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Länder

Afghanistan: Gefangen zwischen NATO und Taliban

Von M. Anwar Karimi | 01.05.2007

Die Sicherheitslage in Afghanistan wird immer prekärer und düsterer, die südlichen Provinzen sind teilweise wieder unter Kontrolle der Taliban, die dort eine Gegenregierung bilden. Doch die Besatzungsmächte haben außer der Entsendung von Tornados und „frischen“ Soldaten keine neue Rezeptur gefunden.

Die Sicherheitslage in Afghanistan wird immer prekärer und düsterer, die südlichen Provinzen sind teilweise wieder unter Kontrolle der Taliban, die dort eine Gegenregierung bilden. Doch die Besatzungsmächte haben außer der Entsendung von Tornados und „frischen“ Soldaten keine neue Rezeptur gefunden.

Die Brutalität der Besatzungsmächte, die massive Korruption verantwortlicher Politiker in Afghanistan, das Scheitern des Kampfes gegen den Mohnanbau und der fehlende Rechtsstaat haben in den letzten fast fünfeinhalb Jahren der Besatzung dazu beigetragen, den ohnehin zweifelhaften Rückhalt in der Bevölkerung zu verlieren. Die Lage hat sich seit dem Sturz der Taliban nicht zum Besseren gewendet, gesamtgesellschaftlich gesehen auch nicht für die Frauen, trotz der vom Westen viel gepriesenen Frauenbefreiung in Afghanistan.
Kabuler Kontrollverlust
In der Bevölkerung macht sich zunehmend Skepsis gegenüber den Versprechungen des Westens breit. Die Taliban gewinnen an Stärke, je mehr die afghanische Regierung zu einem dekorativen Organ verkommt. Auch auf regionaler Ebene ist die Lage für die Besatzungstruppen nicht besser geworden. Immer noch finden die Taliban in Pakistan Rückzugsgebiete und logistische Unterstützung, um von dort aus ihre Angriffe zu starten. Trotz aller bisherigen Offensiven der NATO und der US-geführten Koalitionstruppen haben sich die Taliban neu formiert und sie sind selbstbewusster als je zuvor. Ihnen ist es gelungen, den Süden fast völlig zu destabilisieren.

Der von der NATO eingesetzte, in einer Scheinwahl gewählte Präsident Afghanistans, Hamid Karzai, ringt mit den lokalen Provinzfürsten um die Macht, die Taliban haben zumindest den Süden des Landes teilweise unter ihre Kontrolle bringen können. Mittlerweile haben sich auch die NATO- Besatzungstruppen (ISAF) unbeliebt gemacht. Sie schirmen sich immer mehr von den Afghanen ab und konzentrieren sich auf militärische Aktionen und Selbstverteidigung.

Ihr Mißtrauen gegenüber der Bevölkerung geht inzwischen soweit, dass sie keine Einheimischen als Koch, Fahrer oder Gärtner mehr anstellen beziehungsweise bereits angestellte AfghanInnen entlassen und stattdessen Menschen philippinischer Herkunft nach Afghanistan holen, um sie für sich zu beschäftigen.

Aus Angst, von den Besatzern erschossen zu werden, traut sich kaum jemand im Auto alleine zu fahren – er wird leicht als potentieller Attentäter angesehen – oder gar sich den Militärkonvois oder zivilen Fahrzeugen der Besatzer zu nähern oder sie zu überholen.

Es gibt zurzeit keinerlei Anzeichen dafür, dass es zu einer politischen Kursänderung kommen könnte. Erst kürzlich hat George W. Bush die Entsendung von 3.200 zusätzlichen amerikanischen Soldaten bekannt gegeben. Australien schickt weitere 1000 Soldaten, Großbritannien 1800 und die BRD 500, plus 6-Tornado-Flugzeuge. Ob der neuerliche Truppenaufmarsch allerdings etwas anderes bringt, als eine Irakisierung Afghanistans, können wohl nicht einmal die Invasoren selbst beantworten.
Der „blutige Frühling“
Die Taliban kündigen einen „blutigen Frühling“ in Afghanistan an, in dem die NATO-Truppen einer erstarkten Taliban-Armee und einer reorganisierten Führungsriege gegenüberstehen. Gut bewaffnet und logistisch besser organisiert denn je rüsten sie zur Schlacht gegen die verhassten NATO-Besatzer. „Es soll der Sommer der Entscheidung werden“, sagt Mullah Dadullah, Oberkommandeur der Taliban-Streitkräfte.

Den Winter haben die Taliban nach Einschätzung westlicher Geheimdienste intensiv genutzt, um ihre Strukturen zu straffen. Einige Kommandeure der Kämpfer berichten nun gar, dass der jahrelang völlig abgetauchte Taliban-Führer Mullah Omar wieder Briefe an die Anhänger schreibt, erfolgreichen Trupp-Führern und Eltern von Selbstmordattentätern gratuliert und die Kämpfer per Tonbandaufnahmen an ihre „Jihad-Pflichten“ erinnert.

Seit Jahren war Omar wie vom Erdboden verschwunden, sicherlich auch aus Angst vor der CIA. Doch Mullah Omar scheint sich wieder sicherer zu fühlen – genau wie Mullah Dadullah. Erst kürzlich hat Dadullah persönlich das Szenario für die kommenden Monate skizziert. Fast wie ein normaler Politiker lud er Journalisten von al-Jaseera und BBC zu sich in die Berge ein. Bei aller Propagandarhetorik müssen seine Worte beunruhigen: 6000 Freiwillige für Selbstmordanschläge befehlige er, deren Angriff stehe „unmittelbar“ bevor. Einige seiner Männer seien schon auf dem Weg zu ihrer Mission, die er als „Blutbad für die Besatzer“ umreißt. Seit einiger Zeit schon ist Mullah Dadullah der Alptraum der Armeen in Afghanistan und der Geheimdienste.

Seine Ankündigungen sind keine Propaganda. Fast alle seine Drohungen hat er auch wahr gemacht. Schon 2006 drohte Dadullah erstmals mit einer Welle von Selbstmordanschlägen. Zunächst nahm ihn niemand ernst. Ende 2006 zählte man 139 Selbstmordattentate mit fast 4300 Toten, darunter über 1000 Zivilisten im ganzen Land, fünfmal mehr als im Vorjahr. 2007 könnte noch blutiger werden. 19 Attentate mit insgesamt 187 Toten darunter 73 Zivilisten sind seit Anfang März verübt worden. Den Taliban haben sich völlig neue Gruppen von Kämpfern aus zahlreichen muslimischen Ländern angeschlossen. Sie seien, so wird erklärt, in den Ausbildungslagern der Taliban im Westen Pakistans in die Rebellengruppen eingereiht worden.
Als Reaktion auf die Propagandawelle der Taliban kündigen die Generäle der Besatzungstruppen eine eigene Offensive an. Man werde nicht warten, bis die Taliban angreifen und stattdessen selber hart zuschlagen, lautet die Parole aus Kabul. Ob man dem Ansturm von Selbstmordattentätern damit Herr wird, ist fraglich, weil die Taliban für die neue Strategie keine Ausbildungslager oder Militärcamps mehr brauchen. Folglich blieben nur Angriffe auf mutmaßliche Häuser der Krieger, bei denen dann auch Zivilisten ums Leben kämen. Solche Angriffe aber versorgen die Gotteskrieger nur mit Nachschub für ihren Kampf.
Operation Achilles
In Afghanistan ist der größte Truppenaufmarsch seit dem Ende des Taliban-Regimes vor fünf Jahren voll im Gang. Die Zahl der NATO-Soldaten aus 37 Ländern ist auf rund 50 000 gestiegen. Dazu kommen 32 000 Mann der afghanischen Armee. Die Taliban wollen an die 10 000 Kämpfer aufbieten. Die Taliban haben unter der Bevölkerung wieder viel Terrain im Kampf gegen die verhassten Besatzer zurückgewinnen können.

Der NATO macht bei der bevorstehenden Offensive der Taliban eine mögliche Unterwanderung der afghanischen S
treitkräfte und Sicherheitskräfte große Sorge. Nach dem Willen der NATO soll 2007 „das Jahr der Entscheidung“ in Afghanistan werden. Seit Mitte März hat die westliche Militärallianz ihre Frühjahrsoffensive am Hindukusch begonnen. Sie ist zunächst auf der südafghanischen Provinz Helmand konzentriert. 4500 NATO-Soldaten sind an der „Operation Achilles“ beteiligt. Unterstützt werden sie von einer 1000 Mann starken afghanischen Hilfstruppe. Dieser wird es erfahrungsgemäß vorbehalten bleiben, im Anschluss an die Kämpfe die Dörfer zu durchkämmen und die Bevölkerung, soweit sie der Sympathie mit den Aufständischen verdächtig ist, aus ihren Häusern zu vertreiben. Ein wesentliches Ziel der „Operation Achilles“ wird darin bestehen, die Stadt Musa Qala (Provinz Helmand) zurückzuerobern, die seit dem 1. Februar in der Hand von Aufständischen ist.

Die Taliban reagierten mit Hohn auf die „Operation Achilles“. „Wir haben mehr als 10 000 bewaffnete Talibankämpfer in Helmand und der Nachbarprovinz Kandahar“, sagte Talibansprecher Kari Mohammad Yousif Ahmadi den Journalisten. „Es ist eine gute Nachricht, dass die Soldaten aus ihren Militärbasen kommen werden. Das macht die Arbeit für unsere Kämpfer einfacher.“
Wenn es den Taliban in den vergangenen Monaten gelungen ist, große Teile mehrerer Provinzen der Kontrolle der NATO und des Kabuler Regimes zu entziehen, dann sicher nicht primär gestützt auf Waffengewalt, sondern wegen der Hasses der Bevölkerung auf die arroganten Besatzer. Der NATO geht es jetzt nicht um Abwehr einer drohenden militärischen Offensive des Gegners, sondern um gewaltsame Zurückeroberung von verlorenem Gebiet.

Wie arrogant das Setzen des Nordatlantikpaktes auf eine militärische „Entscheidung“ ist, zeigen zwei Vorfälle: In den letzten Tagen des März richteten Soldaten einer US-Spezialeinheit auf einer viel befahrenen Straße in der Stadt Dschalalabad ein Blutbad an, als sie nach einem Sprengstoffanschlag rücksichtslos um sich schossen. Die Zahl der getöteten Zivilisten wird mit 10 bis 16 angegeben; mehr als 30 Menschen wurden verletzt. Der Zwischenfall löste heftige Proteste gegen die USA aus. Der zweite Fall war das Bombardement eines Bauernhauses im Norden von Kabul, wobei 9 Menschen darunter 6 Kinder und 3 Frauen ums Leben kamen. Die NATO und die Kabuler Regierung stehen unter enormem Druck, um ein Scheitern ihrer militärischen Strategie zu verhindern. Afghanistan stehen noch gewaltsame Zeiten bevor.

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