewegte sich der seit Anfang der 80er Jahre erneut als Professor für Politische Wissenschaften in Hannover Lehrende nun wieder in jenen linken Kleinzirkeln, die auch er selbst immer für etwas “sektiererisch” gehalten hatte. Aber er wusste eben auch, dass in manchen historischen Konjunkturen einer aufrechten Linken nicht viel anderes übrig bleibt. Sein langjähriges Engagement für die Loccumer Initiative kritischer WissenschaftlerInnen ist hier ebenso zu nennen wie seine Unterstützung der kurzlebigen Freunde der Europäischen Antikapitalistischen Linken oder, zum Schluss, seine Unterstützung des WASG-Bildungsvereins SALZ und der “internationalen sozialistischen linken”.

Wer darin einen Widerspruch zu erkennen meint, irrt, denn was den sozialdemokratischen Parteipolitiker und renommierten Wissenschaftler mit dem wohlwollenden Unterstützer kleiner revolutionärer Sekten verband, war sein in Deutschland seltenes Selbstverständnis eines revolutionären Reformisten. Peter von Oertzen sah im demokratischen Rechtsstaat den Möglichkeitsrahmen für einen sozialistischen Reformismus in radikal-demokratischer Tradition. Erfolg konnte ihm ein solcher radikaler Reformismus jedoch nur haben, wenn er auch strukturell offen ist für einen radikal-linken Flügel, d.h. für Anarchisten, Syndikalisten, Trotzkisten und andere extreme Linke.

Einzig die moskautreuen Stalinisten nahm er aus diesem breiten Spektrum einer pluralen antagonistischen Linken aus radikalen Demokraten, unabhängigen Sozialisten und kritischen Kommunisten explizit aus. “Es waren Todfeinde”, so von Oertzen in einem seiner letzten biografischen Gespräche über die Stalinisten als Vertreter einer politisch und sozial abgehobenen, repressiven und fortschrittsfeindlichen Kaste, “es waren Leute, die uns einsperren würden, wenn sie uns kriegten”. Dass er aus dieser Haltung heraus auch falsch gehandelt hat, dessen war er sich freimütig bewusst: Seine anfängliche Unterstützung der Berufsverbotspraxis gegen die Mitglieder der DKP zu Beginn der 70er Jahre nannte er später explizit “eine Phase, derer ich mich heute noch schäme” – nicht zuletzt, weil “nur tatsächliches Verhalten einen Menschen aus der Gemeinschaft des Demokratischen, des Demos ausschließen darf. Nicht der Gedanke”.

Es war diese leidenschaftliche Betonung des demokratischen Moments im Sozialistischen, die von Oertzen nicht nur zum versierten und unbarmherzigen Kritiker jeder Form linker erziehungsdiktatorischer Konzepte werden ließ, sondern ihn auch als politischen Wissenschaftler auszeichnete – die 2004 im Hannoveraner Offizin-Verlag unter dem programmatischen Titel Demokratie und Sozialismus zwischen Politik und Wissenschaft aufgelegte Auswahl seiner Schriften legt hiervon beredtes Zeugnis ab. “Der Sozialismus”,
ist dort zu lesen, “muss mehr persönliche Freiheit und mehr demokratische Teilhabe (aber auch mehr Wohlstand und mehr Lebensqualität) schaffen als der Kapitalismus – nicht weniger. Sonst ist er das Papier nicht wert, auf das seine Proklamationen geschrieben sind.”

Gegen die linken Wendehälse, die sich in seinen Augen an Marx dafür rächten, dass sie ihn nie verstanden haben, hielt er fest an der sozialistischen Zielvision einer solidarischen, von Ausbeutung, Unterdrückung und Unmündigkeit befreiten Gesellschaft, zu deren Erreichung es selbstverständlich “nötig (ist), die bürgerlich-kapitalistischen Eigentums- und Herrschaftsformen zu sprengen”. Über die Wege dorthin mag und muss man streiten – auch mit ihm selbst übrigens, der alles andere als überheblich oder arrogant gewesen ist. Der Weg war ihm das Ziel, ein Weg allerdings, der das Ziel unauflöslich in sich selbst aufzunehmen hat.

In den frühen Stunden des 16. März 2008 ist Peter von Oertzen gestorben – aufrecht, wie sonst?

Christoph Jünke

Peter von Oertzen: Demokratie und Sozialismus zwischen Politik und Wissenschaft, hrsg. von Michael Buckmiller, Gregor Kritidis, Michael Vester, Hannover: Offizin-Verlag, 2004, 461 S., ISBN 3-930345-44-7, 24 Euro.

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