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Betrieb & Gewerkschaft

Arbeitszeitkämpfe bei Honeywell

Von Avanti | 01.06.2013

Belegschaft und Betriebsrat ließen sich von der Geschäftsleitung nicht einschüchtern.
Interview mit einem langjährigen Betriebsratsmitglied.

Belegschaft und Betriebsrat ließen sich von der Geschäftsleitung nicht einschüchtern.
Interview mit einem langjährigen Betriebsratsmitglied.

Frage: Kannst du den Betrieb, um den es geht, kurz beschreiben und charakterisieren?

Antwort: Die Honeywell Bremsbelag GmbH in Glinde bei Hamburg ist einer von ca. 25 Betrieben, die der US-Konzern in Deutschland betreibt. Überwiegend betreibt Honeywell Betriebe in der Metall und Elektroindustrie mit insgesamt 6.000 Beschäftigten in Deutschland. Weltweit sind es 135.000 Leute. Hier in Glinde werden Bremsbeläge für PKW, LKW und Schienenfahrzeuge hergestellt.

Hier arbeiten noch ca. 950 Festbeschäftigte, leider auch Leiharbeiter, insgesamt aber eher unter 1000 Leute. Davon 500 in der Produktion, dazu Werkzeugbau, Instandhaltung, Entwicklungsabteilung mit eigenen Handwerkern, ein paar technische und kaufmännische Angestellte, in der Mehrheit aber Arbeiter in der Produktion. Der Migrantenanteil ist überproportional. Die überwältigende Mehrheit, türkischsprachig, ungefähr 300, dazu russischsprachige, polnisch sprechende, portugiesischsprachige und ne Menge anderer Einzelnationalitäten..

Es handelt sich um einen Schichtbetrieb, der in den 50er Jahren gegründet wurde. Von Anfang an wurde in Schichten gearbeitet, und zwar im klassischen Dreischichtbetrieb, Montag bis Freitag, eine Woche Früh-, dann Nacht- dann Spätschicht (rückwärtsrollierend, lange Blöcke – eines der ungesündesten Systeme).
Vor 10 Jahren wurde in einem kleineren Bereich (45 Leute) vollkontinuierliche Schicht (Vollkonti) eingeführt. Wegen günstiger Kräfteverhältnisse im Betrieb gelang es, ein relativ gutes System durchzusetzen: Vorwärtsrollierend, fünf Schichtgruppen zwei Tage Früh-, zwei Tage Spät-, zwei Tage Nachtschicht, dann vier Tage frei. (Kurze Blöcke vorwärtsrollierend: Nach dem Stand der arbeitsmedizinischen Erkenntnis erstrebenswert.)

Aufs Jahr bezogen ergibt das 32 Stunden pro Woche, aber es wurden 37,5 Stunden gemäß Chemieflächentarif bezahlt. Das sind angenehme Bedingungen gemessen daran, dass es sich eben um Schichtarbeit handelt.
Vor 5 Jahren wurden noch mal 45 Beschäftigte in dieses System hineingenommen. Damit hatte der Betrieb 500 Schichtarbeiter, knapp 100 im Vollkontisystem, 350 bis 400 im alten Dreischichtsystem.
Wie hat Euer Konflikt im Betrieb begonnen?
Letztes Jahr hat Arbeitgeber buchstäblich alle Betriebsvereinbarungen zur Arbeitszeit gekündigt, mit dem Ziel „flexible“ Arbeitszeiten einzuführen. Flexibel sollte heißen: je nach Auftragslage zwischen verschiedenen Schichtsystemen hin- und herschalten zu können, mit kurzer Ankündigungsfrist von zwei bis vier Wochen. Vier Schichtgruppen sollten sich bei guter Auftragslage volle sieben Tage untereinander aufteilen. Das hätte zu einer 42 Stunden-Woche geführt, wie sich leicht ausrechnen lässt, plus einem Rhythmus von sieben Tagen Arbeit, zwei Tagen frei. Wer nachts aufhört, braucht natürlich den „freien“ Tag zum Ausschlafen, d.h. der Tag ist in Wirklichkeit nicht frei, wird aber als solcher gezählt.

Mit der Kündigung der Betriebsvereinbarungen wurde gleichzeitig eine arbeitgeberorientierte Rechtsanwaltskanzlei engagiert und versucht, die Belegschaft und den Betriebsrat einzuschüchtern. Wenn wir nicht jetzt flexibel würden, und dann die Aufträge und oh Gottohgottohgott …
Der Betriebsrat reagierte nach dem Motto: Immer mit der Ruhe, weil wir ja wussten, in solchen Konzernen ist es so, je länger die Sache dauert, umso mehr wächst der Druck auf die Manager, weil die in der Regel zeitnahe Ergebnisse versprochen haben. Faktisch hat es sich dann auch bis Februar hinausgezögert, so sechs bis acht Monate. Bis dann die Einigungsstelle zusammengetreten ist. Das war schon ungewöhnlich lange. Das liegt auch daran, dass wir mit der Einsetzung der Einigungsstelle bis zum Landesarbeitsgericht gegangen sind und dann haben wir da noch sechs Wochen gewonnen.

Arbeitszeit ist ein Thema bei dem rechtlich sehr viel schon klar ist. Es ist da ganz viel ausgeurteilt. Es ist eben Mitbestimmung nach Betriebsverfassungsgesetz. Rein rechtlich konnten wir nur verlieren, weil die Einigungsstelle gar nicht anders kann, wenn die Kollegen bessere Bedingungen als der Tarifvertrag haben und der Arbeitgeber sagt, jetzt wollen wir mal zurück zum Tarifvertrag. 
Aber 42 Stunden sind doch nicht Tarifvertrag?
Nein, aber unser Tarifvertrag ist ja schön flexibel und sagt, unsere 37,5 Stunden müssen im Durchschnitt eines Jahres erreicht werden. D.h. mit Freischichten und Arbeitszeitkonten lässt sich das natürlich immer machen. Dann arbeitest du eben 6 Monate wie ein Galeerensträfling und hast danach 6 Monate Zeit, dich zu „erholen“, aber das nützt gesundheitlich natürlich überhaupt nichts.

Wie hat sich die Angelegenheit dann entwickelt? Die Ausgangsbedingungen erscheinen so gesehen ja nicht rosig.

Das war die Ausgangslage: Rechtlich konnten wir nur verlieren. Wir mussten also betriebliche Widerstandsformen entwickeln, damit die Firma von ihren Maximalforderungen abrückt.

Es ist auch einiges passiert. Die Freischichten haben vor dem Tor demonstriert. Wir haben auch Versammlungen außerhalb des Betriebes mit recht guter Beteiligung gehabt. Wir haben uns fünfmal mit ca. 50 Leuten getroffen. Nun gut, wir haben auch 50 Vertrauensleute, aber die Erfahrung zeigt, bei solchen Konflikten kommen Kollegen aus den betroffenen Abteilungen, die keine Vertrauensleute sind, dafür kommen Vertrauensleute aus anderen Abteilungen dann nicht. Bei einer Versammlung am Sonntagnachmittag waren wir auf einmal 120 Leute, die sich in der Freizeit getroffen haben, um zu besprechen, wie wir weiter vorgehen sollen. Einer der Höhepunkte war zur Betriebsversammlung im November. Da haben die Kollegen der Nachtschicht, die also eigentlich frei hatten, vor dem Tor demonstriert und sind dann reingekommen und haben die anderen abgeholt. Auf dem recht weiträumigen Werksgelände haben sie dann demonstriert, mit Transparenten und Trillerpfeifen und allem drum und dran.

Das war schon extrem beeindruckend, zumal sie sich dann die Zeit genommen haben, für die 100 Meter bis zur Betriebsversammlung mit 400 Leuten 20 Minuten lang gemessenen Schrittes zu gehen. Die anderen 400, die auf der Betriebsversammlung waren, standen natürlich auf, als die reinkamen und klatschten. Da gab’s schon Gänsehaut rauf und runter!
Und dann haben die Kollegen tatsächlich sechs Stunden Betriebsversammlung gemacht. Die Kollegen haben mehr gesprochen, als Betriebsrat und Geschäftsführung zusammen. Das war nochmal anders als sonst, wo wir durchaus gute Beteiligung der Kollegen haben und eben nicht, wie in der Mehrheit der deutschen Betriebe, einen Rechenschaftsbericht des Betriebsrates, eine Propagandarede des Geschäftsführers und dann gehen alle.

Dann kam es zur Einigungsstelle. Selbst zur Einsetzung der Einigungsstelle durch das Landesarbeitsgericht in Kiel sind dann 50 Leute mit dem Bus gefahren, um das zu begleiten und zu zeigen, dass sie sich das nicht
gefallen lassen wollten. Die Einigungsstelle selbst war dann für die Betriebsratsseite schon sehr unerquicklich. Die Unternehmensseite ist von ihren Positionen nicht abgewichen, weil sie wusste, dass sie sich rechtlich durchsetzen könnte.
Anfang April haben wir uns dann geeinigt. Wie das so ist bei Einigungsstellen, hat der Vorsitzende für beide Parteien Dinge an die Wand gemalt, die sie nicht haben wollten, um sie zum Kompromiss zu drängen. Wir haben also tatsächlich eine Betriebsvereinbarung über ein neues Arbeitszeitmodell gemacht. Es hat keinen Spruch der Einigungsstelle gegeben.
Was habt Ihr unterm Strich erreicht?
Die knapp 100, die bisher schon Vollkontischicht gearbeitet haben, arbeiten in Zukunft nicht wie bisher wöchentlich 32 Stunden im Jahresdurchschnitt, sondern 37,5. Das ist natürlich für die eine spürbare Verschlechterung. Die 300 anderen Schichtarbeiter kommen aus ihrem alten Dreischichtsystem (rückwärtsrollierend, Blöcke von einer Woche) raus in ein neues System hinein, mit jeweils zwei Tagen pro Schicht, vorwärtsrollierend, drei freie Tage. Viele von denen hatten kurze Zeit schon mal in dem alten Vollkontisystem gearbeitet, wussten also, wie sich das im Vergleich zu dem alten Dreischichtsystem anfühlt.

Da hatte das neue Modell eine hohe Akzeptanz. Wir konnten dieses Modell gegen den Widerstand der Unternehmerseite mit ihr vereinbaren. Die wollte ja eigentlich ein flexibles Modell mit mal mehr, mal weniger Arbeitszeit. Sie kommt aber auch aus diesem System raus, wenn die Auftragslage das mal nicht hergibt und kann dann zum alten System zurück.
Allerdings ist die Ankündigungsfrist mindestens zwei Monate für einen Wechsel von dem einen in das andere System und die Regeldauer soll mindestens sechs Monate betragen.

Das ist aus Betriebsratssicht sicherlich eine Niederlage. Die Mitbestimmung ist da zum großen Teil weg, weil sie ja mit der Betriebsvereinbarung abgefrühstückt ist. Sonst ist Mitbestimmung bei der Arbeitszeit ja eine der stärksten Möglichkeiten für Betriebsräte. Und dann gibt es noch die Koppelung an die Auftragslage. Ist sie schlecht, arbeitet ihr weniger, heißt es, ist sie gut, dann mal mehr, vor allem auch am Wochenende.

Dennoch haben die 300, die in dieses System hineinkommen, das Gefühl, einen Erfolg erreicht zu haben. Wir hätten mit ihrer Unterstützung die Firma in ein System gezwungen, was die Firma ursprünglich nicht wollte. Die Kollegen wollen diese kurzen, vorwärtsrollierenden Blöcke, sie wissen, dass das gesundheitlich für sie besser ist. Sie verdienen dabei auch mehr im Monat und schließlich gehen sie des Geldes wegen zur Arbeit und nicht um die alten Klamotten aufzutragen. 
Was gab es noch an Kröten zu schlucken?
Leider hat sich die besagte „Flexibilität“ durchgesetzt, d.h. wir sind zum Anhängsel der höchstens vom Unternehmen zu beeinflussenden Auftragslage geworden. Wir haben als Betriebsrat einen Teil der Mitbestimmung verloren. Die 90-100, die wirklich etwas verloren haben, sind natürlich auch unzufrieden – auch mit dem Betriebsrat -und empfinden das als Niederlage. Aber die anderen sehen das nicht als Niederlage, sondern haben das Gefühl, etwas getan und damit etwas erreicht zu haben. Das ist ja auch richtig. Zum Beispiel, als es mit der Einigungsstelle losging und der vorsitzende Richter sich den Betrieb angeschaut hat, haben die Kollegen sich innerhalb von zwei Tagen 300 grüne T-Shirts besorgt und an dem Tag trug in der Produktion wirklich jeder ein solches grünes T-Shirt und sie trugen alle einen grünen Button, der einen Zeigefinger zeigt, der eine „21“ zerquetscht. „21“ steht für das Schichtmodell der Geschäftsführung – 21 Schichten in 4 Wochen.

Und diese Buttons werden sie wohl noch in drei Jahren mit Stolz tragen. Und das hat zu einer enormen Geschlossenheit geführt. Bisher saßen im Pausenraum die türkischsprachigen Kollegen zusammen an einem Tisch, die russischsprachigen oder polnischsprachigen an anderen usw. Bei Mobilisierungen in der Vergangenheit gab es auch immer Unterschiede. Die türkischsprachigen Kollegen waren immer zuerst vorm Tor. Diesmal waren sie alle immer dabei. Das hat so richtig einen Schub gegeben. Einmal ist eine Schicht zum Ort der Einigungsstelle gegangen, um sich nach dem Stand der Verhandlungen zu erkundigen. Der Geschäftsführer ist dann zuerst nicht rausgekommen, als sie gewartet hatten, dann sind sie weggegangen und später wieder gekommen, haben also richtig die Arbeit niedergelegt, um Druck auszuüben. Sie haben alle eine Abmahnung bekommen. Das wussten sie auch vorher. Im Zuge der Aufräumung des Konflikts sind die Abmahnungen aber später wieder zurückgenommen worden. 

Nun ist es ja ungewöhnlich, dass eine Belegschaft nicht alles dem Betriebsrat überlässt. Was hat zu dieser Selbsttätigkeit geführt?

Dass wir als Betriebsrat immer so „basisorientiert“ und auf die Beteiligung und das Miteinbeziehen der Kollegen gearbeitet haben.
Wenn die Leute mit uns unzufrieden sind, dann sagen sie schon mal: „Dann tret’ ich beim Betriebsrat aus“, womit sie meinen, dass sie aus der Gewerkschaft austreten wollen. Schließlich haben wir sie mal aufgenommen. Wir sind sehr eng an den Leuten dran. Wir haben auch im Rahmen dieses Konflikts mehrere Betriebsversammlungen und Abteilungsversammlungen, teils auch ohne Geschäftsführung, durchgeführt.

Das haben wir schon immer so gemacht. Wir haben auch Vertrauensleute, eben solche Kerne in den einzelnen Abteilungen. Wir laufen als Betriebsräte auch immer wieder durch die Hallen und diskutieren. Auch bei den außerbetrieblichen Treffen waren wir immer da. Ohne uns hätte es die wahrscheinlich nicht gegeben. Aber ohne die Kollegen wäre das auch nichts gewesen. Wir haben auch immer gesagt: „Das lässt sich in der Einigungsstelle nicht gewinnen, ihr müsst die Firma beeindrucken.“ 

Ihr habt euch als Betriebsräte also nicht nur im Rahmen des Betriebsverfassungsgesetzes verhalten. Rechtlich hätte man sich darüber ja auch streiten können, ob das immer so erlaubt war. Hat es da entsprechende Auseinandersetzungen gegeben?

Zwei Betriebsratskollegen wurden betriebsverfassungsrechtlich abgemahnt. Das ist was anderes als üblicherweise eine Abmahnung, wo mit Entlassung gedroht wird, für den Fall dass jemand etwas noch einmal macht. Hier war die Drohung, die Entfernung aus dem Betriebsrat über das Arbeitsgericht zu betreiben. Diese Abmahnungen wurden inzwischen auch wieder zurückgenommen. Den Betriebsratsmitgliedern wurde vorgeworfen, sich an der Arbeitsniederlegung beim Besuch der Einigungsstelle beteiligt zu haben. In Wirklichkeit waren die natürlich nur da, um die Kollegen zu beruhigen, und um den Betriebsfrieden zu wahren . 🙂

Nun ja, es gibt da so eine Grauzone. Wir haben niemanden dazu aufgefordert, die Arbeit niederzulegen. Was man aber am Sonntagnachmittag diskutiert, ist schließlich Privatsache. Da wird schon mal darüber geredet, was die Kollegen in den Abteilungen diskutieren müssen, gucken, sind die Leute bereit, ist die Stimmung reif, und gehen wir gemeinsam los. Wenn wir sozusagen öffentlich im Betrieb gefragt wurden, „dürfen wir die Arbeit niederlegen?“ Haben wir schon gesagt, „natürlich dürft ihr das nicht“, aber auch, dass es für die Gegenseite ums
o schwieriger wird, je mehr sich an so einer Aktion beteiligen. Und dann hat sich eben eine Schicht getraut. Und hat das ja auch erfolgreich überstanden. Die Abmahnungen sind ja zurückgenommen worden. Entsprechend selbstbewusst sind die Kollegen jetzt natürlich.

So etwas wird ja – je nach politischer Haltung – mal „wilder Streik“ oder „spontane Arbeitsniederlegung“ genannt. Welches Verhältnis hatte eigentlich die Gewerkschaft dazu gehabt?

Dazu ist es wichtig, auf die spezielle Situation einzugehen. Niemand denkt bei Norddeutschland an die Chemieindustrie. Es gibt hier in Hamburg drei große Chemiebetriebe. Das ist die ehemalige Norddeutsche Affi (jetzt Aurubis) mit 2000 Beschäftigten und einem sehr hohen Organisationsgrad, dann gibt es Beiersdorf mit 4000 Beschäftigten und einem lächerlichen Organisationsgrad und dann gibt es uns mit ordentlichem Organisationsgrad und noch eine Reihe kleinerer und kleinster Buden. D.h. im Rahmen der örtlichen Gewerkschaft sind wir einer von den drei wichtigsten Betrieben. In jeder Tarifrunde kriegen wir einen Bus für irgendeine Kundgebung voll. D.h. sie wissen schon, was sie an uns haben.

Das zweite ist, wir haben sie nicht gefragt. Wir machen eh vieles allein. Wir arbeiten eng mit einer Anwaltskanzlei zusammen, können den Tarifvertrag selber lesen, und von daher haben wir nicht gefragt, ob sie uns unterstützen. Eine weitere Besonderheit ist der Streik bei Neupack, der natürlich viele Kräfte der haupt- und ehrenamtlichen Funktionäre gebunden hat. Ansonsten haben wir ein gutes Verhältnis und sind in einigen Gremien vertreten.

In der konkreten Auseinandersetzung in den ganzen Monaten haben wir alles gekriegt, was wir wollten. Anmeldungen zur Demo, Material usw. usf.

Der gewerkschaftliche Apparat hat also zumindest nicht gegen euch gearbeitet. Das Verhältnis ist auch nicht getrübt durch solche Aktivitäten?

Nein, überhaupt nicht. Die IG Chemie, oder heute die IG Bergbau, Chemie und Energie, gilt ja als besonders sozialpartnerschaftlich. Aber immer dran denken: Der „linke“ IG Metaller, Steinkühler, und der eher „rechte“ Rappe der IG Chemie haben gemeinsam ein Wirtschaftsprogramm für den Wahlkampf der SPD geschrieben. Es ist doch nur eine Nuancierung innerhalb der Sozialdemokratie, wie man Gewerkschaften führt und kein ernsthafter Unterschied, auch wenn manche IG Metaller das nicht gerne hören. Es gibt da ja schon seit Langem ganz enge Abstimmungen in der Tarifpolitik, vor der Unterschrift unter einen Tarifvertrag wird immer miteinander telefoniert und gefragt, ob das für die andere Gewerkschaft so in Ordnung geht. Darüber wird nicht laut geredet, es wird einfach so gemacht.

Und was die Funktionäre angeht, gibt es natürlich den Doppelcharakter. Auf der einen Seite haben sie ein bürgerliches Bewusstsein, sind im Kapitalismus verhaftet, aber sie brauchen eben die Mitglieder, denn ohne Mitglieder keine Gewerkschaft und kein Apparat. Deswegen muss man gelegentlich auch mal streiken, kämpfende Leute unterstützen. Praktisch wirkt sich das so aus, dass ein Gewerkschaftssekretär vor Ort immer glücklich ist über aktivistische Vertrauensleutekörper oder Gruppen wie uns, weil die Mitglieder gewinnen. Und wenn die Gewerkschaft mal was machen muss, bringen sie auch die Leute zur Kundgebung. Damit das Bild vom Gewerkschaftsbürokraten, der die kampfeswilligen Arbeiter vom Kampf abhält, stimmt, müsste es sich noch viel mehr zuspitzen. Da muss man sich wohl die Neu pack-Sache mal genauer angucken. Aber auch da bin ich mir nicht so sicher. 

War das bei Euch ein rein betrieblicher Konflikt, oder gibt es eine Perspektive über den Einzelbetrieb hinaus? Oder anders: Denken Kollegen, die nicht schon immer politisch gedacht haben auch über den betrieblichen Rahmen hinaus?

So ein Aufbrechen der Routine ist natürlich immer etwas ganz Besonderes. Aber es führt eben nicht automatisch zu einer Politisierung. Es kommt in der betrieblichen Auseinandersetzung schon zu einer Radikalisierung. Drei Monate vorher hätten die Kollegen nicht gesagt, jetzt müssen wir mal die Arbeit niederlegen. Aber diese Radikalisierung ist eben tatsächlich rein auf den Betrieb, auf dieses konkrete Problem, beschränkt. Es ist uns nicht gelungen, die 40 km zu Neupack zu fahren oder sich mit diesem anderen kämpfenden Betrieb mal auseinanderzusetzen. Eine gesellschaftliche Reflexion oder eine Verallgemeinerung hat es nicht gegeben.

Ich würde nicht ausschließen, dass der Eine oder Andere jetzt Zeitung oder Fernsehen etwas anders betrachtet, aber in der Masse findet das nicht statt. Die Leute, die eine Führungsrolle übernommen hatten, haben sich selbstverständlich persönlich entwickelt. Das ist immer so in solchen Auseinandersetzungen. Aber das ist noch keine politische Radikalisierung. Es ist nur ein Ansatzpunkt und man kann anders miteinander reden.

Ein Beispiel: Seit einiger Zeit plant Honeywell, eine Bremsbelagfabrik in Rumänien aufzumachen. Damit ist klar, dass es eine Alternative zu uns geben wird. Nicht in den nächsten zwei Jahren, aber vielleicht in den nächsten fünf bis acht. Das ist allen im Betrieb klar. Es gab in unserem Konflikt nun auch die Forderung, ja, wir sind bereit anders zu arbeiten, wenn es Arbeitsplatzgarantien gibt. Wir haben diese Forderung nicht als Hauptforderung erhoben, weil sie uns nicht durchsetzbar erschien. Und was würde dann passieren? Gibt es dann eine Radikalisierung nach dem Motto: „Schweinerei, nicht einmal das sind sie bereit zuzugestehen?“ Oder führt das zu der Haltung: „Siehst du, wir können doch nichts erreichen“? Dieser Konflikt spielt ja in jeder Auseinandersetzung eine Rolle.

Der Sozialdemokrat fordert am liebsten gar nichts, dann gibt es auch keine Niederlage. Wir haben versucht, realistische Forderungen zu erheben, um ein Erfolgserlebnis zu haben. Aber auch da sind wir nicht gefeit davor, mal zu viel oder zu wenig zu fordern. Die Stimmung im Betrieb ist: Jetzt wird Rumänien aufgemacht, also hier gibt es ein Sterben auf Raten. Dann verteidigen wir unser Fell und versuchen, dass es uns bis dahin wenigstens gut geht. 
Enthält das nicht auch ein Stück Resignation?
Ja, aber zu bedenken ist: Das Durchschnittsalter in der Produktion ist fast fünfzig Jahre. Viele sind in einem Alter, wo du guckst, wie kommst du bloß heil raus aus dem Arbeitsleben. Es gab bisher immer Abfindungen. Und damit rechnen die Leute, ich komm mit der Abfindung durch bis zur Rente, oder ich geh’ nach Hause in die Türkei, solche Sachen, auch wenn sie illusionär sind, spielen eine Rolle. So eine Stimmung „wir werden um unseren Arbeitsplatz kämpfen“, die gibt es – jedenfalls im Moment – nicht. Meine Vermutung ist auch eher, dass wir langsam immer weniger werden und langsam schrumpfen, statt dass es den großen Knall gibt.
Dann ist das gar nicht so sehr als Erpressung angekommen?
Die Erpressung hätte ja lauten müssen: „Wenn ihr nicht, dann …“ Aber das hat es nicht gegeben. Eher hieß es, wenn wir überhaupt Aufträge haben wollen, dann müssen wir flexibler werden. Das hat aber nicht verfangen, weil die Leute wissen, es ist völlig egal, ob wir flexibler werden, der Konzern entscheidet nach eigenem Gutdünken, ob er nach Rumänien geht oder ni
cht. So war die Stimmung dann, „Wir verteidigen unsere Arbeitsbedingungen hier und heute.“ Konkurrenzfähigkeit hat da keine Rolle gespielt. Vorrangig war, es sollte sich nichts verschlechtern. Dennoch hat sich für diese 90 Leute was massiv verschlechtert, das ist klar. Das wissen alle. Die anderen 300 finden das, auch zu unserem Erstaunen, gar nicht schlecht. Obwohl auch sie hinnehmen mussten, reell nur noch 13 freie Wochenenden im Jahr zu haben. Wir hatten den Stellenwert des freien Wochenendes höher eingeschätzt.

Jetzt ist der Konflikt erst mal zu Ende. Wird sich der Teilerfolg und die Erfahrung mit der Selbsttätigkeit beim nächsten Konflikt auswirken?

Die wichtigste Schrift, die man aus meiner Sicht dazu gelesen haben sollte, ist Ernest Mandels „Lenin und das Problem des proletarischen Klassenbewusstseins“. Die Erklärung der Vorhut, und wie das funktioniert, ist einfach genial. Ich könnte stundenlang darüber reden, wie sich das in meiner praktischen Erfahrung bisher bestätigt hat.

Es gab jetzt einige Leute, die mehr kämpfen wollten, die früh mit Gedanken über Arbeitsniederlegung angefangen haben. Wir haben die nicht behindert, aber die hatten am Anfang keine Mehrheit, bis auf die eine Gruppe an diesem einen Tag. Natürlich wird es einen Teil geben, die jetzt den Schluss ziehen, wir hätten von Anfang an radikaler sein sollen. Andere sagen, was wir erreicht haben, ist doch nicht schlecht. Es waren Leute dabei, die noch nie demonstriert haben.

Eine Anekdote zur Illustration: Wir haben einen polnischen Kollegen von den Ausmaßen eines Schranks. Und bei uns im Betrieb gibt jeder jedem die Hand, auch der Geschäftsführer, wenn er in die Halle kommt. Nun kam der Geschäftsführer zu diesem Kollegen und streckte seine Hand aus. Da guckte der Kollege kurz hoch, zeigte stumm auf seinen grünen Button mit dem Finger, der die „21“ zerdrückt, schüttelte den Kopf und beugte sich wieder runter zu seiner Arbeit. Das demonstriert schon das neue Selbstbewusstsein, welches die Leute in diesem Konflikt gewonnen haben. Das wird die Ausgangsbasis für die nächsten Auseinandersetzungen sein. 

Ein Gesichtspunkt ist auch, dass heute Kollegen ziemlich am Anfang die Idee einbringen, wir müssen ins internet, wir müssen auf facebook sein.
Das haben dann auch Kollegen gemacht, wer sich das angucken will geht zu:

www.jurid-initiative.hksm.net

Ob das aber wirklich genutzt wird oder was bedeutet, würde ich für diesen Konflikt mal mit einem Fragezeichen versehen. Aber der Aufbau, die Gestaltung zeigt, was für Potentiale da bei Kollegen heute da sind, und dass die genutzt werden können und sollen.
Welche nächsten Auseinandersetzungen?
Die Unternehmensführung will noch mal Geld aus der Bude holen. Der Geschäftsführer hat auf der Betriebsversammlung schon gesagt, dass die jetzige Flexibilisierung nicht reichen wird, um den Laden profitabel zu machen. Wir erwarten eigentlich weitere Programme, neue Angriffe werden voraussichtlich kommen. Aber was dann kommt, ist schwer vorherzusagen. Wie werden die Produktionskollegen reagieren, wenn z.B. die Versandkollegen ausgegliedert werden sollen? Die Versandkollegen hatten sich jetzt nicht beteiligt, sie sind eben keine Schichtarbeiter. Da habe ich meine Fragezeichen.
Geht es den Produktionskollegen an den Kragen, kommt es drauf an: Je eher das passiert, umso eher fangen die dort an, wo sie jetzt aufgehört haben. Wenn das in zwei Jahren erst ist, beginnt das sich zu verschütten.
Gab es dazu schon früher Erfahrungen?
Wir hatten schon 1996 eine Auseinandersetzung, auf die manche noch heute stolz sind. Da hatten wir drei Tage Betriebsversammlung und die Tore blockiert. Jetzt wurde ein Transparent hochgehalten „Habt ihr nichts aus 1996 gelernt?“ Aber das war etwas hohl, denn das was von 1996 übrig war, war verschüttet. Die Erfahrung, wie man sich organisiert, wie man diskutiert, wie man mobilisiert, die war weg. Es bleibt natürlich ein Kern, wie auch Mandel sagt, der diese Erfahrung aufbewahrt, auch etwas konservativ wird, weil er weiß: Was gewonnen wurde, lässt sich auch wieder verlieren, wenn man zu leichtsinnig agiert.

Aber bei den meisten Kollegen ist das eher, wie wenn die Veteranen vom Krieg erzählen. Sie erinnern die Höhepunkte, aber nicht, wie schwierig es damals eigentlich war. Auch 1996 brauchten wir 1½ Jahre Vorlauf. Diesmal waren es acht Monate. Es gibt wohl viele solche betrieblichen Auseinandersetzungen, von denen kein Mensch etwas weiß, wie radikal sie im Einzelfall auch immer sein mögen. Wer weiß schon von unserer Auseinandersetzung? Bei uns weiß kaum einer was von den Sachen, die bei Alstom in Mannheim laufen. Es gibt eben nicht diese verbindende Geschichte.

Ein Ergebnis ist vielleicht, dass die Vertrauensleute zum Gewerkschaftstag im Herbst einen Antrag zur Arbeitszeitverkürzung gestellt haben. Eigentlich müsste die Arbeitszeit verkürzt werden. Jetzt können wir mit ein paar Leuten mehr im Betrieb darüber reden. Wer Schicht arbeitet, weiß schon, dass das bei einer Verteilung auf 30 Stunden wesentlich angenehmer geht, als wenn es auf die 37,5 Stunden des derzeitigen Tarifvertrages geht. Da kommt man dann überhaupt etwas mehr zum Leben neben der Schichtarbeit. Aber ich will das nicht übertreiben. Lass es vielleicht 20 oder 30 Leute sein, die sich diese Art von Gedanken machen.  

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