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DIE LINKE

Solidarität und Pluralität

Von Manuel Kellner | 19.06.2004

junge welt vom 19.06.2004
http://www.jungewelt.de/2004/06-19/024.php
 
 
 
Wir dokumentieren Auszüge eines Diskussionsbeitrages zur Herausbildung einer neuen politischen Kraft der Linken von Manuel Kellner
 
* Manuel Kellner, Jahrgang 1955, wohnhaft in Köln, Mitarbeiter der SoZ, Volkshochschuldozent, promoviert zur Zeit bei Georg Fülberth (Marburg) zum Thema »Kapitalismusanalyse, Bürokratiekritik und sozialistische Strategie bei Ernest Mandel«.

Die »Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit« (WASG) ist ein viel- versprechender Ansatz. Es irritiert gleichwohl, wenn Initiatoren wie Gerd Lobboda (siehe jW vom 2./3.6., S. 3) die Sorge artikulieren, das könne in die »linke Ecke« gerückt werden. Etwas links vom neoliberalen Einheitsbrei aufbauen – was denn sonst? Eine weitere Kraft »der Mitte« vielleicht? Eine Ausgrenzung der antikapitalistischen Kräfte wäre der erste Nagel zum Sarg der neuen politischen Formation.

Keine Neuauflage der SPD

Mit einem Weg zurück zur SPD vor ihrer neoliberalen Wende würde die Chance des neuen Ansatzes vertan. Die SPD ist nicht zufällig geworden, wie sie ist. Es gilt Lehren daraus zu ziehen. Es geht darum, eine politische Kraft der Veränderung aufzubauen: Für Solidarität statt Konkurrenz, für Bedürfnisse statt Profit, für Emanzipation statt Unterordnung unter Leithammel und sogenannte Sachzwänge.

Pluralität

Gerd Lobboda will »linkssektiererische Kreise« außen vor lassen. Die neue politische Kraft braucht aber Einheit in Vielfalt. Eine Pluralität von Meinungen und Ansätzen, um in Politisierungsprozessen der nachfolgenden Generationen Neues zu entwickeln. Gerd Lobboda will das »Sozialstaatsprinzip« erhalten. Viele wollen soziale und demokratische Reformen statt des permanenten Abbaus sozialer und demokratischer Errungeschaften. Manche glauben an eine Rückkehr zum Keynesianismus. Antikapitalistisch eingestellte Linke wollen das kapitalistische System überwinden und stellen den Kampf für Reformen und Verbesserungen in diesen Zusammenhang. Manche von ihnen stellen sich eine schrittweise Überwindung des Kapitalismus vor, während andere von der Notwendigkeit eines revolutionären Bruchs ausgehen. Alle diese Strömungen müssen Platz haben in der neuen Kraft und zur Entwicklung ihrer Positionen beitragen – auf Grundlage des gemeinsamen politischen Handelns und der gemeinsamen Verarbeitung neuer Erfahrungen.

Keine Strömung der Linken hat die Antwort auf alle wichtigen Fragen fertig in der Schublade. Keine kann auf die Erfahrungen der anderen verzichten. Keine kann auf die anderen mit Geringschätzung herabblicken. Es gilt nach dem Scheitern der traditionellen Richtungen der Arbeiterbewegung wie auch der verschiedenen Gruppen der radikalen Linken, die emanzipatorische Hoffnung neu zu erfinden und die Fehler der Vergangenheit zu vermeiden – die Fehler der Anpassung wie die Fehler des Sektierertums.

Wer sich, wie ich, aufgrund seiner von allzu wenigen geteilten Überzeugungen auf politischer Ebene lange Zeit in ziemlich kleinen Kreisen bewegt hat, ist immer gefährdet, sektiererische Züge zu entwickeln. Aber ich will lernen, in einer breiten politischen Bewegung eine produktive Rolle zu spielen. Will Gerd Lobboda mich daran hindern, indem er mich auf Lebenszeit in die kleinen Zirkel verbannt?

Mitglieder als Souverän

Jede Organisation heute unterliegt dem Druck der sozialen Ungleichheit, des Geldes, der Massenmedien und der staatlichen Institutionen. Will eine politische Kraft massenwirksam Politik machen, kann sie auf hauptamtliche Funktionäre und auf Berufspolitiker nicht verzichten. Es droht dann die sattsam bekannte Verselbständigung von Amts- und Mandatsträgern. Das ist ein wichtiger Grund für resignierte »Parteienverdrossenheit«. Die neue politische Formation sollte von ihren Mitgliedern regiert werden. Ihre Funktions- und Mandatsträgerinnen und -träger sollten deren Kontrolle unterliegen. Dazu gehört
– das Recht aller Mitglieder auch zusammen mit anderen Mitgliedern, Alternativen in die Meinungsbildung einzubringen. Größte Gefahr für die innere Demokratie ist, wenn es nur eine »Fraktion« mit Einfluß gibt: die amtierende Führung samt Parlamentsfraktionen.

– Die Zusammensetzung der Leitungen und der Kandidatinnen- und Kandidatenlisten für Mandate muß die soziale Vielfalt der Mitgliedschaft berücksichtigen – Quotierungsregelungen für Frauen, Migranten, Jugendliche usw. – und auch die Vielfalt der politischen Positionen.

– Auch Mandatsträger und Mandatsträgerinnen müssen über ihre Arbeit Rechenschaft ablegen und die demokratischen Beschlüsse der Mitgliedschaft akzeptieren. Sie müssen bereit sein, ihr Mandat zur Verfügung zu stellen, wenn die Mitgliedschaft dies beschließt. Sie sollten nicht mehr verdienen als das durchschnittliche Einkommen anderer abhängig Beschäftigter.

Bewegungsorientiert

Arbeit in Parlamenten ist kein Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck. Es fragt sich nur, für welchen: Teil jener Politikerkaste zu werden, die uns »vertritt«, oder Widerstand, Mobilisierung und demokratische Selbstorganisation von unten zu fördern. Eine neue solidarische Gesellschaft kann nur von unten wachsen, in dem Maße, wie sich diejenigen, die immer nur Objekte »der Wirtschaft« und »der Politik« waren, in die eigenen Angelegenheiten einmischen.

Eine neue politische Kraft der Linken muß die Interessen derer verfechten, die nur ihre Arbeitskraft zu verkaufen haben, und ganz besonders die Interessen der am meisten Benachteiligten. Die Interessen des Kapitals sind den Interessen der abhängig Beschäftigten und Besitzlosen entgegengesetzt.

Eine politische Kraft der Linken wäre Teil der Gewerkschaftsbewegung und aller emanzipativen sozialen Bewegungen. Sie würde ihre Vorschläge und Überzeugungen ohne Arroganz in die Gewerkschaften und die anderen Bewegungen einbringen. Sie würde die Diskussion in den Bewegungen nicht als Einbahnstraße begreifen, sondern als wechselseitigen Lernprozeß.

Eine politische Kraft der Linken würde sich um die Entwicklung einer kohärenten Gesamtalternative zur herrschenden Politik bemü
hen, die vielfältigen Emanzipationsbestrebungen gerecht wird. Eine chinesische Mauer zwischen Partei und Bewegungen gibt es nicht. Auch die Bewegungen einschließlich der Gewerkschaften sollen »Politik machen«, sich in die Politik einmischen. Bewegungen sind breiter als Parteien, weil in ihnen ein größeres Spektrum politischer Überzeugungen vertreten ist. Ohne die Entwicklung einer glaubwürdigen Alternative auf der politischen Ebene drohen Bewegungen jedoch zu versanden.

Internationalismus

Kampf gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Nationalismus, an erster Stelle gegen deutschen Nationalismus, ist Grundvoraussetzung. Eine neue Kraft der Linken wäre Teil der internationalen Bewegung gegen die neoliberale Globalisierung und aller Kräfte in Europa und in der ganzen Welt, die sich für solidarische Verhältnisse einsetzen. Es gilt sich dagegen wehren, daß alles zur Ware gemacht werden soll, daß unsere natürlichen Lebensgrundlagen vernichtet werden, daß viele hundert Millionen im Elend vegetieren, daß ein kleiner Club der reichsten Industriestaaten die Welt beherrscht und weltweit mit Waffengewalt interveniert. Der Abbau des Rüstungsarsenals ist die erste Quelle zur Finanzierung neuer sozialer Errungenschaften und entsprechender öffentlicher Dienste.

Achsen

Während die neue politische Formation sich selbst alle Zeit der Welt zubilligen sollte, um über verschiedene Ansätze zu diskutieren und zu testen, welche Annäherungen und Klärungen unter ihnen möglich sind, ist sie zugleich darauf angewiesen, vorläufige Teilantworten auf brennende Probleme zu entwickeln, die die Chance bieten, viele in gemeinsamer Aktion zusammenzuführen. (…)

Macht und Gegenmacht

Alle Argumente der Vertreter des Kapitals und der etablierten Politik laufen auf das eine Argument der Konkurrenz hinaus. Es finden sich immer welche, die für weniger Lohn länger und unter schlechteren Bedingungen arbeiten. Wer dieser Logik nachgibt, findet kein Ende. Dagegen hilft nur die Logik der Solidarität, im eigenen Land und international.

Das Kapital reagiert auf jede »drohende« Vermenschlichung der Verhältnisse mit Investitionsstreik und Flucht. Wollen wir etwa das Wohlverhalten des Kapitals durch Entmenschlichung der Verhältnisse erkaufen?

Wir brauchen eine Partei neuen Typs, eine Partei der Emanzipation, die sich von Stellvertreterpolitik verabschiedet. Eine Partei mit Visionen über das Bestehende hinaus, weil sonst nicht einmal Verschlechterungen abgewehrt werden können.

Der Aufschrei von Seattle: »Die Welt ist keine Ware! Eine andere Welt ist möglich!« hat neue Hoffnung gemacht. Seither wird weltweit über eine globale Alternative diskutiert. Um Kräfte- und Machtverhältnisse zu ändern, muß von unten her Gegenmacht aufgebaut werden. Diese Gegenmacht darf kein Abbild der Macht sein, gegen die sie sich auflehnt. Sie muß Räume der Selbstbestimmung und des gleichberechtigten Dialogs schaffen, sie muß demokratische Entscheidungsprozesse organisieren, sie muß zugunsten der am meisten Benachteiligten und der bislang Ausgegrenzten funktionieren. Diese Gegenmacht muß eine Art von Macht sein, die den Keim der Überwindung der Macht von Menschen über Menschen in sich trägt.

Mit der »Masse«

Ob eine neue politische Kraft solidarische Verhältnisse erkämpfen kann, ist ungewiß. Der Mensch lebt indes nur einmal und nicht ewig. Die Teilnahme am Leben einer emanzipativ orientierten politischen Kraft muß für die Mitglieder bereits hier und heute nützlich sein. Darum muß eine solche Kraft von Anfang an die Möglichkeiten der politischen Bildung, der politischen Selbstentfaltung, der Teilhabe an politischer Meinungsbildung der Mitglieder systematisch begünstigen.

Die Ausgrenzung von angeblich zu »radikalen« Menschen wäre fatal. Kann man sich zu »radikal« gegen Verhältnisse auflehnen, die dem Streben der Menschen nach Befriedigung ihrer Bedürfnisse, Verwirklichung ihrer Anlagen, Entfaltung ihrer Persönlichkeiten entgegenstehen?

Solidarität verbietet zugleich jegliche elitäre Überheblichkeit gegenüber der Masse der Menschen, die sich bislang nicht für eine radikale Änderung der Verhältnisse einsetzen. Schuld daran sind Alltag und Existenzkampf unter den gegebenen Bedingungen, die Manipulation durch die Massenmedien, die entmutigende Bilanz der bisherigen Aufbruchversuche.

Niemand sollte sich herausnehmen zu sagen: »Hier ist die Wahrheit! Hier knie nieder!« Es sollte aber auch kein Platz sein für den Karrierismus jener, für die eine Partei dazu da ist, sich Privilegien zu verschaffen.

Es geht darum, ohne Populismus populär zu werden, Vorschläge und Ziele allgemeinverständlich zu formulieren. Fortschritte des politischen Bewußtseins für eine große Zahl von Menschen sind nur im Rahmen praktischer Bewegung möglich. Die »Masse« muß sich Raum und Freiheit dazu erkämpfen. Diejenigen, die aufgrund ihrer privilegierten Situation ihr politisches Bewußtsein durch Lektüre und Bildungsarbeit in kleinen Zirkeln entwickeln konnten, haben ebensoviel von denjenigen zu lernen, die sich neu in Bewegung setzen. Karl Marx hatte recht: »Die Erzieher müssen erzogen werden!«

Begeisterung statt Ausgrenzung

Wie wird eine große neue politische Kraft ins Leben gerufen? Möglichst viele müssen begeistert mitmachen. Vorbereitungsgremien sollten transparent arbeiten und keine der vorhandenen Strömungen ausschließen.

Ein rascher Konsens zwischen den verschiedenen strategischen Ansätzen ist nicht denkbar. Sehr wohl aber zu zwei entscheidenden Fragen: zum umfassend demokratischen und pluralen Charakter der neuen Partei und zu aktuell brennenden politischen Fragen.

Eine Gründungskonferenz im Herbst sollte solche Inhalte in den Vordergrund stellen und nicht organisatorische Einzelheiten oder gar personalpolitische Rangeleien. Deutlich werden muß ein Neuanfang für Solidarität, für radikale Arbeitszeitverkürzung, für soziale, radikal demokratische, menschlichere Verhältnisse.

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