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Ökologie

„Große Koalition“ zum Erhalt des Atomprogramms?

Von B. B. | 01.06.2011

Wenn die Regierung schwächelt, kann sie sich auf die SPD voll verlassen. Das war schon bei der Bankenrettung so. Das ist auch jetzt beim angeblichen „Atomausstieg“ der Fall.

Wenn die Regierung schwächelt, kann sie sich auf die SPD voll verlassen. Das war schon bei der Bankenrettung so. Das ist auch jetzt beim angeblichen „Atomausstieg“ der Fall.

Im September 2010 hatte die Bundesregierung die Laufzeit des Atomprogramms verlängert. Die Bourgeoisie fühlte sich stark genug, um sich über Bedenken und Kritik hinwegzusetzen, was wieder einmal zeigt, wie hartnäckig und konsequent sie ihre Interessen verfolgt, war doch auch das alte „Ausstiegsprogramm“ der Regierung Schröder/Fischer im Interesse des Kapitals.

Acht Monate nach der Laufzeitverlängerung legt die CDU ein Programm für eine Energiewende vor und schlägt einen „Ausstieg“ aus der Atomkraft vor. Während FDP und Minderheiten von CDU/CSU nach wie vor die Laufzeitverlängerung verteidigen, hat selbst die  Spitze der CSU das Jahr 2022 als Datum für die  Abschaltung der Atomkraftwerke genannt. Die Katastrophe von Fukushima hat in der Bevölkerung so hohe Wellen geschlagen, dass die „Volksparteien“ CDU und CSU dem Druck von unten nachgeben und nun angeblich zu einer Kehrtwende in der Energiepolitik bereit sind. 
Weiter strahlen, statt sofort abschalten
In Wirklichkeit schreiben die verschiedenen Ausstiegsszenarien von Grünen, SPD, CDU und CSU das Atomprogramm um sechs, neun, zehn, elf oder einundzwanzig Jahre weiter fort. Wenn die Anti-Atom-Proteste zurückgehen und sich damit die Kräfteverhältnisse zugunsten der Herrschenden wieder verändern sollten, dann kann der Zeitpunkt der endgültigen Stilllegung der AKW erneut hinausgeschoben werden.

Die herrschende Atompolitik ist die Atompolitik (der Mehrheit) der herrschenden Klasse. Unter den einhundert umsatzstärksten bzw. fünfzig größten börsennotierten Unternehmen in Deutschland sind eine ganze Reihe Konzerne direkt oder indirekt mit den Interessen der Atomwirtschaft verbunden. Deshalb wird die sofortige Abschaltung der Atomkraftwerke weder über das Parlament oder über die sozial-ökologische Energiewende einer SPD-Grünen-Linkspartei-Regierung noch als ökologischer Selbstreinigungsprozess der herrschenden Klasse noch als „Abschaltung der Atommafia bzw. der Atomlobby“, d. h. eines Teils der herrschenden Klasse, erfolgen können. Das Atomprogramm kann nur außerparlamentarisch von einer Bewegung, die mehrere Millionen Menschen mobilisiert, im Kampf gegen Kapital und Regierung gekippt werden.
SPD rettet Atomprogramm und Regierung
Nicht nur die Atompolitik ist in der Krise, auch die Regierung Merkel-Westwelle schwächelt. Nach der Wirtschafts- und Finanzkrise erweist sich die FDP ein weiteres Mal als schlecht geeignet, um die Regierungspolitik im Interesse der Bourgeoisie durchzuführen. Die Aufkündigung der Großen Koalition von CDU/CSU mit der SPD stellt sich erneut als politischer Fehler heraus. In Wirtschaft wie Ökologie musste die Bourgeoisie auf „sozialdemokratische“ Konzepte der Krisenbewältigung zurückgreifen.

Aber auf die SPD ist Verlass. Die Krise der herrschenden Atompolitik wird sich wahrscheinlich nur deshalb nicht zu einer Regierungskrise auswachsen, weil sich SPD und CDU/CSU genauso auf einen gemeinsamen „Atomkonsens“ einigen werden, wie sie sich auf ein gemeinsames Bankenrettungsprogramm einigen konnten – dieses Mal zum Wohl der Energiekonzerne, denen die SPD nicht weniger als die CDU/CSU verpflichtet ist. Wenn damit eine Regierungskrise vermieden wird, ist das allein das Verdienst der Sozialdemokratie.

Der „Fehler“ bei der Laufzeitverlängerung (oder beim Bankenrettungsprogramm) ergibt sich aber nicht durch eine „falsche Politik“ der Regierung, sondern durch die abrupte Veränderung der Weltlage. Die Weltwirtschafts- und Finanzkrise, die arabische Revolution und die Zerstörung der Umwelt erfordern für die herrschende Klasse und ihre Parteien mehr als rein neoliberale Antworten (wie sie von der EU z. B. jetzt wieder in Griechenland mit einem gigantischen Privatisierungsprogramm vorgegeben werden).

Angeschlagen ist vor allem die FDP, deren Politik sich in der Wirtschafts- und Finanzkrise wie bei der Atomkraft weder für die herrschende Klasse noch für gehobene Schichten der Lohnabhängigen als attraktiv erweist.

Mit dem dreimonatigen Moratorium versucht die Bourgeoisie Zeit zu gewinnen, um ihre Energiepolitik neu zu ordnen. Der Sachverständigenrat wird vorschlagen, einige „alte“ Atomkraftwerke abzuschalten, um das Atomprogramm zu retten. Die Regierungsmehrheit bewegt sich auf die Zeit vor der Laufzeitverlängerung und damit auf die „Ausstiegsposition“ der Vorgängerregierung Schröder-Fischer zu, auch wenn die SPD nach Fukushima ihre frühere „Ausstiegsposition“ von 2022 auf 2020 „korrigiert“ hat. 

Die unterschiedlichen Laufzeit­optionen (2017, 2020, 2021, 2022, 2032) sind nicht unwichtig und können eine gemeinsame bürgerliche Atompolitik erschweren, vielleicht sogar verhindern. Die Energiepolitik der herrschenden Klasse ist zwar in einer schweren Krise, aber die Abschaltung ein paar „älterer“ AKW und die Fortschreibung des Atomprogramms kann sich auf eine breite parlamentarische Mehrheit von CDU, CSU und SPD stützen.

Deutschland wäre auch ohne das Atomprogramm kapitalistisch. Aber der Bau und die Nutzung der Atomenergie sind ein äußerst lukratives Geschäft, mit dem eine Reihe Wirtschaftsbranchen verbunden sind.   Wohl kaum wird das Kapital freiwillig, ohne zähen, hartnäckigen Kampf auf seine Profitchancen im Atomsektor verzichten.

Der alte, traditionelle Energiesektor (Atom, Kohle, Erdöl, Gas) steht im Widerspruch zum neuen, aufstrebenden, dynamischen Sektor der „alternativen“ Energien. Es handelt sich um Widersprüche zwischen verschiedenen Fraktionen des Kapitals, die keineswegs antagonistisch sind.
Die „Basis“ der Grünen
Von den Parteien sind die Grünen in der Anti-Atom-Bewegung die sichtbarste Kraft. Sie gehen weiter als die SPD und orientieren auf die Abschaltung der Atomkraftwerke bis 2017. Den sofortigen Atomausstieg wollen sie nicht, auch wenn den viele ihrer Mitglieder fordern.

Den Grünen ist es auf ihre Weise gelungen, die Themen Wirtschaft und Ökologie („green new deal“) zusammenzubringen und als grün-liberale Partei attraktiv zu werden, wie die neue Landesregierung Grüne-SPD in Baden-Württemberg zeigt. Während die SPD die Interessen von kommunalen Energieversorgungsunternehmen repräsentiert (die mit Atomstrom arbeiten), ist die Grüne Partei dem alternativen Energiesektor verpflichtet, d. h. dem dort angelegten Kapital. Ein moderner „grüner“ Kapitalismus, der auf „alternative“ Energien baut, die die Umweltzerstörung mildern, kann dem BRD-Kapital weltweit neue Expo
rtchancen eröffnen, ohne die zerstörerischen Implikationen des kapitalistischen Systems überwinden zu können.


In der EU-27 arbeiteten 2009 im Sektor „Erneuerbare Energien“ ca. 912 000 Lohnabhängige, die einen Umsatz von 120 Milliarden Euro schafften. Davon waren 333 400 in Deutschland beschäftigt und produzierten einen Umsatz von 36,65 Mrd. Euro. Deutschland ist europaweit führend in der Produktion von Energie(anlagen) mit Wind (neben Dänemark), Photovoltaik, thermischer Wärme, Erdwärmepumpen, Biogas, aus Müll und Biomasse. Neben den bekannten Instituten und Ministerien sind mittlerweile zahlreiche „grüne“ Unternehmervereinigungen entstanden (s. Kasten).

Die „Glaubwürdigkeit“ der Grünen beim Atomausstieg im Unterschied zu SPD, CDU/CSU fußt auf ihrer „eigenen“ materiellen Basis im „alternativen“ Energiesektor, mit der es sich innerhalb der Anti-Atom-Bewegung noch genauer auseinanderzusetzen gilt, wie auf dem verführerischen Charme „praktischer Erfolge“. Wem es zum Atomausstieg reicht, den Stromanbieter zu wechseln oder das Solarmodul aufs Hausdach zu montieren, braucht weder Marxismus noch Antikapitalismus.

 

„Grüne“ Unternehmerverbände
„Grüne“ Kapitalist­Innen haben sich in zahlreichen Unternehmerverbänden zusammengeschlossen wie dem

  • Bundesverband Bioenergie, Bundesverband Biogene und Regenerative Kraft- und Treibstoffe,
  • Bundesverband Erneuerbare Energie,
  • Bundesverband Windenergie,
  • Bundesverband Solarwirtschaft,
  • Bundesverband Wärmepumpe,
  • Bundesverband Wasserkraft,  
  • Bundesverband Geothermie, der Interessengemeinschaft der Thermischen Abfallanlagen Deutschland,
  • Fachverband Biogas,
  • Union zur Förderung der ÖL- und Proteinpflanzen und dem Verband der Deutschen Biokraftstoffindustrie.

Davon zählt allein der Bundesverband Windenergie ca. 20 000 Mitglieder, die Hersteller von Windkraftanlagen, Betreiber­Innen und Gesellschafter, Planungsbüros, Finanzierer-, Wissenschaftler-, Ingenieur-, Techniker-, Jurist­Innen – und  nach eigenen Angaben Umweltschützer-, Schüler- und Student­Innen umfassen.

 

Weltbevölkerung belogen
„Die Brennstäbe im Reaktor 1 des havarierten japanischen Atomkraftwerks Fukushima sind bereits am ersten Abend nach dem Erdbeben vom 11. März geschmolzen (…) Schon nach fünf Stunden begann die Kernschmelze. Tepco und die japanische Atom-Aufsicht hatten stets betont, Fukushima 1 habe das Erdbeben schadlos überstanden. Zur Havarie sei es bloß gekommen, weil der Tsunami die Not-Kühlsysteme ausgeschaltet habe“ (SZ 16.5.2010). Am 24.5.2011 gab Tepco zu, dass es auch in den Blöcken 2 und 3 unmittelbar nach dem Erdbeben zu einer Kernschmelze gekommen ist. „Tepco habe offenbar befürchtet, eine frühere Bestätigung der Kernschmelze könnte Panik in der Bevölkerung auslösen“ (SZ 25.5.2011).
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