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Länder

Afghanistan: Scheitern eines neuen kolonialistischen Projekts

Von M. Anwar Karimi | 01.09.2007

Sechs Jahre nach dem Einmarsch der US-Truppen in Afghanistan sind wieder weite Teile des Landes unter Kontrolle der Taliban oder deren Verbündeten und die Besatzungsmächte entvölkern tagtäglich ganze Landstriche dank ihrer Luftwaffen- Überlegenheit. So gab es in Afghanistan seit Anfang des Jahres 2007 bis Mitte August über 3000 zivile Tote allein durch die NATO .

Sechs Jahre nach dem Einmarsch der US-Truppen in Afghanistan sind wieder weite Teile des Landes unter Kontrolle der Taliban oder deren Verbündeten und die Besatzungsmächte entvölkern tagtäglich ganze Landstriche dank ihrer Luftwaffen-Überlegenheit.

So gab es in Afghanistan seit Anfang des Jahres 2007 bis Mitte August über 3000 zivile Tote allein durch die NATO .
Illusion der Demokratisierung
Nach der Vertreibung der Taliban im November 2001 bestand in der Weltöffentlichkeit eine weit verbreitete Illusion, die westlichen Mächte möchten die Staatlichkeit Afghanistans wiederherstellen und das von Bürgerkrieg geschundene Land durch zivile wirtschaftliche Hilfe zu einem Muster der Demokratie und des Wohlstands für andre islamische Länder machen.

Noch während des US-geführten Krieges gegen Afghanistan fand unter formaler UN-Schirmherrschaft Ende 2001 eine internationale Konferenz auf dem Petersberg bei Bonn statt, auf der die Grundlage für den künftigen Status des Landes gelegt wurde.

Unter massivem Druck seitens der US-Vertreter und unter Beteiligung der Nordallianz und einer monarchistischen Gruppe wurde eine provisorische Regierung gebildet. Hamid Karzai, der seit Beginn des afghanischen Bürgerkrieges (1979) enge Verbindungen zur CIA unterhalten hatte, auf ihrer Gehaltliste stand und sich im Indischen Ozean auf einem US-Kriegsschiff befand, wurde zum Interimsministerpräsidenten gekürt.

Da diese Regierung weder Legitimation noch Rückhalt in Afghanistan hatte, wurde sie nach kolonialem Muster von einer internationalen „Schutztruppe” (gebildet von Soldaten aus NATO-Staaten) nach Kabul begleitet und vor Ort weiter gesichert (bis jetzt besteht die Leibgarde von Hamid Karzai aus amerikanischen Marinesoldaten in Zivil).

Petersberg steht für eine neue kolonialistische Konzeption, dabei wurde weder völkerrechtlichen, geschweige denn afghanischen Vorstellungen Rechnung getragen. Afghanistan ist seitdem zu einem regelrechten Übungsplatz von USA und NATO geworden, wo die neuesten Waffen und die Einsatzfähigkeit der Soldaten getestet werden. Das afghanische Volk war somit vor vollendete Tatsachen gestellt worden. Auf der Grundlage des Petersberger Fahrplans wurden zwischen 2002 und 2005 mehrere Scheinwahlprozeduren durchgeführt.

Im Dezember 2001 war Karzai in das Amt des Ministerpräsidenten eingeführt und dann im Juni 2002 auf einer improvisierten Loya Djirga (Ratsversammlung) zum Präsidenten gewählt worden, wobei 24 Stimmen mehr abgegeben wurden als Abgeordnete anwesend waren. An der Tür zum Wahlzelt waren Abgeordnete durch Minister und Gouverneure per Unterschrift verpflichtet worden, für Karzai zu stimmen. Im Vorfeld dieser Wahlen hatten die USA 10 Mio.$ ausgegeben, um für ihn Stimmen zu kaufen.

Anfang Januar 2004 wurde auf einer weiteren Loya Djirga eine Verfassung verabschiedet und Afghanistan zur Islamischen Republik proklamiert. 2004 wurden dann Präsidentschaftswahlen und 2005 Parlamentswahlen abgehalten, wobei Drohung, Gewalt, Mord und Stimmenkauf die Regel waren.

Bei all diesen Aktionen war die internationale Gemeinschaft präsent: die Vereinten Nationen mit ihrem Beauftragten für Afghanistan, Lakhdar Brahimi, die Europäische Union mit ihrem Repräsentanten, dem spanischen Diplomaten Francesc Vendrell, und die Vereinigten Staaten als Hauptakteur mit ihrem Botschafter Zalmay Khalilzad (heute US-Botschafter in der UNO). Alle entscheidenden Beschlüsse wurden entweder im Büro Karzais oder in der US-Botschaft gefasst.
Die Teilung Afghanistans
Es war dann nur logisch, dass die NATO auf ihrem Gipfeltreffen in Istanbul am 28.6.2004 die Entmachtung bzw. Unterordnung der formal UN-mandatierten Schutztruppe International Security Assistance Force (ISAF) unter NATO-Kommando beschloss.
Das Land wurde nach einem Operationsplan des NATO-Hauptquartiers unter den Besatzern in vier etwa gleich große Sektoren aufgeteilt. Die Deutschen im Norden, Italiener im Westen, Amerikaner und Franzosen im Osten und Briten, Kanadier und Niederländer im Süden wobei die Soldaten der restlichen 31 anderen beteiligten Ländern auf die 4 Militärzonen aufgeteilt wurden.

Militärgefängnisse für gefangen genommene Kämpfer wurden überall auf Militärbasen errichtet, so unter andrem das berüchtigte amerikanische Gefängnis von Bagram im Norden Kabuls. Dadurch sind faktisch die Aufsichtsfunktion der UNO sowie die Souveränität und die Eigenstaatlichkeit Afghanistans aufgehoben worden. Diese Demütigung der Afghanen ist der Nährboden, auf dem der Widerstand wächst. So lange militärische Besetzung und Fremdbestimmung andauern, wird in Afghanistan keine Ruhe, kein Wiederaufbau und keine zivile Lösung des Konfliktes möglich sein.

Da USA und NATO und damit auch Deutschland beabsichtigen, für sehr lange Zeit im Lande zu bleiben, haben sie dafür entsprechende politische und militärische Voraussetzungen geschaffen. Noch vor den Parlamentswahlen hatte Karzai eine so genannte „Nationale Konferenz” einberufen, auf der 100 Personen seines Vertrauens zusammenkamen. Sie „bevollmächtigten” ihn, mit den USA einen Vertrag zu schließen, auf dessen Grundlage die Militäreinheiten der Vereinigten Staaten auf unabsehbare Zeit in Afghanistan bleiben dürfen.
Afghanistan hat weder eine souveräne noch eine unabhängige Regierung. Das jetzige Kabuler Kabinett besteht zu über 50% aus American-Afghans, den Rest stellen Euro-Afghanen und einige willfährige Warlords und Drogen-Barone. Hinzu kommen noch die US-Berater, die ausnahmslos in allen Ämtern präsent sind und die Entscheidungskompetenz innehaben. Unter dem formalen Dach der UNO wurde das Land seit Petersberg zu einem Protektorat der „internationalen Gemeinschaft” degradiert.

Da die internationale Gemeinschaft zum größten Teil aus NATO-Ländern unter US-Führung besteht, ist sie selber voreingenommen und Partei. Sie kann die Probleme des Landes nicht lösen – im Gegenteil, sie ist Teil des Problems geworden.
Absatzmarkt und Drogen­geschäfte
Gerade durch den Status als Protektorat ist die Wirtschaft Afghanistans zerstört worden. Annähernd 99% aller Waren auf dem afghanischen Markt (von Lebensmitteln abgesehen) sind importiert. Afghanistan ist längst zum Absatzmarkt für die Exporteure der Industrieländer geworden. Der einheimischen Wirtschaft wird jegliche Chance genommen, sich zu entwickeln.
 Da die Heroin-Barone im Staatsapparat integriert sind, nutzen sie den „Wirtschaftsboom” zur Geldwäsche. Sie invest
ieren nur im Luxussegment, in Hotels, Häuser und Lebensmittelproduktion für den Bedarf zahlungskräftiger Ausländer.

Seit dem Sturz der Taliban hat sich die Mohn-Anbaufläche verhundertfacht. Afghanistan produziere mittlerweile fast 95% der weltweiten Opium-Ernte, heißt es nach Angaben aus US-Regierungskreisen in einem unveröffentlichten UN-Bericht. Die Mohnproduktion sei damit im Vergleich zum Rekordjahr 2006 nochmals um 15% angestiegen. Der Bericht soll im September vorgelegt werden.

Afghanistan war 2006 das Herkunftsland von insgesamt 92% der weltweiten Opiumproduktion. Das waren 7.286 Tonnen – 43% mehr als noch 2005. 2001, als noch die Taliban an der Macht waren, standen nur 1685 Hektar für Mohnanbau zur Verfügung, das ist rund hundert Mal weniger als 2006, als auf 165 000 Hektar Mohn angebaut wurde. Afghanistan ist längst zu einem „Drogenmafia-Staat” geworden.

Von dem einfachen Bauern angefangen bis zur Familie des Präsidenten Karzai sind alle am Drogengeschäft beteiligt. Schon vor einem Jahr hat die britische Botschaft in Kabul über die Drogengeschäfte der Familie Karzai berichtet. Als die Informationen von der Presse aufgegriffen wurden, kam es zu einem Disput zwischen Karzai und dem britischen Botschafter, in dessen Folge der Diplomat abberufen wurde. Dann war für einige Zeit Ruhe. Man wollte seine eigene Marionette nicht weiter diskreditieren. Nun berichten die westlichen Medien, unter anderen der US-Sender ABC, über die lukrativen Drogengeschäfte des Karzai-Bruders Ahmad Wali Karzai, der Vorsitzender des südlichen Provinzrates in Kandahar und Mitglied des afghanischen Parlaments ist. Nebenbei ist er Chef einer Bande, die Drogen über Iran und die Türkei nach Westeuropa schmuggelt. Dafür kassiert Ahmad Wali Karzai jährlich über 20 Mio.$ an Schutzgeldern.

Auch der einstige Warlord der Nordallianz und derzeitige Stellvertreter des Innenministers in Kabul, General Mohammad Daud, ist von Amts wegen verantwortlich für die Drogenbekämpfung und gleichzeitig selbst ein Drogenbaron. Also verwundert es nicht, dass der „Kampf gegen den Drogenanbau” unter Federführung der Briten auf ganzer Linie gescheitert ist. Den Exportwert der Opiumernte 2005 bezifferte das UN-Büro für Drogen und Kriminalität mit 2,7 Mrd.$.

Ein Wiederaufbau für breite Schichten der Bevölkerung findet hingegen kaum statt. Die Arbeitslosigkeit beträgt ca. 75%, mancherorts – vor allem in Osten und Süden – sogar 90%. So erklärt sich, dass dort bereits 80% der Bevölkerung mit den Taliban sympathisieren.
Die Hunderte Milliarden Dollars – auf diversen internationalen Geberkonferenzen dem Land versprochen und auf einem Sonderkonto bei der Weltbank geparkt – fließen über die 2 500 in Kabul stationierten und mit allen Vollmachten ausgestatteten „Non Governmental Organizations” (NGO) in die Geberländer zurück. Sie fungieren faktisch als Ersatzregierung und zerstören die afghanische Wirtschaft noch weiter. Einheimische Unternehmen erhalten von ihnen kaum Aufträge.

Da die NGOs in Afghanistan im Geld schwimmen, machen sie den täglichen Lebensbedarf der Afghanen unbezahlbar. Sie rauben dem Land sogar die Fachkräfte, indem sie Lehrer, Ingenieure, Ärzte usw., die von ihrem Gehalt nicht leben können, als Fahrer, Wächter, Türsteher oder gar als Zuhälter engagieren.
Barbarisierung des Kriegs
Als NATO-Protektorat hat Afghanistan weder politische noch ökonomische Perspektiven, geschweige denn eine friedliche Zukunft. Auch die Erweiterung des Bundeswehr-Engagements nach Süd-Afghanistan und der von Scharping bis Jung immer vor der Öffentlichkeit geheim gehaltene Einsatz des Kommandos Spezialkräfte (KSK), das seit Ende 2001 in Afghanistan im Einsatz ist und von dem jeweils nur scheibchenweise die Wahrheit ans Licht kommt, werden an der Sicherheitslage nicht viel ändern. Sollte die Bundeswehr künftig offen in Kämpfe mit dem Widerstand verwickelt werden, wird mit dem Mythos der angeblichen Beliebtheit der Deutschen bei den Afghanen aufgeräumt werden. Schon die bisherigen Anschläge auf Bundeswehrsoldaten legen davon ein beredtes Zeugnis ab. Die waffentechnologische Überlegenheit der NATO in Afghanistan führt nur zu einer zunehmenden Barbarisierung des Krieges. Auch die widerlichen Fotos von Leichenschändungen bei Kabul durch Soldaten der Bundeswehr bestätigen dies.

Nichts kann zynischer sein als Nato-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer, der in einem Interview mit der britischen Financial Times erklärte, dass die Nato in Afghanistan kleinere Bomben zum Einsatz bringen will, um die Zahl der Opfer unter den Zivilisten zu reduzieren. Durch die steigende Zahl an zivilen Opfern drohe die Unterstützung in der Bevölkerung verloren zu gehen. Die Wirklichkeit: Für Afghanistan war 2007 das blutigste Jahr, seit die US-Streitkräfte den Krieg am 7. Oktober 2001 mit Luftangriffen begannen. Nach Angaben der Regierung in Kabul wurden in den vergangenen acht Monaten fast 4 000 Afghanen getötet. Die US-amerikanische Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch schätzt, dass darunter über 3 000 Zivilpersonen waren. Die Schätzung berücksichtigt jedoch nicht Tote aufgrund von Kriegsfolgen wie Unterernährung und mangelhafter medizinischer Versorgung.

Ein wesentlicher Grund für die hohen Verluste der Zivilbevölkerung ist der drastische Anstieg der NATO-Luftangriffe. Kampfflugzeuge und -Hubschrauber werden eingesetzt, sobald die Bodentruppen auf Widerstand stoßen – im laufenden Jahr in Afghanistan sogar häufiger als im Irak. Allein im ersten Halbjahr 2007 warf die US-Luftwaffe auf Afghanistan mehr Bomben ab als in den ersten drei Kriegsjahren 2001 – 2003 zusammen. Immer häufiger wird diese Praxis nicht nur von Bezirkschefs und Provinzgouverneuren, sondern auch von der Regierung in Kabul und persönlich von Karzai öffentlich kritisiert.

Besonders betroffen von Luftbombardement sind die Menschen in Helmand.
In den vergangen zwei Monaten sind in drei Bezirken dieser Provinz (Sangin, Musa kala und Girschk und Khana-Schin) mehr als 1 300 Menschen durch Bomben der Nato massakriert worden, darunter Hunderte von Kindern.
Ein aktuelles Beispiel dieser barbarischen Aktionen ist die seit 15.08.07 andauernde Bombardierung der Gegend Tora Bora (80 km im Osten von Djalalabad). Wobei bis jetzt 51 Zivilsten getötet und 400 Familien zur Flucht gezwungen wurden.
Durchhalteparole reicht nicht
Mit Durchhaltewillen allein wird man den Sieg der Taliban allerdings nicht abwenden können. Bislang hat die Nato die Stellung halten können, aber die Zeit läuft gegen sie. Die Aufständischen sind auf einen jahrelangen Krieg eingestellt und setzten darauf, die ausländischen Truppen zu zermürben. Militärisch sind die Taliban kaum zu besiegen.
Das wahllose Bombardement der Dörfer führt nur dazu, dass die Nato-Truppen eine wachsende Zahl von Zivilisten töten und gleichzeitig immer mehr Sympathien in der Bevölkerung verlieren.

Die USA halten zudem daran fest, mit der Zerstörung der Opiumfelder den Drogenanbau unterbinden zu wollen, ohne den Bauern eine Alternative anbieten zu können, wie sie anderweitig ihren Lebensunterhalt verdienen solle
n. Es wird geschätzt, dass etwa drei Millionen Afghanen auf den Mohnfeldern arbeiten.

US-Präsident George W. Bush hält daran fest, dass die Taliban aggressiv bekämpft werden müssen. Erneut forderte er bei einem Treffen mit Nato-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer im vergangenen Monat ein stärkeres Engagement der europäischen Truppen im „Krieg gegen den Terror“, besonders die Entsendung deutscher Soldaten in den Süden des Landes.
Im Februar dieses Jahres veröffentlichte das Center for Strategic and International Studies in Washington eine der gründlichsten Studien, in der Bilanz gezogen wird, was beim Wiederaufbau in Afghanistan bislang erreicht wurde. Das Ergebnis ist nicht sehr ermutigend. Danach verlieren immer mehr Afghanen wegen der zunehmenden Gewalt das Vertrauen in ihre Regierung. Die Erwartungen der Bevölkerung werden nicht erfüllt und bis auf die wirtschaftliche Entwicklung und die Situation der Frauen hat sich die Lage in allen Bereichen verschlechtert.

In Afghanistan haben die alten Imperialmächte in der Vergangenheit keine Siege erringen können. Auch die neuen werden sich nicht auf Dauer am Hindukusch etablieren können. Die neuen Kolonialisten und ihre Strategie sind nicht nur im Irak, sondern auch in Afghanistan gescheitert. Sie stehen vor dem Scherbenhaufen ihrer Militärdoktrin.

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