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Afghanistan – Kein Brot für die Lehrer

Von Harry Tuttle | 01.09.2008

Die Hungerkrise in Afghanistan verschärft sich, die Taliban werden stärker, die westlichen Staaten wollen noch mehr Truppen schicken. Anthony Banbury, der Asien-Direktor des Welternährungsprogramms der UNO, konnte sein Entsetzen kaum verbergen. “In jeder Schule, die wir besuchten, in jedem Klassenzimmer, sagten die Lehrer, dass sie mehr Geld oder Nahrung brauchen”, berichtete er nach seiner Rundreise durch Afghanistan. Die Preissteigerungen für Nahrungsmittel haben die Hungerkrise in Afghanistan verschärft.

Die Hungerkrise in Afghanistan verschärft sich, die Taliban werden stärker, die westlichen Staaten wollen noch mehr Truppen schicken.

Anthony Banbury, der Asien-Direktor des Welternährungsprogramms der UNO, konnte sein Entsetzen kaum verbergen. “In jeder Schule, die wir besuchten, in jedem Klassenzimmer, sagten die Lehrer, dass sie mehr Geld oder Nahrung brauchen”, berichtete er nach seiner Rundreise durch Afghanistan. Die Preissteigerungen für Nahrungsmittel haben die Hungerkrise in Afghanistan verschärft. Übertriebenes Anspruchsdenken können den Afghanen nicht einmal wirtschaftsliberale Ideologen vorwerfen. Die Lehrer würden sich auch mit Brot bezahlen lassen, doch nicht einmal das bekommen sie von der Regierung oder der „internationalen Gemeinschaft”.

Mit 43 Jahren ist die Lebenserwartung in Afghanistan so niedrig wie in Zimbabwe. Während westliche Politiker die Misswirtschaft des zimbabwische Präsidenten Robert Mugabe geißeln, preisen sie ihre Wiederaufbaupolitik in Afghanistan. Knapp sieben Jahre, nachdem US-Truppen gemeinsam mit den Warlords der Nordallianz die Taliban vertrieben, haben sie nicht einmal für eine ausreichende Nahrungsmittelversorgung sichergestellt.
Eine Läuferin auf der Flucht
Nicht besser steht es um die Demokratisierung und die gesellschaftlichen Verhältnisse. Eigentlich hätte beim Einmarsch der Athletinnen und Athleten in das Stadion von Peking auch Mehdoba Ahdyar dabei sein sollen. Die 19jährige Mittelstreckenläuferin wuchs in einem Armenviertel in Kabul auf, sie hält die Landesrekorde über 800 und 1500 Meter, und ohne die langärmligen Shirts, die langen Hosen und das Kopftuch, die sie beim Laufen immer trug, wäre sie wohl noch ein bisschen schneller gewesen. Doch trotz der Rücksichtnahme auf reaktionäre Kleidungsvorschriften wurden sie und ihre Familie immer wieder bedroht. “Die Anrufer sagten, ich solle den Sport aufgeben”, erzählt sie. Sie wusste, dass die Judo-Kämpferin Friba Razayee, die 2004 in Athen antrat, im Untergrund lebt, seit sie auf offener Straße von einem Mob angegriffen wurde.

Mitte Juli verließ Ahdyar ihr Trainingslager in Italien. Zunächst befürchtete die Polizei ein Verbrechen, doch die Läuferin hält sich in Norwegen auf, wo sie offenbar um politisches Asyl ersucht hat. Ob sie nicht mehr an den Olympischen Spielen teilnehmen will oder das IOC ihr die Starterlaubnis entzog, weil die Teilnahme einer Sportlerin, die nicht mehr in dem Land leben kann, für das sie antritt, zu unbequemen Debatten Anlass gegeben hätte, ist unklar.

Ahdyar hatte wenigstens noch eine Chance zur Flucht. Den meisten Mädchen und Frauen in Afghanistan fehlt diese Möglichkeit. Ihr Schicksal wird nur in Einzelfällen bekannt. Der Tugendterror findet im Verborgenen statt, Menschenrechtsorganisationen schätzen, dass 70 Prozent der Frauen und Mädchen, oft noch im Kindesalter, zwangsverheiratet werden. Frauen, die sich gegen patriarchale Gewalt auflehnen, müssen mit ihrer Ermordung rechnen. Auch Männer, die sich mit den herrschenden Verhältnissen nicht abfinden, leben gefährlich.

Fast alle Afghanen leben in neo­feudalen Abhängigkeitsverhältnissen. Die meisten Bauern sind gegenüber einem Warlord tributpflichtig. Dessen politische Weisungen und Wahlempfehlungen zu missachten, wäre lebensgefährlich, denn in den Dörfern bleibt nicht verborgen, wer sich gegen den Patron stellt. Sich an die Regierung zu wenden, wäre sinnlos, denn sie wird von eben jenen Warlords dominiert. Sie belegen den unterschiedlichen Schätzungen zufolge 65 bis 85 Prozent der Parlamentssitze.
Opium und Korruption
In den Städten sind die Verhältnisse kaum anders. Industriearbeiter gibt es kaum, und da die westlichen Regierungen dem von ihnen eingesetzten Präsidenten Hamid Karzai einen Privatisierungskurs aufzwingen, wird ihre Zahl mit dem Verkauf der wenigen Staatsbetriebe weiter sinken. Größere ausländische Investitionen erwarten nicht einmal die optimistischsten Wirtschaftsesoteriker und die Kapitalakkumulation im Land gehorcht eigenen Gesetzen. Sie beruht vor allem auf dem Opiumhandel, der mehr als die Hälfte des Bruttoinlandsprodukts ausmacht, und der Korruption, im Wesentlichen der Umleitung ausländischer Hilfszahlungen.

Eine patriotische Bourgeoisie, die im eigenen Land investiert, wird auf dieser Grundlage gewiss nicht entstehen. Für eine industriegewerkschaftliche Gegenmacht gibt es keine Grundlage, wo kaum etwas produziert wird, kann ein Streik keinen Druck entfalten. Für andere Beschäftigte ist die Lohnabhängigkeit fast immer mit einer politischen Abhängigkeit verbunden. Die wichtigsten „Arbeitgeber” sind Zentralregierung, Warlords und Hilfsorganisationen. Mit anderen Worten: Wer arbeitet, wird, ob er/sie es will oder nicht, Mitglied einer Kriegspartei. So ist jeder Mitarbeiter einer Hilfsorganisation eine Zielscheibe für die Taliban, manchmal auch für die Milizen regierungstreuer Warlords, die ihre Macht gefährdet sehen.

Hinzu kommt die gesellschaftliche Zerrüttung nach nunmehr 30 Jahren Bürgerkrieg. Wurde die patriarchale Gewalt früher durch den Konsenszwang der Stammes- und Clanstrukturen wenigstens gemildert, so dominieren nun enthemmte Verhältnisse, in denen durch den Krieg verrohte Männer die selbst erlittene Gewalt und Traumatisierung an die Schwächsten, Frauen und Kinder, weitergeben. So gibt es in Afghanistan zwar viele mutige EinzelkämpferInnen, Gruppen und kleine Organisationen, aber keinen kollektiven Widerstand.

Für diese Verhältnisse sind die westlichen Interventionen maßgeblich verantwortlich. Auch die Sowjetunion trägt eine gewisse Schuld. Der Einmarsch der Roten Armee im Jahr 1979 diente zwar der Durchsetzung eines fortschrittlichen politischen Programms, das u.a. eine Landreform und Alphabetisierung vorsah. Doch die stalinistischen Methoden – so wurden die Mädchen vielerorts mit dem Gewehrkolben in die Schule geprügelt – trieben viele, die für gesellschaftliche Veränderungen hätten gewonnen werden können, in den Widerstand.

Es war jedoch die Unterstützung durch die westlichen und arabischen Staaten sowie Pakistan, die die Islamisten zur stärksten Fraktion unter den ursprünglich politisch sehr vielfältigen Widerstandsgruppen machte und sie befähigte, konkurrierende Gruppen zu liquidieren. Rund 500 Millionen Dollar erhielten sie jährlich für den antikommunistischen Jihad, das entsprach etwa 20 Prozent des damaligen Bruttoinlandsprodukts. Ussama bin Laden sammelte damals Kapital und Waffen für sein späteres Unternehmen al-Qaida.

Posten für Kriegsverbrecher
Nach dem Abzug der sowjetischen Truppen im Jahr 1989 und dem Sturz des von ihnen gestützten Regimes drei Jahre später erlosch das westliche Interesse. Die Islamisten bekämpften sich untereinander, allein bei der Schlacht um Kabul starben 60.000 ZivilistInnen. Mitte der neunziger Jahre begann der Siegeszug der Taliban, wiederum mit Unterstützung Pakistan und der USA. Erst als der jihadistische Terror nicht mehr allein AfghanInnen traf, griffen die USA an.

Die Federführung beim Nation Building überließen sie Deutschland. Ende 2001 fand in Petersberg bei Bonn eine Konferenz zur Neuordnung Afghanistans statt. Die dort verabschiedete Verfassung macht die Verehrung für die „Helden des Jihad” gegen die Sowjetunion zur Grundlage der „Islamischen Republik Afghanistan”, deren Justizsystem auf die „Bestimmungen der heiligen Religion des Islam” verpflichtet wird. Dieses Dokument unterschrieben afghanische Kriegsverbrecher, denen bei dieser Gelegenheit gleich wichtige Posten zugeschanzt wurden, Vertreter der Bundesregierung und der UN-Gesandte Lakhdar Brahimi als Repräsentant der „internationalen Gemeinschaft”.

Dieses autoritäre Konzept, das den Islamismus als Stabilisierungsfaktor im Dienste westlicher Interessen einsetzen will, ist die Hauptursache für das Scheitern des Wiederaufbaus. So ist es zwar richtig, zu kritisieren, dass für zivile Zwecke nur ein Zehntel dessen ausgegeben wird, was der Krieg kostet. Doch auch höhere Beträge würden das Leben der afghanischen Bevölkerung nicht verbessern, solange die Warlords das Geld verwalten. Denn sie können kein Interesse an einer Entwicklungspolitik haben. Eine gebildete und organisierte Bevölkerung würde sich ihrer Herrschaft so schnell wie möglich entledigen.

Die Taliban konnten diese Situation nutzen. Allein in den ersten sechs Monaten dieses Jahres ist die Zahl der Angriffe nach Angaben der US-Armee um 40 Prozent gestiegen. Sie und ihre Verbündeten sind nun in der Lage, kleinere Militärstützpunkte zu zerstören. Nach dem Angriff auf einen Außenposten in Nuristan Mitte Juli verkündete de NATO, man werde die Stellung räumen und stattdessen „mit Patrouillen und anderen Mitteln eine starke Präsenz” zeigen. Die „anderen Mittel” sind zumeist Bombardements, denen immer wieder Dutzende ZivilistInnen zum Opfer fallen.
Jihad mit Söldnern
In den großen Städten können die Taliban nicht nur Terroranschläge, sondern auch Guerillaaktionen durchführen. So stürmten sie das Gefängnis von Kandahar und befreiten mindestens 400 Häftlinge. Die Feuerkraft der 70.000 im Land stationierten ausländischen Soldaten genügt, um die Städte zu halten und jede Stellung zurückzuerobern, die Kontrolle über weite Gebiete hat die NATO jedoch verloren.

Die Taliban sind noch bornierter und extremistischer als die regimetreuen islamistischen Warlords, sie haben jedoch taktisches Geschick entwickelt. Der harte Kern fanatisierter Anhänger wurde ergänzt um Söldner, bezahlt aus dem Profit des Opiumhandels. Sie erhalten den zwei- bis vierfachen Sold eines afghanischen Regierungssoldaten. Den Taliban schließen sich aber auch Menschen an, die Angehörige durch NATO-Bomben verloren haben oder deren Mohnfelder zerstört wurden.

Die Antwort des Westens ist: mehr Soldaten. Auch von größeren Anstrengungen bei der zivilen Hilfe ist die Rede, doch während der Wiederaufbau stagniert, wächst die Truppenzahl tatsächlich. Die Bundesregierung will 1000 zusätzliche Soldaten nach Afghanistan schicken, die USA planen die Verlegung zweier Divisionen aus dem Irak. Bei der Berliner Rede Barack Obamas war der Applaus verhaltener, als er zusätzliche Anstrengungen in Afghanistan forderte. Ob er oder John McCain die Wahl im November gewinnt, der nächste US-Präsident wird die Truppen in Afghanistan weiter verstärken und von seinen Verbündeten das Gleiche fordern.

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