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Innenpolitik

Armut in einem reichen Land…

Von Konrad Reich | 01.04.2005

… und zwar millionenfach, denn 2,81 Millionen Menschen waren Ende 2003 in Deutschland ganz oder teilweise auf die Zahlung von Hilfe zum Lebensunterhalts angewiesen. Erschreckendes Detail ist hierbei, dass darunter mehr als 1 Million Kinder sind. Das ist einer der Befunde, die der 2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung von Anfang März 2005 enthält.

Nach 2001 erscheint dieser Bericht nun zum zweiten Mal, weil die Regierung Kohl 1995 nicht mehr darum herumgekommen war, das Abschlussdokument des Weltsozialgipfels in Kopenhagen zu unterzeichnen, das u.a. zur regelmäßigen Vorlage eines Armuts- und Reichtumsberichts verpflichtete. Die Inhalte könnten für rot/grün nicht entlarvender sein.

Vermögensverteilung – skandalös ungleich

Das Nettovermögen (alle Spar- und Bausparguthaben, Wertpapiere, Termingelder, Lebensversicherungen und Immobilien, abzüglich der Schulden) ist in Deutschland zwischen 1998 und 2003 um knapp 19% von 4,2 Billionen Euro auf rund 5 Billionen Euro gestiegen. Nur: Die Mehrheit der Bevölkerung hat von diesem Zuwachs nichts abgekriegt. Im Gegenteil: Ihr Anteil am Gesamtvermögen ist gefallen. Bereits 1998 besaßen die reichsten 10 Prozent der Haushalte 44,4% des gesamten Nettovermögens, bis 2003 haben sie sich auf 46,8% verbessert. In absoluten Zahlen war dies durchschnittlich ein Anstieg von 504.300 auf 624.100 Euro. Demgegenüber ist der Anteil der unteren 50 Prozent der Haushalte am Gesamtvermögen im gleichen Zeitraum von 4,1% auf 3.8% gefallen. Besonders fatal ist, dass die ärmsten 10 Prozent der Haushalte bereits 1998 überhaupt kein Vermögen hatten, sondern mit 0,3 Prozent des Gesamtvermögens verschuldet waren und die Verschuldung mittlerweile im Jahr 2003 0,6 Prozent des Gesamtvermögens erreicht hat. Im Durchschnitt der betroffenen Haushalte immerhin 7.900 Euro Schulden. Der Bericht ist ein schlagender Beweis dafür, dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer geworden sind. Deshalb bezeichnet der Paritätische Wohlfahrtsverband zurecht den Bericht als „erschreckenden Beleg für die soziale Zerrissenheit in Deutschland”.

Einkommensverteilung

Für die allermeisten Menschen bedeutet „Vermögen” Rücklagen für anstehende größere Ausgaben zu bilden oder Vorsorge für das Alter in Geld oder Immobilien zu treffen. Für den Lebensstandard des überwiegenden Teils der Bevölkerung sind daher die regelmäßigen Einkommen entscheidend. Dazu gehören Einkommen aus abhängiger oder selbständiger Arbeit, aus Vermögen sowie aus Transfereinkommen wie Kindergeld, Arbeitslosengeld, Sozialhilfe oder Rente.
Für die Löhne und Gehälter stellt der Bericht fest, dass zwischen 2001 und 2003 die Bruttoreallöhne stagnierten oder sogar zurückgegangen sind. Kein Wunder bei den geringen Tariferhöhungen und gleichzeitigem Drehen an den Abgabenschrauben. Festzustellen ist aber auch bei den Arbeitseinkommen eine zunehmende Spreizung, also eine wachsende Ungleichheit, die vor allem auf die Zunahme der geringfügigen und Teilzeit-Beschäftigungsverhältnisse zurückzuführen ist. Wen wundert’s, aber was die Einkommen aus selbständiger Arbeit und Vermögen angeht, bleibt der Bericht eigenartig unbestimmt, die Analyse ist hier ungenügend. Der Bericht sagt z.B. nicht, wo tatsächlich – wie behauptet – neben den Steuerentlastungen, die bei den oberen zehn Prozent viel stärker gewirkt haben als bei den unteren dreißig Prozent, Steuerschlupflöcher gestopft worden sind.

Armut und Armutsrisiko

Deutlicher wird der Bericht allerdings dort, wo er sich mit Armut beschäftigt. Bei der Darstellung der Armutsrisikogrenze bzw. -quote benutzt er jetzt den neuen OECD-Standard, wonach als arm gilt, wer weniger als 60% des mittleren Einkommens aller Haushalte bekommt. In Deutschland beträgt die so errechnete Risikogrenze für Einzelpersonen 938 Euro netto. Mensch muss allerdings wissen, dass zwei Prozent der Bevölkerung nicht einmal die, sondern höchstens 600 Euro zur Verfügung haben. Feiner Nebeneffekt des neuen Standards für die Regierung ist die andere Gewichtung der Personen in Mehrpersonenhaushalten, die zu einer Reduzierung der Risikogrenze zwischen 28 und 40 Prozent führt. In einem Vier-Personenhaushalt mit zwei Kindern führt er beispielsweise dazu, dass die Armutsrisikogrenze von früher 2.532,60 Euro auf 1.969,80 Euro heruntergerechnet werden konnte und entsprechend weniger Menschen als arm gelten.

Trotz dieser Rechentricks ist die Armutsquote in Deutschland zwischen 1998 und 2003 von 12,1% auf 13,5% gestiegen. Quer durch alle Haushaltstypen, ob Alleinstehende, Paare oder Paare mit Kindern, hat das Armutsrisiko zugenommen. Und deutlich weiter zugenommen – ein weiterer gesellschaftlicher Skandal – hat die Armut von Kindern und Jugendlichen. 15% der Kinder bis 15 Jahren und 19,1% der Jugendlichen zwischen 16 und 24 Jahren leben in Armut. Deprimierend ist auch, dass 35,4% der Alleinerziehenden mit ihren Kindern in Armut leben. Betroffen sind hierbei zum weit überwiegenden Teil Frauen.
Einen gravierenden Anstieg von Armut gibt es bei den Erwerbslosen. Schon 1998 waren 33,1% aller Erwerbslosen arm, 2003 ist der Anteil auf 40,9% gestiegen. Dieser Anteil wird sich noch deutlich erhöhen, denn die erheblichen Einschnitte durch Hartz IV finden im Bericht noch keinen Niederschlag. Zur gesellschaftlichen Ausgrenzung durch Arbeitsplatzverlust kommt für Millionen von Menschen zusätzlich noch die Ausgrenzung durch Armut.
Die zunehmende Armut zeigt sich auch im starken Anstieg von überschuldeten Haushalten. Das sind die, die ihre Schulden nicht mehr bedienen können. 1994 lag ihre Zahl noch bei 2 Millionen, 2002 sind es 3,1 Millionen. Innerhalb von acht Jahren bedeutet dies einen Anstieg von 55%. Bezogen auf die 38,7 Millionen privaten Haushalte in Deutschland ergibt sich eine Quote von 8% überschuldeter Haushalte. Zwischenzeitlich dürften es wegen der weiter gestiegenen Arbeitslosigkeit und immer mehr Billigjobs noch viel mehr sein. Arbeitslosigkeit und niedrige Einkommen sind nämlich die Hauptursachen der Überschuldung.

Sozialhilfe

Zwar kommt der Bericht nicht umhin, klarzustellen, dass Sozialhilfe nicht nur das zum physischen Überleben Erforderliche sichern soll, sondern darüber hinaus auch Beziehungen zur Umwelt und die Teilnahme am sozialen und kulturellen Leben. Gleichzeitig wird aber das hohe Lied des „Förderns und Forderns”, des Arbeitslosengeldes II und der Sozialhilfereform gesungen. Dennoch muss der Bericht eingestehen, dass seit 2001 die Zahl der Sozialhilfeempfänger kontinuierlich bis zum Jahresende 2003 auf 2,81 Millionen angestiegen ist und die Sozialhilfequote an der Bevölkerung damit bei 3,4% liegt. Größte Gruppe unter den Sozialhilfeempfängern sind die Kinder. Ende 2003 bezogen 1,1 Mio. Kinder unter 18 Jahren Sozialhilfe. Die Sozialhilfequote bei ihnen liegt bei 7,4% und damit mehr als doppelt so hoch wie die durchschnittliche Sozialhilfequote und deutlich über dem Wert von 1998. Berücksichtigt mensch jetzt noch, dass nach Aussage des Berichts auf 3 Sozialhilfeempfänger noch einmal 1,5 bis 2 Sozialhilfeberechtigte kommen, die aber ihren Anspruch gar nicht geltend machen, liegt die Zahl der betroffenen
Menschen zwischen 4,2 und 4,7 Millionen. Diese verdeckte Armut findet sich besonders bei allein stehende Frauen über 60 Jahren und unter den Erwerbslosen bei Alleinstehenden und Paaren mit Kindern.

Bilanz

Im ersten Armuts- und Reichtumsbericht 2001 wollte sich Rot/Grün noch damit herausreden, die Zeit seit 1998 sei zu kurz gewesen, um wirksam gegensteuern zu können. Inzwischen sind mehr als sechs Jahre ins Land gegangen, die beweisen, gegensteuern war gar nicht angesagt, sondern neoliberales Kurshalten. All die Maßnahmen, die seit 1998 von der Regierung ergriffen worden sind, haben nur dazu geführt, die gesellschaftliche Schieflage zu verstärken und den Reichen und den Unternehmen auf Kosten der Mehrheit der Bevölkerung Geld und Steuergeschenke in den Rachen zu werfen. Diese Politik ist ganz bewusst und offen auch so angelegt und gewollt worden. Gebracht hat das, wie voraussehbar, für die Mehrheit der Bevölkerung gar nichts. Deshalb besteht der gut fünfhundertseitige Bericht zu gut einem Drittel aus einer zum Erfolg für die Betroffenen zurechtgelogenen Selbstdarstellung der Sozialpolitik der Bundesregierung. Aber in weiten Teilen ist der Bericht (bei allen Auslassungen, Unschärfen, Lücken und Unzulänglichkeiten) eine entlarvende Darstellung und Dokumentation der tatsächlichen Ergebnisse sozialdemokratisch/grüner Politik in Deutschland. Schein trifft auf Sein.

Kinderarmut
 In der EU gilt als arm, wer weniger als 50 Prozent des jeweiligen durchschnittlichen Einkommens im Land erhält. In der BRD sind das monatlich 725 Euro netto einschließlich der Sozialleistungen (nach OECD-Richtlinie müssten es 60%, also 938 Euro netto sein.). Von Armut sind Kinder überdurchschnittlich betroffen – besonders die von alleinerziehenden Müttern. Fast 40% deren Kinder sind arm. Am stärksten stieg die Armut bei Kindern aus MigrantInnenfamilien. Insgesamt 1,5 Mio. Kinder und Jugendliche wachsen hierzulande in Armut auf. Das ist mehr als jedes zehnte Kind. Seit 1989 hat sich in Westdeutschland die Kinderarmut mehr als verdoppelt. In Ostdeutschland ist sie seit 1991 um ein Drittel gestiegen. Damit ist die Kinderarmut in der BRD seit 1990 stärker gestiegen als in den meisten anderen Industrienationen (Mehr Infos unter www.unicef.de).
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