TEILEN
Länder

Afghanistan: Präsidentschaftswahlen unter Besatzung

Von M. Anwar Karimi | 01.01.2005

Am 9. Oktober fanden in Afghanistan die Präsidentschaftswahlen statt. Zu den Bewerbern gehörten außer dem Übergangspräsidenten (und euro-angloamerikanischen Favoriten) Hamid Karsai 17 Bewerber, die von Monarchisten bis zur Nordallianz und von ehemaligen oder noch aktiven Warlords bis rechten Intellektuellen und islamischen Fundamentalisten reichten (linke Aktivität ist noch halblegal).

Anfang November wurde Hamid Karsai offiziell neuer alter Präsident Afghanistans. 55,4% der Stimmen, die für Karsai abgegeben wurden, machten eine zweite Runde überflüssig; sein schärfster Konkurrent, Junus Kanuni, (von der ehemaligen Nordallianz und heutigen Afghanistan National Movement), kam nur auf 16,3%. „Irregularitäten“ bei der Wahl, die noch am Wahltag, dem 9. Oktober, zu einem lautstarken Protest seiner Gegner geführt hatten, wurden vom eingesetzten internationalen Prüfungsgremium eingeräumt; sie sollen aber nach dessen Einschätzung das Gesamtergebnis nicht beeinträchtigt haben. Irregularitäten wie mehrfach abgegebene Stimmen, Wählermanipulationen in den Hochburgen der jeweiligen Kandidaten seien von jeder Seite unternommen worden, so dass sie sich im Gesamtergebnis ausgleichen würden: So könnte man vergröbernd die Expertise der Wahlprüfer auf den Punkt bringen.
Dass das internationale Gremium am Wahlergebnis, das schon mehr als eine Woche vorher feststand, nicht mehr gerüttelt hat, liegt zum einen an den hohen Kosten der Wahlen (fast 80 Millionen Dollar, die allein von den USA bezahlt wurden) und zum anderen weckt der Wahlsieger Karsai – nicht nur für seine „Schutzmacht“ USA – die Hoffnung auf eine Besserung der Verhältnisse. Sein Sieg wird als Sieg über die Warlords eingestuft.
Jetzt ist man gespannt, wie Karsai, ausgestattet mit neuer Legitimität, mit den War- und Druglords verfahren wird, zumal das Land dieses Jahr laut New York Times vom 18. November 4 200 Tonnen Rohopium auf dem Weltmarkt geworfen hat (verglichen mit 100 Tonnen vor dem Invasionskrieg 2001), das ist über 75% der Weltproduktion und (fast 60% des Bruttoinlandsprodukts des Landes).

Beschränkte Macht

Bislang wurde Karsai höhnisch als „Bürgermeister von Kabul“ bezeichnet wegen seiner begrenzte Machtbefugnisse und weil ihm die unsichere Lage in „Restafghanistan“ nur mit hohem Sicherheitsaufwand gestattete, die Hauptstadt zu verlassen. Politik konnte er nur mittels mehr oder weniger offener Zusammenarbeit mit den dubiosen Regionalfürsten machen: Zu seinem bisherigen Kabinett zählte ein „halbkrimineller“ Verteidigungsminister aus den Reihen der Warlords, Mohammad Kasim Fahim, der Hazara-Warlord Abdul Karim Khalili als Vizepräsident (der mit Karsai zusammen nochmals für 5 Jahre gewählt wurde) und Mohammad Arif Nurzai Minister für ethnische und Grenzangelegenheiten, dessen Verbindung zur Drogenmafia eine offenes Geheimnis ist.
Der Spielraum Karsais wird jedoch nicht nur von der Einflusssphäre der War- und Druglords eingeschränkt; die Politik des neuen alten Präsidenten steht in Abhängigkeit von den USA, die zusammen mit NATO-Verbündeten wie Deutschland 28 000 Mann starke Truppen in Afghanistan stationiert haben. Wie wichtig es den USA war, dass der loyale Paschtune (Karsai) gewählt wurde, beweist allein die überaus emsige Aktivität des amerikanischen Botschafters in Kabul Zalmy Khalilzad (selbst geborener Afghane, ein Paschtune) vor den Wahlen, als er versuchte, Gegenkandidaten zum Rücktritt zu bewegen, und nach den Wahlen, als er versuchte, die Gegenkandidaten davon zu überzeugen, ihren Protest zurückzunehmen.
Trotz des Siegs Karsais ist die weitere Zuspitzung der Lage im Lande unausweichlich, besonders in der jetzigen Periode zwischen den beiden Wahlen, nämlich im Zeitraum zwischen den gerade erst überstandenen Präsidentschaftswahlen und die für März 2005 geplanten Parlamentswahlen. Wie die Präsidentschaftswahlen gezeigt haben, ist die afghanische Nation weiterhin keine einheitliche Gemeinschaft, sondern agiert lediglich wie ein lose Koalition: Paschtunen wählten Paschtunen, Tadschiken unterstützten Tadschiken, Hazara gaben die Stimme ihrem Oberhaupt und die Usbeken bekannten sich ebenfalls zu ihrem Gebieter.

Neue Zuspitzung

Erste Anzeichen einer innenpolitischen Zuspitzung liegen auf der Hand: die Wiedergeburt der Radikalen nationalistische Partei der Paschtunen Afghan Melat „Nation der Afghanen“ (aktiv seit 1960, und seit 1978, der Machtübernahme der prosowjetischen Volksdemokratische Partei, im Untergrund und Exil) provozierte umgehend die Renaissance ihres Antipoden, der von radikalen Positionen ausgehenden Partei der Tadschiken Setam-i-Melli (aktiv seit den 70ern, seit 1978 im Untergrund und Exil). Es ändert nicht viel am Wesen des Vorgangs, dass sie ihren alten, anmaßenden Namen Setam-i-Melli (Nationale Unterdrückung), gegen den neutraleren Congress-Melli „Nationaler Kongress“ austauschte.
Spannungen zwischen Mudschaheddin (in den 80ern vom Westen unterstützte Rebellen, die die Rote Armee in Afghanistan bekämpften) und Nicht-Mudschaheddin. Ersteren gefällt es überhaupt nicht, dass sie immer ihre Positionen in den höchsten Etagen der Macht einbüßten. Karsai orientiert sich in seiner Personalpolitik natürlich nicht ohne Druck seiner Geldgeber in den USA und in der EU auf Fachleute, die er selbstverständlich mehr unter den „Technokraten“ findet, am ehesten unter den „prowestlichen“ und „Kommunisten“ (gemeint sind die ehemaligen Funktionäre der 1992 von den Mudschaheddin aufgelösten Volksdemokratische Partei).
Nach allem zu urteilen, ist ein Anwachsen der politischen und sozialen Spannungen deshalb schon in der nächsten Zeit kaum noch zu vermeiden.

Artikel teilen
Kommentare auf Facebook
Zur Startseite