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Innenpolitik

Armutsdebatte BRD: Neue Unterschicht entdeckt

Von Trixi Blixer | 01.12.2006

Nach der breiteren Veröffentlichung des Leides, das arme Kinder in Deutschland erleben müssen, hat sich in den Parlamenten und bei den Wohlfahrtsverbänden eine Debatte über die “neue Unterschicht” angeschlossen. Verantwortlich für die Armutsentwicklung wird die Einführung von Hartz IV gemacht. Der Begriff der „Unterschicht“ ist in der Sozialforschung kein neues Wort.

Nach der breiteren Veröffentlichung des Leides, das arme Kinder in Deutschland erleben müssen, hat sich in den Parlamenten und bei den Wohlfahrtsverbänden eine Debatte über die “neue Unterschicht” angeschlossen. Verantwortlich für die Armutsentwicklung wird die Einführung von Hartz IV gemacht.

Der Begriff der „Unterschicht“ ist in der Sozialforschung kein neues Wort. Die verschiedenen nicht-marxistischen soziologischen Schulen nach Ende des 2. Weltkrieges versuchten wiederholt, die Ungleichverteilung von Reichtum und Entwicklungschancen in Strukturmodellen zu beschreiben. Dazu gehören sowohl Milieutheorien wie die von Stefan Hradil, als auch Schichtmodell wie die bekannte Bolte-Zwiebel. Diese Theorien zeichnen sich dadurch aus, dass sie vor allem und z.T. sehr detailliert beschreiben, wie Armut, Arbeitslosigkeit, Bildungsmangel oder mangelnde Gesundheit zusammenhängen und wie schwierig es ist, aus einer solchen Schicht / Milieu zu wechseln. Da in der Regel die marxistische Klassentheorie von dieser Seite abgelehnt wird und vor allem oft nur die Deskription der Ästhetik des Proletariats des 19. Jhds. als Gegenstand des Marxismus angenommen wird, fehlt den bürgerlichen Schichttheorien in den allermeisten Fällen die Analyse der Ursachen für kumulierende Problemlagen im Kapitalismus.
Der Begriff Unterschicht
Spätestens seit den 80er Jahren prägen hohe Erwerbslosigkeit und zunehmende Armut bei gleichzeitig abnehmender sozialer Sicherheit die Industriegesellschaften. Diese Tendenz macht deutlich, dass die Versprechungen des Nachkriegskapitalismus von sozialer Gerechtigkeit und Chancengleichheit bei weitem nicht einmal ideologisch eingehalten werden konnten. Schon lange bevor diese Erkenntnis die Öffentlichkeit in der Bundesrepublik einholte, zeigten sich in den USA und in Frankreich, dass es offensichtlich ökonomische und soziale Strukturen in der Gesellschaft gibt, die nicht damit abgetan werden können, dass sich die Armen nur nicht genügend bemüht hätten, nicht mehr arm zu sein. Mit den wiederholten Ausbrüchen von Gewalt in den französischen Vorstädten seit Anfang der 80er Jahre zeigen Jugendliche, „daß eine tiefer werdende Kluft der Perspektivlosigkeit sie vom Rest der Gesellschaft trennt. Verschärft hat sich selbst in den USA mit ihrer langen Geschichte der Minderheitenghettos die Isolierung der Armenviertel in den Großstädten und die Chancenlosigkeit ihrer Bewohner.“1 Im weiteren weist der Berliner Sozialforscher Kronauer darauf hin, dass um diese Phänomene zu fassen, im Englischen die Begriffe „Exclusion“(Ausgrenzung), „Underclass“ (Unterklasse) und „Social exclusion“ (soziale Ausgrenzung) eingeführt wurden. „Sie verweisen darauf, daß es eine soziale Spaltungslinie gibt, die nicht ohne weiteres in das traditionelle, am Erwerbssystem orientierte Schichtungs- und Klassenschema paßt (um eben diese Linie zu bezeichnen, bedurfte es eines neuen Begriffs: Dies war jedenfalls Myrdals Überzeugung, als er Anfang der 60er Jahre den Begriff ‚underclass‘ aus dem Schwedischen ins Amerikanische übertrug.“2 Was also schon von 40 Jahren in der amerikanischen Soziologie diskutiert wurde, kam erst Anfang der 90er Jahre in Deutschland an. Hier wurde die Unterschicht zuerst als „Peripherie“ beschrieben, der explizit beinhaltet, dass im „Zentrum“ Macht und Ressourcen vorhanden sind, sich aber gleichzeitig „Gegenzentren“ bilden können.

Die Begriffe „Underclass“, „Unterschicht“ oder „Peripherie“ beschreiben auf der einen Seite sehr treffend die Realität des kapitalistischen Alltags. Gleichwohl beinhalten sie aber immer auch die Möglichkeit einer moralischen Bewertung seitens der Politik: die Unterschicht ist dreckig und faul, sie steht unter den anderen und sie gehört nicht zum Zentrum der Gesellschaft.
Unterschichtsdebatte
Nachdem in den letzten Monaten in der Öffentlichkeit bekannt wurde, wie groß der Anteil der Kinder ist, die in armen und belasteten Familien leiden, legte die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung mit einer Studie zur „Gesellschaft im Reformprozess“ nach. In dieser Untersuchung stellten die AutorInnen fest, dass inzwischen immerhin 8% zum „abgehängten Prekariat“ gehören. Auch spricht die Studie von einer „Drei-Drittel-Gesellschaft“ „Die Menschen im ‚oberen‘ Drittel haben recht gesicherte Chancen und Lebensperspektiven. […] In der ‚Mitte‘ der Gesellschaft ist die Verunsicherung längst angekommen. […] Im ‚unteren‘ Bereich (selbstgenügsame Traditionalisten, autoritätsorientierte Geringqualifizierte) wächst die Unzufriedenheit mit den gesellschaftlichen Realitäten und der Politik sowie das Risiko der sozialen und politischen Abkopplung (Abgehängtes Prekariat).“3 Obwohl diese Studie bei weitem nicht zu den Ersten gehört, die analysieren, dass eine wachsende Anzahl von Menschen im Kapitalismus keine Perspektiven mehr haben, wurde gerade sie jetzt aufgegriffen. PolitikerInnen von Union bis zu den Grünen geben ihren Senf dazu ab, wobei sie ja alle selber mitverantwortlich für diese Entwicklung sind. Dieser Debatte, so eingeschränkt sie geführt wird, bietet aber den sozialen Bewegungen ein Podium, um ihre Erfahrungen mit der gesellschaftlichen Entwicklung einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Armutsentwicklung
Die Armutsentwicklung in Deutschland entspricht in groben Zügen derjenigen in den anderen Industrieländern. Armut ist nicht nur da, wo Menschen keiner Erwerbsarbeit nachgehen können, sondern Armut trifft heute verstärkt Menschen, die Vollzeit arbeiten. In Deutschland wurde das von der SPD/Grünen-Bundesregierung eingeführte Arbeitslosengeld II zum Symbol für die Armutsentwicklung. So richtig es von der sozialen Bewegung ist, Hartz IV als dieses Symbol aufzugreifen, muss gleichzeitig festgestellt werden, dass die Armut vorher mit der Sozialhilfe nicht wesentlich geringer war. Der wachsende Unmut über die Entwicklung und die Angst, die die Erwerbstätigen unter Druck setzt, ist nun auch auf der parlamentarischen Ebene angekommen. Jedoch wird die Debatte nichts an der täglichen Realität ändern. Selbst wenn ALG II um 20 € erhöht wird, gibt es in der BRD inzwischen Schichten in der ArbeiterInnenklasse, die kaum noch die Perspektive haben, über eine längere Zeit ihre Arbeitskraft verkaufen zu können.

Um zu verstehen, wie die Gesellschaft funktioniert und warum sich der Reichtum so verteilt, wie er sich verteilt, müssen neben sicherlich brauchbaren beschreibenden Schichttheorien auch die Ursachen analysiert werden. Genau hier bietet die marxistische Klassentheorie eine solche Analyse an.

1&
nbsp;   Martin Kronauer, „Soziale Ausgrenzung“ SOFI-Mitteilungen Nr. 24/1996
2    Kronauer, ebda.
3    „Gesellschaft im Reformprozess“, Die Friedrich-Ebert-Stiftung untersucht Reformbereitschaft der Deutschen, Juni 2006
 

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