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Sozialistische Demokratie und Diktatur des Proletariats

Von Resolution des XII. Weltkongresses der IV. Internationale (1985) | 13.02.2006

Die gegenwärtige Debatte in der internationalen ArbeiterInnenbewegung über die unterschiedlichen Vorstellungen von sozialistischer Demokratie und Diktatur des Proletariats ist die grundlegendste seit den ersten Jahren nach der russischen Oktoberrevolution von 1917. Sie ist das Ergebnis des Aufschwungs der ArbeiterInnenkämpfe in den kapitalistischen Ländern seit 1968 und der antiimperialistischen Kämpfe, der gleichzeitig stattfindenden Krise des Kapitalismus und der Herrschaft der bürokratischen Kasten in den bürokratisierten ArbeiterInnenstaaten. Sie ist zugleich das Ergebnis eines Bewusstwerdungsprozesses innerhalb der internationalen ArbeiterInnenklasse über den Charakter des Stalinismus und der Bürokratie im Allgemeinen. All diese Faktoren haben diese Debatte aus dem Bereich mehr oder weniger akademischer Polemiken in den Bereich praktischer Politik verlagert. Eine klare Position zu dieser Frage ist unabdingbar, um den Kampf für die sozialistische Revolution in den kapitalistischen Ländern und die politische Revolution in den bürokratisierten Arbeiterstaaten voranzutreiben. Deshalb ist es sinnvoll, dass die IV. Internationale ihre programmatischen Positionen zu diesem Thema darlegt.

1. Was ist die Diktatur des Proletariats?

Die grundlegende Differenz zwischen den ReformistInnen und den ZentristInnen aller Couleur einerseits und den revolutionären MarxistInnen, d. h. den Bolschewiki-LeninistInnen andererseits zur  Frage der Eroberung der Staatsmacht, der Notwendigkeit einer sozialistischen Revolution, des Charakters des Arbeiterstaats und der Bedeutung der Diktatur des Proletariats liegt in den folgenden Punkten:

a) Die revolutionären MarxistInnen haben ein klares Verständnis vom Klassencharakter aller Staaten als Werkzeugen zur Aufrechterhaltung der Klassenherrschaft. In diesem Sinne sind alle Staaten Diktaturen. Auch die bürgerliche Demokratie ist eine Klassendiktatur.

b) Die ReformistInnen halten die Illusion aufrecht, die „Demokratie“ oder die „Institutionen des demokratischen Staates“ stünden über den Klassen und dem Klassenkampf. Die revolutionären MarxistInnen verwerfen diese Illusion.

c) Die revolutionären MarxistInnen haben ein klares Verständnis davon, dass der Staatsapparat und die Institutionen selbst der demokratischsten bürgerlichen Staaten dazu dienen, die Macht und die Herrschaft der kapitalistischen Klasse aufrechtzuerhalten (sowie in den imperialistischen Ländern die Ausbeutung der Völker der halbkolonialen Länder zu schützen) und keine Werkzeuge zum Sturz dieser Herrschaft und zur Übertragung der Macht der bürgerlichen Klasse auf die ArbeiterInnenklasse sein können.

d) Die revolutionären MarxistInnen haben ein klares Verständnis davon, dass die Eroberung der Macht durch die ArbeiterInnenklasse die Zerschlagung des bürgerlichen Staatsapparates, an erster Stelle des polizeilichen und militärischen Unterdrückungsapparates der Bourgeoisie erfordert.

e) Die revolutionären MarxistInnen haben ein klares Verständnis von der Notwendigkeit der Hebung des Bewusstseins- und Organisationsgrades der Masse der Arbeitenden, um die Bourgeoisie zu enteignen und die Diktatur des Proletariats zu konsolidieren.

f) Die revolutionären MarxistInnen folgern hieraus, dass die ArbeiterInnenklasse die Staatsmacht nur im Rahmen staatlicher Institutionen ausüben kann, die sich im Typus von denen bürgerlicher Staaten unterscheiden, d. h. staatlicher Institutionen, die auf souveränen, demokratisch gewählten und demokratisch zentralisierten ArbeiterInnenräten (Sowjets) beruhen, mit folgenden grundlegenden Merkmalen, wie Lenin sie in „Staat und Revolution“ umrissen hat: Wahl aller Beamten, RichterInnen, FührerInnen von Arbeitermilizen (oder Arbeiter- und Bauernmilizen) sowie aller Delegierten, welche die ArbeiterInnen in den staatlichen Institutionen vertreten; Beschränkung ihrer Einkommen auf das eines/einer Facharbeiters/-arbeiterin; Recht der WählerInnen, sie jederzeit abzuberufen; gleichzeitige Ausübung von legislativer und exekutiver Gewalt durch Institutionen vom Typ der Sowjets; radikale Herabsetzung der Zahl der BerufsbeamtInnen und zunehmende Übertragung der Verwaltungsaufgaben auf direkt von den Arbeitenden gebildete Organe. Dies bedeutet, mit anderen Worten, eine demokratische Vertretung in der Art der Sowjets, was – im Gegensatz zur parlamentarischen Demokratie –  immer umfangreichere Formen direkter Demokratie zur Folge hat.

Wie Lenin sagte, ist der ArbeiterInnenstaat der erste Staat in der Geschichte der Menschheit, der eine Herrschaft der Mehrheit der Bevölkerung gegen Minderheiten von AusbeuterInnen und UnterdrückerInnen darstellt: „An Stelle besonderer Institutionen einer bevorzugten Minderheit (privilegiertes Beamtentum, Offizierskorps des stehenden Heeres) kann das die Mehrheit selbst unmittelbar besorgen, und je größeren Anteil das gesamte Volk an der Ausübung der Funktionen der Staatsmacht hat, um so weniger bedarf es dieser Macht.“ (Lenin Werke, Band 25, S. 432) Die Diktatur des Proletariats im programmatischen Sinne des Begriffs steht also in keiner Weise im Widerspruch zur ArbeiterInnendemokratie: „die Diktatur des Proletariats kann und muss ihrem Wesen gemäß höchste Entfaltung der proletarischen Demokratie sein.“ (Leo Trotzki: Nochmals, wohin geht Frankreich? In: Wohin geht Frankreich? Antwerpen o. J., S. 68)

Das Konzept der Diktatur des Proletariats, das all diese Wesensmerkmale enthält, ist ein grundlegender Bestandteil der marxistischen Staatstheorie, der proletarischen Revolution und des Prozesses des Aufbaus einer klassenlosen Gesellschaft. Der Begriff „Diktatur“ hat in diesem Zusammenhang eine konkrete Bedeutung: Er bezeichnet die  Mechanismen zur Entwaffnung und Enteignung der bürgerlichen Klasse und zur Ausübung der Staatsmacht durch die ArbeiterInnenklasse, Mechanismen zur Verhinderung der Wiederherstellung des Privateigentums an den Produktionsmitteln und somit der Wiedereinführung der Ausbeutung von Lohnabhängigen durch KapitalistInnen.

Dieses Konzept kann aber in keiner Weise mit einer diktatorischen Herrschaft über die große Mehrheit der Bevölkerung verglichen werden. Der Gründungskongress der Kommunistischen Internationale stellte ausdrücklich fest, dass „die Diktatur des Proletariats die gewaltsame Unterdrückung des Widerstands der Ausbeuter, d.h. einer verschwindenden Minderheit der Bevölkerung, der Gutsbesitzer und Kapitalisten (ist). Hieraus wiederum ergibt sich, dass die Diktatur des Proletariats unweigerlich nicht nur allgemein gesprochen, eine Veränderung der Formen und Institutionen der Demokratie mit sich bringen muss, sondern eine solche Veränderung derselben, dass die vom Kapitalismus Geknechteten, dass die werktätigen Klassen in einem in der Welt noch nie da gewesenen Maße die Demokratie tatsächlich ausnützen. (…) für die werktätige Klasse, d.h. für die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung eine solche praktische Möglichkeit, sich der demokratischen Rechte und Freiheiten zu bedienen, wie es sie noch niemals auch nur annähernd in den besten und demokratischsten bürgerlichen Republiken gegeben hat.“ (Thesen und Referat über bürgerliche Demokratie und die Diktatur des Proletariats, in: Lenin Werke, Band 28, S. 479; Protokoll des 1. Kongresses der Kommunistischen Intern
ationale, S. 122)

Ein solcher Staat ist nur solange ein Staat im traditionellen Sinn des Wortes, als es notwendig ist, „den Widerstand der Klasse, die ihre politische Macht verliert, gewaltsam zu unterdrücken.“ (Lenin Werke, Bd. 28, S. 479; Protokoll des 1. Kongresses der Kommunistischen Internationale, S. 121) Und für diese Zeit erhält er in der marxistischen Tradition die Bezeichnung Diktatur des Proletariats. „Das Regime der proletarischen Diktatur höre auf diese Weise schon bei seiner Geburt auf, ein ,Staat‘ im alten Sinne des Wortes zu sein, d. h. ein spezieller Apparat, der die Mehrheit der Bevölkerung zum Gehorsam zwingt. Mit den Waffen geht die materielle Gewalt direkt und unmittelbar in die Hände der Organisationen der Werktätigen, zum Beispiel der Sowjets über. Der Staat als bürokratischer Apparat beginnt vom ersten Tage der proletarischen Diktatur an abzusterben. So sagt es das Programm, das bis zum heutigen Tage nicht für ungültig erklärt wurde.“ (Leo Trotzki, Verratene Revolution, Was ist die U.S.S.R. und wohin treibt sie? Antwerpen 1936, S. 53; hier zitiert nach der überarbeiteten Übersetzung in: Trotzki: „Schriften“, hgg. von Helmut Dahmer, Rudolf Segall und Reiner Tosstorff, Hamburg (Rasch und Röhrung) 1988, Bd. I.2, S. 742 f; Trotzki meint das Programm der bolschewistischen Partei vom März 1919 – d. Übers.)

Wenn eine solche Entwicklung in Richtung auf das Absterben des Staates nicht stattfindet, wenn zwar der Widerstand der bürgerlichen Klasse im Inneren des neuen ArbeiterInnenstaates gebrochen ist, sich aber im Gegenzug ein Prozess der Bürokratisierung entwickelt, dann geht es offensichtlich nicht um eine „Verstärkung der Diktatur des Proletariats“, sondern um deren Degeneration in Richtung bürokratischer Staatsform.

Hieraus folgt, dass wir die Behauptung der ReformistInnen und vieler ZentristInnen, die in diesem Punkt von der bürgerlichen Ideologie oder von ApologetInnen der stalinistischen Diktatur beeinflusst sind, zurückweisen, der grundlegende Unterschied zwischen den BefürworterInnen und den GegnerInnen der Diktatur des Proletariats liege entweder im Eintreten für ein Einparteisystem seitens der Ersteren und seiner Ablehnung durch die Letzteren oder in dem Eintreten für eine scharfe Beschränkung oder gar Abschaffung der demokratischen Freiheiten durch diese und der standhaften Verteidigung derselben Freiheiten durch jene. Dieses Argument ist umso heuchlerischer, als die historische Erfahrung beweist, dass die ReformistInnen selbst bereit sind, die demokratischen Freiheiten der Massen scharf zu beschränken und gegen sie sogar polizeiliche und militärische Unterdrückung anzuwenden (Noske), wenn die Massen die bürgerliche Ordnung zu stürzen drohen. Sie beweist ebenso, dass die ReformistInnen weder bereit noch in der Lage sind, die demokratischen Freiheiten auch nur innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft gegen die Bedrohungen durch die extreme Rechte zu verteidigen, insofern eine wirkungsvolle Verteidigung die breiteste Massenmobilisierung einschließlich der Bewaffnung der Massen erfordert.

Im Gegensatz zum programmatischen Revisionismus zahlreicher kommunistischer Parteien und zentristischer Gruppierungen verteidigt die IV. Internationale diese klassischen Auffassungen von Marx und Lenin. Eine sozialistische Gesellschaft ist nicht möglich ohne kollektives Eigentum an den Produktionsmitteln und am gesellschaftlichen Mehrprodukt und ohne demokratische Planung und Verwaltung durch die ArbeiterInnenklasse in ihrer Gesamtheit mittels demokratisch zentralisierter ArbeiterInnenräte, d. h. der ArbeiterInnenselbstverwaltung. Eine solche Vergesellschaftung ist nicht möglich ohne die politische und wirtschaftliche Enteignung der KapitalistInnen und die Ausübung der Staatsmacht durch die ArbeiterInnenklasse. Eine voll entwickelte sozialistische Gesellschaft kann nirgends in den engen Grenzen des Nationalstaats verwirklicht werden.

Insbesondere seit der tragischen Erfahrung Chiles, die so viele frühere Lehren der Geschichte bestätigt hat, muss die reformistische Auffassung – die die kommunistischen Parteien (KP) im kapitalistischen Europa, die japanische KP und verschiedene andere KPen und zentristische Gruppierungen jetzt mit den SozialdemokratInnen teilen– derzufolge die ArbeiterInnenklasse ihre Ziele im Rahmen der bürgerlich-parlamentarischen Institutionen erreichen könne, indem sie auf Parlamentswahlen vertraut und schrittweise „Machtpositionen“ innerhalb dieser Institutionen erobert, energisch bekämpft und als das angeprangert werden, was sie ist: ein Vorwand für die Absage an den Kampf um die Enteignung der Bourgeoisie, an eine Politik des entschiedenen Eintretens für die Interessen der arbeitenden Klasse; die Ersetzung einer Politik konsequenten Klassenkampfs durch eine immer systematischere Klassenzusammenarbeit mit der Bourgeoisie; eine Entwaffnung des Proletariats gegenüber der von der Kapitalistenklasse entfesselten Gewalt und – infolgedessen – eine zunehmende Tendenz zur Kapitulation vor den Klasseninteressen der Bourgeoisie in Zeiten einer entscheidenden wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Krise. Weit davon entfernt, die Kosten der „Gesellschaftsveränderung“ zu mindern und einen friedlichen, wenngleich langsameren Übergang zum Sozialismus sicherzustellen, kann ein derartiger politischer Kurs nur zu blutigen Niederlagen und großen Massakern nach deutschem, spanischem, indonesischem oder chilenischem Vorbild führen, wenn er das politische Verhalten der Arbeitenden in einer Periode einer unausweichlichen umfassenden Konfrontation zwischen den Klassen entscheidend bestimmen kann. (Im Falle von Deutschland war die verbrecherische ultralinke Theorie und Praxis des „Sozial-Faschismus“ der Komintern ein zusätzlicher Faktor für die Niederlage.)

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2. Die ArbeiterInnenräte und die Ausdehnung der demokratischen Rechte der arbeitenden Massen

Die Diktatur des Proletariats bedeutet in ihrer vollendeten Form als ArbeiterInnendemokratie die Ausübung der Staatsmacht durch Sowjets, durch demokratisch gewählte ArbeiterInnenräte. Die gesamte Kritik an den Schranken der bürgerlichen Demokratie, die von Marx und von Lenin entwickelt worden ist, beruht auf dem Umstand, dass infolge des Privateigentums und der kapitalistischen Ausbeutung (d. h. der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ungleichheit), die mit der besonderen Klassenstruktur der bürgerlichen Gesellschaft verbunden sind (Atomisierung und Entfremdung der ArbeiterInnenklasse, Gesetzgebung, die das Privateigentum schützt, Funktion des Repressionsapparates usw.), selbst die demokratischsten bürgerlichen Ordnungen die praktische Anwendung der demokratischen Rechte, die praktische Möglichkeit, in den Genuss der demokratischen Freiheiten zu gelangen, für die arbeitenden Massen drastisch einschränken. Die logische Schlussfolgerung, die sich aus dieser Kritik ergibt, ist jedoch, dass die ArbeiterInnendemokratie der bürgerlichen Demokratie nicht nur darin überlegen sein muss, dass sie sich auch auf den wirtschaftlichen und sozialen Bereich erstreckt (Existenzsicherung, Recht auf Arbeit, auf kostenlose Bildung, auf Freizeit usw.), sondern auch, indem sie die demokratischen Rechte, die die Arbeitenden und alle werktätigen Schichten im politischen und sozialen Bereich genießen, ausdehnt.

Einer Einheitspartei oder so genannten Massenorganisationen und Berufsverbänden (wie den Schriftstellerverbänden), die ausschließlich von dieser Par
tei kontrolliert werden, ein Monopol auf Zugang zu den Druckereien, zum Radio, zum Fernsehen und anderen Massenmedien, zu den Versammlungsräumen usw. zu gewähren, bedeutet de facto eine Einschränkung und nicht eine Ausdehnung der demokratischen Rechte des Proletariats im Vergleich zu denen unter der bürgerlichen Demokratie. Das Recht der Arbeitenden einschließlich derjenigen, die nicht mit der Regierung einverstanden sind, auf Zugang zu den materiellen Mitteln zur Ausübung der demokratischen Freiheiten (Presse-, Versammlungs-, Demonstrationsfreiheit, Streikrecht usw.) ist wesentlich, um eine solche Ausdehnung sicherzustellen.

Eine Ausdehnung der demokratischen Rechte der Arbeitenden über diejenigen hinaus, die sie bereits unter den Bedingungen der bürgerlichen Demokratie genießen, ist daher unvereinbar mit der Einschränkung des Rechts auf Bildung von politischen Gruppen, Tendenzen und Parteien auf programmatischer oder ideologischer Grundlage.

Zudem werden die Selbsttätigkeit und die Selbstverwaltung der arbeitenden Massen unter der Diktatur des Proletariats zahlreiche neue Aspekte aufweisen und die Konzepte „politische Aktivität“ und „politische Parteien“, „politische Programme“ und „demokratische Rechte“ weit über das hinaus erweitern, was unter der bürgerlichen Demokratie für das politische Leben charakteristisch ist. Dies gilt nicht allein für die Entfaltung entwickelter Formen der Rätedemokratie (Rätekongresse) und die zunehmende Umsetzung direkter Demokratie. Politische Instrumente wie Referenden zu speziellen Fragen können benutzt werden, um die Masse der Arbeitenden über eine Reihe von Schlüsselfragen der politischen Orientierung direkt entscheiden zu lassen. Auch der Inhalt der „Politik“ als solcher wird sich wandeln.

In der kapitalistischen Produktionsweise und sogar unter vorkapitalistischen Formen von Warenproduktion regelt grundsätzlich das Wertgesetz – d. h. objektive wirtschaftliche Gesetze, die sich hinter dem Rücken der Menschen vollziehen – das Wirtschaftsleben. Die sozialistische Revolution impliziert die Möglichkeit eines gigantischen Sprunges nach vorne, hin zu einer bewussten Regelung des wirtschaftlichen und sozialen Schicksals der Menschheit anstatt einer blinden und anarchischen Ordnung. Auch wenn dieser Prozess erst mit der Vollendung einer sozialistischen Gesellschaft auf Weltebene eine abgeschlossene und harmonische Form annehmen kann, so beginnt er doch mit der bewussten Planung der sozialisierten Wirtschaft in der Phase des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus, in der Epoche der Diktatur des Proletariats. Wenn der Einfluss des Wertgesetzes während dieser Zeit auch nicht vollständig beseitigt werden kann, so muss doch seine Vorherrschaft überwunden werden, ansonsten kann die Wirtschaft nicht geplant werden.

Planung bedeutet Verteilung der wirtschaftlichen Ressourcen nach bewusst aufgestellten Prioritäten anstatt gemäß den blinden Kräften des Markts und des Profitgesetzes. Wer aber legt diese Prioritäten fest, welche den Wohlstand Dutzender und Hunderter Millionen von Menschen betreffen?

Grundlegend gibt es nur zwei Mechanismen, die an die Stelle der Herrschaft des Wertgesetzes treten können: entweder bürokratische Entscheidungen, die der Masse der ProduzentInnen bzw. KonsumentInnen von oben aufgezwungen werden (gleich wie ihr Ursprung und Charakter aussehen mag, vom aufgeklärten technokratischen Paternalismus bis zum äußersten willkürlichen Despotismus vom Typ Stalins); oder Entscheidungen, die von der Masse der ProduzentInnen selbst getroffen werden, mittels des Mechanismus der demokratisch zentralisierten ArbeiterInnenmacht, d. h. dank dem Funktionieren der sozialistischen Demokratie. Dies wird der Hauptinhalt der Diskussionen  und politischen Kämpfe,  also der sozialistischen Demokratie  unter der Diktatur des Proletariats sein.

Die Erfahrung hat gezeigt, dass der erst genannte Mechanismus zu ungeheuren Verschwendungen führt und ausgesprochen ineffektiv ist. Dies ergibt sich nicht nur aus der direkten Verschwendung materieller Ressourcen, die er nach sich zieht, und aus der fortgesetzten Unordnung im Plan, die er hervorruft. Dies ergibt sich auch und vor allem aus der dadurch bewirkten fortgesetzten Erstickung des schöpferischen und produktiven Potentials der Arbeitenden. Die theoretische Analyse wie auch die empirischen Fakten führen somit zu der einheitlichen Schlussfolgerung, dass der zweite Mechanismus diese Verschwendungen stark vermindern kann und muss. Er stellt auf alle Fälle den einzigen Mechanismus dar, der einen schrittweisen Übergang zum Ziel der Diktatur des Proletariats ermöglicht: der Schaffung einer klassenlosen sozialistischen Gemeinschaft von sich selbst verwaltenden ProduzentInnen und KonsumentInnen.

Die Erfahrung hat jedoch auch gezeigt, dass dieser Mechanismus der im System der ArbeiterInnenräte demokratisch zentralisierten Arbeitermacht die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Widersprüche des Aufbaus des Sozialismus nicht ohne zusätzliche, vom Rätestaat unabhängige Korrektivinstrumente bewältigen kann. Die Existenz unabhängiger Gewerkschaften und eines Arbeitsrechts, das das Streikrecht garantiert, sind in dieser Hinsicht ausschlaggebend, um die Verteidigung der Bedürfnisse der Arbeitenden und ihres Lebensstandards gegenüber den Beschlüssen der ArbeiterInnenräte und insbesondere gegen jede bürokratische Willkür der Verwaltungsorgane sicherzustellen. Wie die Erfahrungen in Ungarn 1956, in der Tschechoslowakei 1968 und in Polen 1980 bestätigen, handelt es sich dabei um ein grundlegendes Anliegen des Proletariats, das die Erfahrung der bürokratischen Diktatur durchgemacht hat. Auch wenn die revolutionären MarxistInnen im Prinzip für die Organisierung der ArbeiterInnenklasse in einer einzigen demokratischen Gewerkschaft eintreten, darf das Recht auf Gewerkschaftspluralismus nicht in Frage gestellt werden. Die Unvereinbarkeit von zentralen Führungsämtern einer Partei und einer
Gewerkschaft ist ein Element dieser Unabhängigkeit der Gewerkschaften.

Der Aufbau einer klassenlosen sozialistischen Gesellschaft ist zugleich ein Prozess der Umwandlung sämtlicher Aspekte des gesellschaftlichen Lebens. Er schließt eine konstante Veränderung nicht nur der Produktionsverhältnisse, der Distributionsweise, des Arbeitsprozesses, der Formen der Leitung von Wirtschaft und Gesellschaft, der Sitten, der Gebräuche und der Denkgewohnheiten der großen Mehrheit der Bevölkerung ein, sondern auch einen grundlegenden Umbau der Städte, eine vollständige Revolution des Bildungswesens, die Wiederherstellung und den Schutz des ökologischen Gleichgewichts, technologische Neuerungen zum Erhalt der seltenen Naturvorkommen usw.

Bislang waren die höchsten Errungenschaften der Kultur Eigentum der herrschenden Klassen mit besonderen Vorrechten und Privilegien, die der Intelligenz gewährt werden. Mitglieder dieser besonderen Schicht gewährleisten die Übermittlung und die Weiterentwicklung der Wissenschaften, der Künste und der Fachberufe für die herrschenden Klassen. Diese Intelligenz wird schrittweise verschwinden in dem Maße, wie die Massen sich das gesamte kulturelle Erbe der Vergangenheit aneignen und damit beginnen, die Kultur der klassenlosen Gesellschaft zu schaffen. Auf diese Weise wird zugleich der Unterschied zwischen „Handarbeit“ und „Kopfarbeit“ verschwinden, da jedes Individuum seine sämtlichen Fähigkeiten und sämtlichen Talente frei wird entfalten können.

All diese Bemühungen, für die es ke
ine vorgefertigten Lösungen gibt, werden zu umfangreichen ideologischen Diskussionen und Kämpfen Anlass geben. Unterschiedliche Plattformen, die sich auf diese Probleme beziehen, werden eine bedeutende Rolle spielen. Jegliche Beschränkung dieser Diskussionen und Bewegungen unter dem Vorwand, diese oder jene Plattform widerspiegele „objektiv“  den Druck oder die Interessen der Bourgeoisie oder des Kleinbürgertums oder ,würde, konsequent zu Ende geführt,  „zur Restauration des Kapitalismus führen“,   kann die Herausbildung eines Konsenses zugunsten gerade solcher Lösungen für die brennenden Probleme, die vom Standpunkt des Aufbaus des Sozialismus, d.h. vom Standpunkt der Klasseninteressen des Proletariats insgesamt im Unterschied zu sektoriellen Interessen am wirksamsten sind,  nur behindern.

Man muss herausstellen, dass es während des gesamten Prozesses des Aufbaus einer klassenlosen Gesellschaft soziale Kämpfe gegen gesellschaftliche Übel geben wird, die in der Klassengesellschaft wurzeln, aber nicht unmittelbar mit der Aufhebung der kapitalistischen Ausbeutung und der Lohnarbeit verschwinden werden. Die Unterdrückung der Frauen, die Unterdrückung der nationalen Minderheiten, die Unterdrückung und die Entfremdung der Jugend, die Diskriminierung der Homosexualität sind Urbilder für derartige Probleme, die sich nicht schlicht auf den „Klassenkampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie“ zurückführen lassen, es sei denn, man stelle die traditionelle marxistische, materialistische Definition der Kategorien „Proletariat“ und „Bourgeoisie“ in Frage, wie verschiedene maoistische und ultralinke Strömungen es getan haben.

Die politische Freiheit unter der ArbeiterInnendemokratie schließt daher die Organisations- und Aktionsfreiheit unabhängiger Bewegungen für die Emanzipation der Frauen, für nationale Befreiung, der Jugend ein, d. h. von Bewegungen, die breiter sind als die ArbeiterInnenklasse im wissenschaftlichen Sinn. Die revolutionäre Partei muss in diesen autonomen Bewegungen die politische Führung erringen und den verschiedenen utopischen oder reaktionären Strömungen eine ideologische Niederlage beibringen, und zwar nicht mit administrativen oder repressiven Mitteln, sondern im Gegenteil durch die Förderung der breitest möglichen Massendemokratie in den Reihen dieser Bewegungen und durch die vorbehaltlose Unterstützung des Rechts für alle Tendenzen, ihre Meinungen und ihre Plattformen vor der Gesellschaft insgesamt zu vertreten.

Zur besonderen Form der proletarischen Staatsmacht gehört auch eine dialektische Kombination von Zentralisierung und Dezentralisierung. Das Absterben des Staates, das mit dem Beginn der Diktatur des Proletariats einsetzen muss, drückt sich in einem international, national, regional und lokal (Gemeinden) stattfindenden Prozess der schrittweisen Übertragung des Rechts der Leitung und Verwaltung immer breiterer Bereiche der gesellschaftlichen Aktivität (Gesundheitssystem, Bildungssystem, System des kollektiven Transports, Telekommunikationssystem usw.) auf Organe der Selbstverwaltung aus. Der zentrale Kongress der ArbeiterInnenräte (d. h. das Proletariat als Klasse) beschränkt sich darauf, durch Mehrheitsbeschluss jedem einzelnen Bereich den ihm zukommenden Anteil an den materiellen und menschlichen Ressourcen zuzuweisen, über die die Gesellschaft insgesamt verfügt. Dies schließt politische Diskussionen und Kämpfe ein, die nicht auf simplistische, mechanische „Klassenkriterien“ reduziert werden dürfen.

Schließlich darf die Teilnahme von Millionen von Menschen am Prozess des Aufbaus einer klassenlosen Gesellschaft – und zwar nicht nur mittels mehr oder minder passiver Stimmabgabe, sondern auch in der wirklichen Leitung auf verschiedenen Ebenen – nicht auf arbeitertümelnde Weise allein auf die „ProduktionsarbeiterInnen“ oder auf die Ebene der Betriebe beschränkt werden. Lenin hat ausgeführt, im ArbeiterInnenstaat müsse die übergroße Mehrheit der Bevölkerung direkt an der Verwaltung des Staats teilnehmen. Dies bedeutet, dass die ArbeiterInnenräte, auf denen die Diktatur des Proletariats beruhen wird, nicht nur aus Fabrikkomitees bestehen werden, sondern aus Organen der Selbstorganisation der Massen in allen Bereichen des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens, einschließlich selbstverständlich der Fabriken, der Betriebe für die Güterverteilung, der Krankenhäuser, der Schulen, der Einrichtungen für Telekommunikation und Transport und der Stadtviertel (territoriale Einheiten). Dies ist unabdingbar, um die am meisten zerstreuten, oft sehr armen und am meisten unterdrückten Schichten des Proletariats – wie die Frauen, die unterdrückten Nationalitäten, die Jugendlichen, die Beschäftigten der Kleinbetriebe, die RentnerInnen usw. – in das aktive und bewusste Proletariat zu integrieren. Dies ist auch unabdingbar, um das Bündnis zwischen der ArbeiterInnenklasse und dem werktätigen Kleinbürgertum zu festigen. Dieses Bündnis ist entscheidend für die Erringung und das den Erhalt der Macht und für die Verminderung der sozialen Kosten einer siegreichen Revolution und des Aufbaus des Sozialismus.

Eine der institutionellen Garantien für die Entwicklung der sozialistischen Demokratie ist die Herstellung korrekter Beziehungen zwischen den Organen dieser Demokratie und den staatlichen Verwaltungsapparaten, und zwar auf allen Ebenen und in allen Bereichen, dem politischen, kulturellen, schulischen, militärischen usw. Sozialistische Demokratie ist nicht möglich, wenn diese Apparate nicht strikt abgegrenzte Aktionsräume haben, wenn deren Befugnisse nicht klar auf das unabdingbare Minimum reduziert und wenn sie nicht voll und ganz den Organen der sozialistischen Demokratie (den Räten) untergeordnet sind. Die Räte müssen souverän über die strategischen und taktischen Alternativen entscheiden können, die in ihrem Kompetenzbereich liegen. Die Verwaltungsapparate müssen sich um die Ausführung dieser Entscheidungen kümmern – und nichts mehr.

Die VerwaltungsleiterInnen müssen nach technischen Kriterien (berufliche Qualifikation und Erfahrung) ausgewählt werden. Sie dürfen nicht von den Vorgesetzten in der Verwaltung ernannt werden, sondern von den jeweiligen Räten, und sie müssen von diesen abberufen werden können.

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3. Der Klassenkampf unter dem Kapitalismus, der Kampf für demokratische Rechte und die Entstehung der Diktatur des Proletariats

Die herrschende Klasse setzt alle ihr zur Verfügung stehenden ideologischen Mittel ein, um die bürgerlich-parlamentarischen Institutionen mit der Erhaltung demokratischer Freiheiten gleichzusetzen. Vor allem in Westeuropa, in Japan und Australien suchen die kapitalistischen Herrscher zum Beispiel als VerteidigerInnen der demokratischen Bedürfnisse der Arbeiter- und der plebejischen Massen zu erscheinen, die durch die negativen Erfahrungen des Faschismus und des Stalinismus erheblich verstärkt worden sind.

Eine der zentralen Vorbedingungen für den Kampf zur Gewinnung der Massen für die sozialistische Revolution und die Diktatur des Proletariats besteht darin, die demokratischen Bedürfnisse der Massen aufzugreifen und ihnen in geeigneter Form Ausdruck zu verleihen“ um damit den beständigen Bemühungen der ReformistInnen entgegenzuwirken, sich diese Bestrebungen zunutze zu machen und sie in die Sackgasse der bürgerlich-
parlamentarischen Institutionen abzuleiten.

Die demokratischen Rechte, die die Massen unter dem Kapitalismus genießen – von der Redefreiheit über das Recht auf Bildung von Gewerkschaften und Arbeiterparteien und das allgemeine Wahlrecht bis zum Recht auf freie Abtreibung – sind Errungenschaften, die durch Massenkämpfe gewonnen wurden. Die revolutionären MarxistInnen kämpfen für die umfassendsten demokratischen Freiheiten, die unter dem Kapitalismus möglich sind. Je umfassender diese Freiheiten sind, desto größer sind die Möglichkeiten der Arbeitenden und ihrer Verbündeten, für ihre Interessen zu kämpfen, die Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen zugunsten des Proletariats zu verändern und so die endgültige Kraftprobe mit den KapitalistInnen unter den besten Bedingungen aufzunehmen.

Das Klasseninteresse der Arbeitenden schließt also den Kampf zur Verteidigung jeder Errungenschaft der Massen einschließlich der demokratischen Freiheiten gegen die bürgerliche Reaktion ein. Die Geschichte hat gezeigt, dass die ArbeiterInnenklasse die einzige Klasse ist, die fähig ist, diesen Kampf bis ans Ende zu führen, und dass die Arbeitereinheitsfront das beste Instrument ist, um erfolgreich einen derartigen Kampf gegen die Gefahr einer faschistischen oder einer Militärdiktatur zu führen. Im Kampf gegen die kapitalistische Reaktion setzen wir auch in keiner Weise Vertrauen in den bürgerlichen Staat oder irgendeine seiner Institutionen. Bei Einschränkungen demokratischer Rechte durch den bürgerlichen Staat besteht die Gefahr, dass sie gegen die ArbeiterInnenklasse und vor allem gegen ihren revolutionären Flügel benutzt werden. Der Faschismus wie jeder andere Versuch zur Durchsetzung eines autoritären Regimes kann nur durch unabhängige Massenmobilisierungen der ArbeiterInnenklasse und ihrer Verbündeten im Rahmen einer Einheitsfront gestoppt werden.

Der niedergehende Kapitalismus führt zur Reaktion. Der Umfang der demokratischen Rechte und Freiheiten, die die Massen zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem bestimmten Land genießen, wird durch die Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen bestimmt. Die allgemeine historische Tendenz geht in der imperialistischen Epoche in Anbetracht verschärfter Klassenpolarisierung in Richtung einer Verminderung der demokratischen Freiheiten der Massen. Dies gilt umso mehr, je mehr sich eine bürgerliche Klasse in einer zugespitzten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krise befindet und je geringer ihre Basis und ihre materiellen Reserven sind. Dies zeigt sich heute am deutlichsten an der Vielzahl brutaler Diktaturen in den halbkolonialen Ländern.

Es ist also eine entscheidende Aufgabe der revolutionären MarxistInnen, den ReformistInnen als „Repräsentanten“ der demokratischen Bedürfnisse der Arbeitenden die Führung der Massen zu entreißen. Eine programmatische Klärung, insbesondere der Kampf gegen die reformistischen und parlamentarischen Illusionen, greift in dieser Hinsicht eindeutig zu kurz, so wichtig sie auch ist. Die Massen lernen vor allem durch ihre tägliche praktische Erfahrung. Daher ist es auch so wichtig, mit ihnen diese Erfahrungen zu teilen und daraus die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen.

Je mehr sich der Klassenkampf verschärft, desto mehr werden die Arbeitenden die Autorität und die Vorrechte der Bourgeoisie auf allen Ebenen in Frage stellen. Sie werden beginnen, mittels ihrer eigenen Organisationen – Gewerkschaftskomitees, Fabrikkomitees, Organe der ArbeiterInnenkontrolle, ArbeiterInnenräte im eigentlichen Sinne – immer mehr wirtschaftliche und politische Entscheidungen zu treffen. Auf diese Weise werden sie immer mehr Vertrauen in ihre eigene Kraft gewinnen, den bürgerlichen Staat zu stürzen.

Um ihre Kämpfe mittels breitester Beteiligung so wirksam wie möglich zu führen, werden die Arbeitenden im Verlauf dieses Prozesses auch die Notwendigkeit verstehen, auf die demokratischsten Organisationsformen zu setzen. Durch diese Kampferfahrung und ihre Teilnahme an den eigenen demokratisch strukturierten Organisationen werden die Massen eine viel größere Handlungsfreiheit und eine viel größere Freiheit überhaupt gewinnen, als sie sie im institutionellen Rahmen der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie je gehabt haben. So werden sie den unersetzbaren Wert der proletarischen Demokratie kennen lernen. Dies ist das unabdingbare Verbindungsglied in der Kette der Entwicklungen, die von der kapitalistischen Herrschaft zur Eroberung der Macht durch das Proletariat führt.  Die beste Schule für die proletarische Demokratie unter der Diktatur des Proletariats ist also die Selbstorganisation des Proletariats im Verlaufe des Klassenkampfes unter dem Kapitalismus – von den demokratischen Streikvollversammlungen und den demokratisch gewählten Streikkomitees bis zum verallgemeinerten System der Doppelherrschaft.

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4. Einparteien- oder Mehrparteiensystem?

Ohne die vollständige Freiheit zur Organisierung politischer Gruppen, Tendenzen und Parteien gibt es keine volle Entfaltung der demokratischen Rechte und Freiheiten der arbeitenden Massen unter der Diktatur des Proletariats.

Mit ihrer freien Stimmabgabe werden die ArbeiterInnen und armen Bauern/Bäuerinnen selbst anzeigen, welche Parteien sie in den Sowjets vertreten wissen wollen. In diesem Sinne ist die Freiheit zur Organisierung verschiedener Gruppen, Tendenzen und Parteien eine Vorbedingung für die Ausübung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse: „Ohne Legalisierung der sowjetischen Parteien ist die Demokratisierung der Sowjets undenkbar.“ (Leo Trotzki, Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der IV. Internationale [Das Übergangsprogramm], Frankfurt/M. [isp-Verag] 1974, S. 42)

Ohne eine derartige nicht von ideologischen Einschränkungen begrenzte Freiheit kann es keine wirklich und frei gewählten ArbeiterInnenräte und auch keine wirkliche Machtausübung durch die ArbeiterInnenräte geben.

Einschränkungen dieser Freiheit wären keine Einschränkungen von politischen Rechten der feindlichen Klasse, sondern Einschränkungen von politischen Rechten des Proletariats. Gesellschaftlich gesehen stellt diese Freiheit eine Vorbedingung dafür dar, dass die ArbeiterInnenklasse kollektiv, als Klasse, zu einem gemeinsamen Standpunkt oder zumindest zu einem Mehrheitsstandpunkt zu den zahllosen Problemen der Taktik, der Strategie und sogar der Theorie (des Programms) kommt, die die gigantische Aufgabe des Aufbaus einer klassenlosen Gesellschaft unter der Führung von traditionell unterdrückten, ausgebeuteten und erniedrigten Massen darstellt. Ohne diese Freiheit zur Organisation politischer Gruppen, Tendenzen und Parteien kann es keine wirkliche sozialistische Demokratie geben.

Die revolutionären MarxistInnen lehnen die substitutionalistische, elitäre, paternalistische und bürokratische Abweichung vom Marxismus ab, der zufolge die sozialistische Revolution, die Eroberung der Staatsmacht und die Ausübung der Staatsmacht unter der Diktatur des Proletariats als Aufgabe der revolutionären Partei betrachtet wird, die „im Namen“ der Klasse handelt.

Die Diktatur des Proletariats soll das bedeuten, was die Wörter eigentlich besagen und was in der theoretischen Tradition sowohl von Marx als auch von Lenin ausdrücklich enthalten ist, d.h. die Herrschaft der ArbeiterInnenklasse als Klasse (der &b
dquo;assoziierten ProduzentInnen“). Die Emanzipation der ArbeiterInnen kann nur das Werk der ArbeiterInnen selbst sein und nicht das Produkt eines passiven Proletariats, das durch wohlwollende und aufgeklärte VerwalterInnen der Revolution erzogen wird. Daher versteht es sich von selbst, dass die führende Rolle der revolutionären Partei sowohl bei der Eroberung der Macht als auch bei dem Aufbau der klassenlosen Gesellschaft nur in der Eroberung der politischen Hegemonie innerhalb der Klasse, die mehr und mehr Selbsttätigkeit entfaltet, bestehen kann. Es geht darum, dass die Partei die Mehrheit für ihre Vorschläge innerhalb der Klasse ausschließlich mit politischen und nicht mit administrativen oder repressiven Mitteln erringt.

Unter der Diktatur des Proletariats in ihrer voll ausgebildeten Form wird die Staatsmacht von demokratisch gewählten ArbeiterInnenräten ausgeübt. Die revolutionäre Partei kämpft für eine korrekte politische Linie und um die politische Führung innerhalb dieser ArbeiterInnenräte, ohne sich selbst an deren Stelle zu setzen. Partei und Staat bleiben streng voneinander getrennte, unterschiedliche Einheiten.

Wirklich repräsentative, demokratisch gewählte ArbeiterInnenräte können aber nur existieren, wenn die Massen das Recht haben zu wählen, wen immer sie wollen, ohne Unterschiede und ohne einschränkende Vorbedingungen hinsichtlich der ideologischen und politischen Überzeugungen der gewählten Delegierten. (Das gilt nicht für Parteien, die einen bewaffneten Kampf gegen den ArbeiterInnenstaat führen, d.h. unter Bedingungen des Bürgerkriegs.) Ebenso können ArbeiterInnenräte nur dann demokratisch funktionieren, wenn alle gewählten Delegierten das Recht genießen, Gruppen, Tendenzen und Parteien zu bilden, wenn sie zu den Massenmedien Zugang haben, wenn sie ihre unterschiedlichen Plattformen vor den Massen darlegen können und wenn sie das Recht haben, sie öffentlich zur Diskussion herauszufordern und dem Test der Praxis zu unterziehen. Ganz allgemein beschneidet jede Einschränkung der Organisationsfreiheit die Freiheit des Proletariats, die politische Macht auszuüben, d.h. sie beschneidet die ArbeiterInnendemokratie, was im Gegensatz stünde  zu den historischen Interessen der Arbeiterklasse, zur Notwendigkeit der Festigung der Arbeitermacht, zu den Interessen der Weltrevolution und des Aufbaus des Sozialismus.

Die marxistische Staatstheorie enthält in keiner Weise die Auffassung, ein Einparteiensystem sei eine notwendige Vorbedingung oder ein Kennzeichen der ArbeiterInnenmacht, des ArbeiterInnenstaates oder der Diktatur des Proletariats. In keiner einzigen theoretischen Schrift von Marx, Engels, Lenin oder Trotzki und in keinem einzigen programmatischen Dokument der III. Internationale unter Lenin ist jemals eine solche Verteidigung des Einparteiensystems aufgetaucht. Die Theorien, die später entwickelt worden sind, wie die grobschlächtige stalinistische Theorie, der zufolge die gesellschaftlichen Klassen in der ganzen Geschichte immer nur durch eine einzige Partei vertreten worden seien, sind geschichtlich falsch und dienen nur als Rechtfertigung des politischen Machtmonopols, das die sowjetische Bürokratie und ihre ideologischen Erben in den anderen bürokratisierten ArbeiterInnenstaaten an sich gerissen haben, ein Monopol, das auf der politischen Enteignung der ArbeiterInnenklasse beruht. Die Geschichte – einschließlich der jüngsten Ereignisse in der Volksrepublik China, in Polen, in Jugoslawien, auf Grenada, in Nicaragua – bestätigen, dass Trotzki Recht hatte, als er erklärte: „In Wirklichkeit sind die Klassen heterogen, von inneren Gegensätzen zerrissen; ihre gemeinsamen Aufgaben vermögen sie nicht anders als durch den inneren Kampf der Richtungen, Gruppierungen und Parteien zu lösen. (…) Ein Beispiel, wo einer Klasse nur eine Partei entspräche, ist in der gesamten politischen Geschichte nicht zu finden, vorausgesetzt natürlich, dass man nicht den polizeilichen Anschein für die Wirklichkeit hält.“ (Trotzki, Verratene Revolution, in Schriften Bd. 1, 2, S. 969)

Das galt für die Bourgeoisie unter dem Feudalismus. Das gilt für die ArbeiterInnenklasse unter dem Kapitalismus. Das wird für die ArbeiterInnenklasse unter der Diktatur des Proletariats und im Prozess des Aufbaus des Sozialismus gelten.

Wenn man sagt, dass nur die Parteien und Organisationen zugelassen werden können, die kein bürgerliches (und kleinbürgerliches?) Programm haben oder die nicht „anti-sozialistische oder antisowjetische Agitation und Propaganda betreiben“, wo soll dann die Grenzlinie gezogen werden? Sollen Parteien verboten werden, bei denen eine Mehrheit der Mitglieder der ArbeiterInnenklasse angehört, deren Ideologie aber zugleich bürgerlich ist? Wie lässt sich eine solche Position mit der Vorstellung von freien Wahlen der ArbeiterInnenräte vereinbaren? Wo verläuft die Grenzlinie zwischen dem „bürgerlichen Programm“ und der „reformistischen Ideologie“? Müssen dann auch die reformistischen Parteien verboten werden? Wird die Sozialdemokratie unterdrückt werden?

Allein aufgrund der geschichtlichen Tradition wird es unvermeidbar sein, dass ein derartiger reformistischer Einfluss in der ArbeiterInnenklasse zahlreicher Länder noch lange fortbesteht. Sein Überleben wird durch  Unterdrückung mittels administrativer Maßnahmen nicht verkürzt werden; sie würde ihn im Gegenteil noch verstärken. Das beste Mittel zur Bekämpfung reformistischer Illusionen und Ideen ist die Verbindung von ideologischem Kampf und Herausbildung materieller Bedingungen, die das Verschwinden derartiger Illusionen begünstigen. Aber unter Bedingungen administrativer Unterdrückung sowie fehlender Diskussionsfreiheit und fehlenden Meinungsaustauschs verliert der ideologische Kampf viel von seiner Wirksamkeit.

Wenn die revolutionäre Partei für das Verbot der Sozialdemokratie oder anderer reformistischer Gruppierungen Agitation betreibt, wird es tausendmal schwieriger werden, die Tendenzfreiheit und die Duldung von Fraktionen in ihren eigenen Reihen aufrechtzuerhalten, denn die politische Heterogenität der ArbeiterInnenklasse wird sich dann unvermeidlich  innerhalb der Einheitspartei widerspiegeln.

Die wahre Alternative ist also nicht: entweder Freiheit für diejenigen, die ein wirklich sozialistisches Programm vertreten, oder aber Freiheit für alle politischen Parteien. Die wahre Alternative lautet: entweder ArbeiterInnendemokratie mit dem Recht der Massen, zu wählen, wen immer sie wollen, und die politische Organisationsfreiheit für diejenigen, die die Räteverfassung in der Praxis anerkennen (selbst wenn sie bürgerliche oder kleinbürgerliche Ideologien oder Programme vertreten), oder aber eine entscheidende Einschränkung der politischen Rechte der ArbeiterInnenklasse selbst mit all den Folgen, die sich daraus ergeben. Die systematische Einschränkung der Existenz politischer Parteien führt zu systematischer Einschränkung der ArbeiterInnendemokratie und tendiert unvermeidlich zur Einschränkung der Freiheit innerhalb der revolutionären Avantgardepartei selbst.

Wenn wir für die Legalisierung sämtlicher Sowjetparteien, d. h. sämtlicher Parteien, die in der Praxis die Räteverfassung anerkennen, eintreten, so bedeutet dies in keiner Weise eine Unterschätzung der Verwirrung, der Irrtümer und sogar der Teilniederlagen, die sich aus der Propagierung falscher Programme und dem Einfluss fremder Klassen auf das Proletariat durch derartige Parteien ergeben können und erge
ben werden.

Noch weniger bedeutet es, dass wir die ArbeiterInnen dazu aufrufen würden, Parteien auf der Grundlage von politischen Programmen, Plattformen oder Linien, die wir für falsch halten, zu bilden. Wir behaupten nur, dass die künstliche, administrative Unterdrückung solcher Parteien – künstlich insofern, als sie weiter, auch nach ihrer Unterdrückung, realen Meinungsströmungen innerhalb der Massen entsprechen – derartige Gefahren durchaus nicht vermindert, sondern noch steigert. Die politische, ideologische und kulturelle Homogenisierung der ArbeiterInnenklasse, die die Masse der Arbeitenden bis zu dem Punkt bringen wird, an dem sie in der Lage ist, die Staatsmaschinerie durch eine freie Gemeinschaft sich selbst verwaltender BürgerInnen zu ersetzen (d.h. den Aufbau des Sozialismus und das Absterben des Staats zu vollenden), stellt eine gigantische historische Aufgabe dar. Ihre Erfüllung hängt nicht nur von offensichtlichen materiellen Vorbedingungen ab. Sie verlangt auch einen besonderen politischen Lernprozess: „Dass Kritiker, Oppositionelle, Dissidenten, Unzufriedene und Reaktionäre da sind, gibt der Revolution Leben und Kraft. Konfrontation und Polemik stärken die ideologischen und politischen Muskeln des Volkes. Das ist eine permanente Gymnastik, die jeglicher Möglichkeit von Gelenksteife und Passivität vorbaut.“ (Tomas Borge, Interview von Roberto Bardini, in: Granma, Wochenausgabe, 19. Jg. Nr. 41, 7. Oktober 1984, S. 10)

Ebenso hatte Fidel Castro in seiner Polemik gegen Escalante erklärt: „Die Revolution muss eine Schule des Denkens ohne Fesseln sein.“ Selbst wenn die Praxis diesen Erklärungen nicht immer entsprochen hat, so stehen sie doch in der programmatischen Kontinuität des Marxismus zu dieser Frage, die es gegenüber allen und gegen alle zu verteidigen gilt.

Die historische Erfahrung hat bestätigt, dass ohne die Bedingungen einer wahren ArbeiterInnendemokratie dieser Lernprozess der Selbstverwaltung zwangsläufig verzögert oder sogar umgekehrt wird, wie dies in der UdSSR eindeutig der Fall gewesen ist. Die historische Erfahrung hat ebenfalls bestätigt, dass ohne politischen Pluralismus keinerlei wahre ArbeiterInnendemokratie möglich ist.

{mospagebreak title="fünf"}


5. Was stellen die politischen Parteien dar?

Die revolutionären MarxistInnen verwerfen alle spontaneistischen Illusionen, wonach das Proletariat in der Lage ist, die taktischen und strategischen Probleme, die sich aufgrund der Notwendigkeit stellen, den Kapitalismus und den bürgerlichen Staat zu stürzen, die Staatsmacht zu erobern und den Sozialismus aufzubauen, durch spontane Massenaktionen ohne eine bewusste Avantgarde und eine organisierte revolutionäre Avantgardepartei zu lösen. Diese Partei muss sich auf ein revolutionäres, in der Geschichte bewährtes Programm und auf Kader stützen, die im Geiste dieses Programms geschult worden sind und über eine lange lebendige Erfahrung im Klassenkampf verfügen.

Argumente anarchistischen Ursprungs, die auch von ultralinken „rätekommunistischen“ Strömungen aufgegriffen werden, wonach politische Parteien ihrer Natur nach „bürgerlich-liberale“, dem Proletariat fremde Gruppierungen seien und in den ArbeiterInnenräten nichts zu suchen haben, weil sie eine innere Tendenz hätten, der ArbeiterInnenklasse die politische Macht zu entreißen, sind theoretisch falsch und politisch schädlich und gefährlich. Es ist nicht wahr, dass politische Gruppierungen, Tendenzen und Parteien erst mit dem Aufstieg der modernen Bourgeoisie entstanden sind. Im grundsätzlichen (und nicht rein formalen) Sinne des Wortes sind sie viel älter.
Sie sind zum ersten Mal mit dem Auftauchen von Regierungsformen aufgetreten, in denen (im Gegensatz zu kleinen Dorfgemeinschaften oder Stammesversammlungen) verhältnismäßig viele Menschen auf die eine oder andere Weise an der Ausübung der politischen Macht teilhatten (z. B. in den antiken Demokratien), d. h. sie fallen mit der Existenz von gesellschaftlichen Konflikten zusammen, die auf einander entgegen gesetzten materiellen Interessen beruhen. Diese sind nicht notwendigerweise auf Interessenkonflikte zwischen antagonistischen Klassen begrenzt. Sie können auch materielle Interessenkonflikte innerhalb einer bestimmten Gesellschaftsklasse zum Ausdruck bringen.

Politische Parteien in diesem realen (und nicht formalen) Sinne des Wortes sind gewiss eine geschichtliche Erscheinung, deren Inhalt sich von einer Epoche zur nächsten gewandelt hat, wie es in den großen bürgerlich-demokratischen Revolutionen der Vergangenheit geschehen ist (insbesondere, aber nicht nur, während der großen Französischen Revolution). Die proletarische Revolution wird sich ähnlich auswirken. Die politischen Parteien werden solange überleben, wie materielle Interessenkonflikte überleben, d. h. bis zur Vollendung des Aufbaus einer klassenlosen sozialistischen Gesellschaft.

Es lässt sich mit Sicherheit voraussagen, dass die Parteien unter einer wahren ArbeiterInnendemokratie einen viel reicheren, umfassenderen Inhalt erhalten und wesentlich breiter mitgetragene politische Massenkämpfe führen werden, als dies unter den fortgeschrittensten Formen bürgerlicher Demokratie vorgekommen ist.

Sobald politische Entscheidungen über eine kleine Zahl von Routinefragen hinausgehen, die von einem begrenzten Personenkreis diskutiert und entschieden werden können, erfordert jede Form von Demokratie in der Tat die Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen strukturierten, kohärenten Optionen in zahlreichen miteinander verknüpften Fragen, d. h. eine Wahl zwischen alternativen politischen Linien, Plattformen und Programmen, die letztlich Konflikte um unterschiedliche Klasseninteressen oder Gesellschaftsschichten zum Ausdruck bringen. Genau dies ist die Rolle von Parteien.

Das Fehlen solcher strukturierter Alternativen trägt nicht nur nichts zu mehr Meinungs- und Wahlfreiheit vieler Menschen bei, sondern verunmöglicht das Regieren durch Versammlungen und Arbeiterräte. Zehntausend Menschen können nicht über fünfhundert verschiedene Positionen abstimmen. Wenn die Macht nicht in die Hände von DemagogInnen oder im geheimen arbeitender Pressuregroups oder Cliquen fallen soll, dann muss man die freie Auseinandersetzung zwischen einer überschaubaren Zahl strukturierter, kohärenter Wahlmöglichkeiten erlauben, d. h. zwischen politischen Programmen und Parteien ohne jegliches Monopol und ohne jegliche Verbote. Genau dies wird der ArbeiterInnendemokratie Bedeutung verleihen und sie gleichzeitig arbeitsfähig machen.

Außerdem stellt die anarchistische und „rätekommunistische“ Opposition gegen die Bildung politischer Parteien unter der Diktatur des Proletariats bzw. im Verlauf des Aufbaus des Sozialismus entweder einen frommen Wunsch dar (d. h. die Hoffnung, die Masse der Arbeitenden werde davon Abstand nehmen, Gruppen, Tendenzen und Parteien mit unterschiedlichen politischen Linien und Programmen zu bilden oder zu unterstützen) – in diesem Fall wäre sie einfach utopisch, denn dies wird nicht geschehen –, oder es handelt sich um einen Versuch, die Bemühungen all der Arbeitenden zu behindern oder zu unterdrücken, die sich auf einer pluralistischen Grundlage politisch betätigen möchten – in diesem Fall kann sie objektiv nur den Prozess der Monopolisierung der Macht durch die Bürokratie aufwerten, d.h. gerade das Gegenteil von dem bewirken, was die Libertären w&uum
l;nschen.

Viele zentristische und ultralinke Gruppierungen haben eine ähnliche Argumentation vorgebracht, wonach die Verdrängung des sowjetischen Proletariats von der direkten Ausübung der politischen Macht im leninistischen Organisationskonzept, das auf dem demokratischen Zentralismus beruht, angelegt sein soll. Ihrer Meinung nach mussten die Bemühungen der Bolschewiki, eine Partei aufzubauen, die das Proletariat in der Revolution führen sollte, unvermeidlich zu einem paternalistischen, manipulatorischen und bürokratischen Verhältnis zwischen dieser Partei und den werktätigen Massen führen, was seinerseits ebenso unvermeidlich in ein Monopol der Partei auf Machtausübung nach der siegreichen sozialistischen Revolution gemündet sei.

Diese Argumentation ist ahistorisch und beruht auf einer idealistischen Geschichtsauffassung. Von einem marxistischen, d. h. historisch-materialistischen Standpunkt aus betrachtet ist die grundlegende Ursache für die politische Enteignung des sowjetischen Proletariats materieller und sozioökonomischer, nicht ideologischer oder programmatischer Natur. Die allgemeine Armut und die Rückständigkeit Russlands sowie die relative zahlen- und bildungsmäßige Schwäche des Proletariats verunmöglichte auf Dauer die direkte Machtausübung durch das Proletariat, sollte die russische Revolution isoliert bleiben; darin waren sich 1917/18 nicht nur die Bolschewiki, sondern alle Tendenzen einig, die sich auf den Marxismus beriefen. Der katastrophale Niedergang der Produktivkräfte in Russland (infolge des Bürgerkriegs, der ausländischen imperialistischen Militärintervention, der Sabotage von pro-bürgerlichen Technikern usw.) führte zu Bedingungen des Mangels, die das Entstehen von Sonderprivilegien begünstigten. All diese Faktoren führten zu einer zusätzlichen qualitativen Schwächung des Proletariats. Es kam hinzu, dass große Teile der politischen Avantgarde der Klasse, die gerade am meisten befähigt waren, Bourgeoisie und Bürokratie zu bekämpfen, entweder im Bürgerkrieg umkamen oder die Fabriken verließen, um massenhaft in die Rote Armee oder den Staatsapparat einzutreten.

Nach Einführung der Neuen Ökonomischen Politik (NEP) fand ein wirtschaftlicher Aufschwung statt. Doch die Massenarbeitslosigkeit und die anhaltende Enttäuschung aufgrund der Rückschläge und Niederlagen der Weltrevolution nährten politische Passivität und einen allgemeinen Rückgang der politischen Massenaktivität, was sich auch auf die Sowjets ausdehnte. Die ArbeiterInnenklasse war somit nicht in der Lage, sich dem Wachstum einer materiell privilegierten Schicht entgegenzustemmen, die die demokratischen Rechte immer mehr einschränkte, um ihre Herrschaft aufrechtzuerhalten, und schließlich die Sowjets und die bolschewistische Partei selbst zerstörte, deren Namen aber weiterhin für eigene Zwecke benutzte. Das sind die Hauptursachen dafür, dass die Bürokratie die Ausübung der direkten Macht an sich gerissen hat und dass der Parteiapparat, der Staatsapparat und der Apparat des wirtschaftlichen Managements zunehmend zu einer privilegierten bürokratischen Kaste verschmolzen sind.

Lenin, Trotzki, andere Bolschewiki und später die Linke Opposition haben den Aufstieg der Bürokratie keineswegs begünstigt, sondern bemühten sich vielmehr, ihn zu bekämpfen. Die Schwächung der proletarischen Avantgarde ließ diesen Kampf scheitern – und nicht die „leninistische Parteitheorie“. Man kann der Meinung sein, dass bestimmte Maßnahmen, die von den Bolschewiki noch vor Lenins Tod ergriffen worden sind (wie das zeitweilig Fraktionsverbot, das vom X. Parteitag beschlossen wurde), zu dieser Schwächung beigetragen haben. „Das Verbot der Oppositionsparteien zog das Verbot der Fraktionen nach sich; das Fraktionsverbot endete mit dem Verbot, anders zu denken als der unfehlbare Führer. Der Polizeimonolithismus der Partei brachte die bürokratische Straflosigkeit mit sich, die zur Quelle aller Formen der Zügellosigkeit und Zersetzung wurde.“ (L. Trotzki, Verratene Revolution, a.a.O., S. l04) Dabei handelt es sich aber um Nebenursachen. Die Hauptursachen des Bürokratisierungsprozesses waren objektiver, materieller, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Natur. Sie sind in der Infrastruktur der damaligen Sowjetgesellschaft zu suchen, nicht in ihrem politischen Überbau und schon gar nicht in einem besonderen Parteikonzept. Die stalinistische Bürokratie, die beileibe kein Produkt des Bolschewismus ist, musste die bolschewistische Partei physisch zerstören, um ihre totalitäre Diktatur errichten zu können. Die bolschewistische Partei war ein Instrument der ArbeiterInnenklasse und ein Feind der Bürokratie. Die politische Erstickung der Partei war eine Vorbedingung für die totale politische Entmachtung der ArbeiterInnenklasse.

Die geschichtliche Erfahrung hat im Übrigen bestätigt, dass ohne eine revolutionäre Partei, die die Revolution führt oder darin einen großen Einfluss ausübt, die ArbeiterInnenräte kaum länger überleben als in Russland, sondern im Gegenteil noch rascher verschwinden:

Deutschland 1918 und Spanien 1936/37 – ganz zu schweigen von Ungarn 1956 und Chile 1973 – sind dafür nur die markantesten Beispiele.

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6. Die Notwendigkeit einer revolutionären Avantgarde

Die fehlende Homogenität der ArbeiterInnenklasse, die ungleiche Entwicklung des Klassenbewusstseins in ihren verschiedenen Schichten wie auch die Unstetigkeit der politischen und sozialen Aktivität vieler Teile der Klasse machen die gesonderte Organisierung der bewussten, kontinuierlich aktiven Teile der ArbeiterInnenklasse in einer revolutionären Avantgardepartei notwendig. Dies gilt sowohl für die Erfordernisse des Klassenkampfes unter dem Kapitalismus als auch für die Zeit nach der Machteroberung durch das Proletariat. Die Unverzichtbarkeit einer solchen revolutionären Partei nimmt unter diesen Bedingungen sogar noch zu.

Eine leninistische Massenpartei muss die Arbeitenden bei der Ausübung der Staatsmacht und beim Aufbau einer neuen Gesellschaft anführen, bis der Kapitalismus weltweit gestürzt und die klassenlose sozialistische Gesellschaft durchgesetzt  ist. Die Probleme, die mit der Entscheidung zwischen unterschiedlichen Rhythmen des Wirtschaftswachstums, verschiedenen Möglichkeiten der Zuteilung seltener wirtschaftlicher Ressourcen und Prioritäten bei der mehr oder weniger raschen Entwicklung  unterschiedlicher Formen des individuellen und gesellschaftlichen Konsums verbunden sind, die Probleme mit dem Rhythmus des Abbaus gesellschaftlicher Ungleichheiten, die Probleme der Verteidigung der ArbeiterInnenstaaten gegen kapitalistische Mächte und des Aufbaus einer revolutionären Masseninternationale zur Ausbreitung der sozialistischen Weltrevolution, die Probleme des Kampfes gegen reaktionäre Vorurteile und Auffassungen und die aus der Vergangenheit ererbten realen Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern, Altersgruppen, Nationalitäten und „Rassen“ – all diese grundlegenden Probleme der Übergangsepoche zwischen Kapitalismus und Sozialismus lassen sich nicht spontan lösen. Sie machen das Eingreifen einer Partei notwendig, die mit dem revolutionär-marxistischen Programm bewaffnet ist.

Die Rolle dieser Partei wird zudem im Kampf gegen die Entwicklung materieller Privilegien und bürokratischer Schichten innerhalb der Diktatur des Proletariats von wesen
tlicher Bedeutung sein. Sie ist umso unerlässlicher, als es ein radikales und revolutionäres Programm der sozialistischen Arbeiterdemokratie anzuwenden gilt. Ihre Autorität wird sich auf die freie Stimmabgabe der ArbeiterInnenräte und das politische Vertrauen stützen, das sie bei den werktätigen Massen gewonnen haben wird, und nicht auf administrative Mittel. Das dialektische Zusammenwirken zwischen der freien, demokratischen Selbstorganisation der Arbeitenden und der politischen wie programmatischen Klärung und Führung der revolutionären Avantgardepartei schafft günstigere Bedingungen für die Eroberung und dauerhafte Ausübung der Macht durch die ArbeiterInnenklasse selbst.

Um jeglichen Machtmissbrauch durch eine Avantgardepartei, die unter der Diktatur des Proletariats innerhalb der ArbeiterInnenklasse eine führende Rolle spielt, zu verhindern, setzt sich die IV. Internationale für folgende Prinzipien ein:

a) Die größtmögliche interne Demokratie in der Partei selbst, mit vollem, unbeschränktem Recht auf Bildung von Tendenzen und der Möglichkeit von öffentlichen Diskussionen zwischen diesen vor den Parteitagen; Ablehnung von Fraktionsverboten.

b) Möglichst enge Verbindung und Durchdringung von Partei und ArbeiterInnenklasse. Eine revolutionäre Avantgardepartei der ArbeiterInnen kann die ArbeiterInnenklasse unter der Diktatur des Proletariats nur dann wirkungsvoll führen, wenn sie zugleich das politische Vertrauen der Mehrheit der Arbeitenden genießt und die große Mehrheit der Avantgarde der ArbeiterInnen als Mitglieder gewinnt.

c) Striktes Unterbinden jeglicher materieller Privilegien der Parteikader und -führerInnen. Kein Parteimitglied, das in irgendeine Funktion des ArbeiterInnenstaats gewählt wird, darf höhere Bezüge als einen Facharbeiterlohn oder Vorteile in Form von Naturalien, die de facto auf einen derartigen Unterschied hinauslaufen, erhalten.

d) Kein politisches oder ideologisches Monopol der Avantgardepartei über politische oder kulturelle Aktivitäten. Verteidigung des Pluralismus.

e) Klare Trennung von Partei- und Staatsapparat.

f) Reale Integration der Partei in eine revolutionäre Internationale und Aufnahme der solidarischen internationalen Kritik durch revolutionäre Organisationen aus anderen Ländern. Keine Kontrolle der Internationale durch die Partei oder die Parteien, die in einem oder mehreren ArbeiterInnenstaaten an der Macht sind.


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7. Eine klare Position zur sozialistischen Demokratie ist unverzichtbar, um die ArbeiterInnen für die sozialistische Revolution und die Diktatur des Proletariats zu gewinnen

Das Eintreten für ein klares, unzweideutiges Programm der sozialistischen Demokratie stellt heute einen unverzichtbaren Bestandteil des Kampfs gegen die reformistischen Führungen dar, die den Arbeitenden in den imperialistischen Ländern bürgerlich-demokratische Mythen und Illusionen eintrichtern wollen. Ebenso unverzichtbar ist es, um Illusionen in den Kapitalismus und antisowjetischen Vorurteilen, die in verschiedenen Schichten von KritikerInnen und Oppositionellen der bürokratisierten Arbeiterstaaten verbreitet sind, während des Verlaufs des Kampfes für die politische Revolution in diesen Ländern entgegenzutreten.

Die katastrophale historische Erfahrung des Faschismus und anderer Regierungsformen reaktionärer bürgerlicher Diktatur in den kapitalistischen Ländern einerseits und die Erfahrung der bürokratischen Regime in der UdSSR, in China, in Osteuropa und anderen Ländern andererseits haben in der ArbeiterInnenklasse der imperialistischen Länder und der bürokratisierten ArbeiterInnenstaaten ein tiefes Misstrauen gegenüber jeder Form von Einparteiensystem und gegenüber jeder Einschränkung der demokratischen Rechte nach dem Sturz des Kapitalismus geweckt.

Sollten die revolutionären MarxistInnen auch nur den mindesten Eindruck erwecken, die demokratischen Freiheiten der Arbeitenden – einschließlich der Freiheit, die Regierung zu kritisieren, Oppositionsparteien zu gründen und eine Oppositionspresse zu haben – würden unter der Diktatur des Proletariats eingeschränkter sein als unter der bürgerlichen Demokratie, dann wird es wesentlich schwieriger, wenn nicht gar völlig unmöglich sein, die ideologische Vorherrschaft all jener zu durchbrechen, die innerhalb der ArbeiterInnenbewegung Illusionen in den Parlamentarismus verbreiten. Jedes Zögern und jede Zweideutigkeit der revolutionären Avantgarde in dieser Frage kann nur den reformistischen Lakaien der liberalen Bourgeoisie helfen, das Proletariat zu spalten und einen großen Teil der Klasse unter dem Vorwand, demokratische Rechte zu sichern, in eine Verteidigung der Institutionen des bürgerlichen Staates zu drängen.

Es ist argumentiert worden, das oben Gesagte sei nur auf Länder anwendbar, in denen die LohnarbeiterInnen bereits eine deutliche Mehrheit der erwerbstätigen Bevölkerung darstellen. Es stimmt, dass dort, wo es eine große Mehrheit kleiner WarenproduzentInnen gibt, die entsprechenden gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse der vollständigen Entfaltung der sozialistischen Demokratie objektive Hindernisse in den Weg legen und zum Phänomen der Bürokratisierung in den meisten existierenden Arbeiterstaaten beitragen.

Insofern gegenwärtig immer mehr halbkoloniale Länder einen teilweisen Industrialisierungsprozess durchlaufen, hat das Proletariat in der erwerbstätigen Bevölkerung dieser Länder heute bereits ein relativ größeres Gewicht als das russische Proletariat 1917 oder das chinesische Proletariat 1949. Dank eigener Kampferfahrungen wird dieses Proletariat rasch einen Grad an Bewusstsein und Selbstorganisation erreichen, der bereits zu Beginn einer revolutionären Krise die Schaffung von Staatsorganen nach Art der Sowjets auf die Tagesordnung stellen wird (das Beispiel Chile hat dies schon verdeutlicht). Insofern es besonders für die politische Revolution in den bürokratisierten Arbeiterstaaten gilt, ist das Programm der IV. Internationale über die Demokratie der ArbeiterInnenräte als Grundlage der Macht des Proletariats in seinen Grundzügen ein universelles Programm für die Weltrevolution, das ganz und gar dem gesellschaftlichen Charakter, den historischen Bedürfnissen und der Denkweise der ArbeiterInnenklasse selbst entspricht. Es ist keineswegs ein „Luxus“, der nur den ArbeiterInnen der „reichsten Länder“ vorbehalten ist, selbst wenn seine Umsetzung in den Ländern, in denen das Gewicht der ArbeiterInnenklasse äußerst begrenzt ist, gewissen Einschränkungen unterliegen kann.

So ist es auch notwendig, theoretisch klar zu unterscheiden zwischen den Institutionen der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie, die sich vor allem in den imperialistischen Ländern Dank Überausbeutung Hunderttausender Bauern/Bäuerinnen und ArbeiterInnen in den kolonialen, halbkolonialen und abhängig gehaltenen Ländern und der gewaltsamen Unterdrückung ihrer elementarsten demokratischen Rechte entfalten können, und den Institutionen der proletarischen Demokratie einschließlich ihrer Keimformen in der bürgerlichen Gesellschaft, die ein Ergebnis langjähriger Kämpfe, Opfer und Siege der Selbstorganisation des P
roletariats und seiner graduellen Erlangung von Klassenbewusstsein sind. Erstere sind historisch zum Verschwinden verurteilt, Letztere werden sich im Zug der sozialistischen Weltrevolution und in der gesamten Phase des Aufbaus einer sozialistischen Welt ausbreiten und wachsen wie nie zuvor.

Selbstverständlich setzt ein gutes Funktionieren der sozialistischen Demokratie voraus, dass ein Mindestmaß an allgemeiner Bildung und Industrialisierung der Gesellschaft erreicht wird. Gesellschaftliche Verhältnisse, unter denen ein größerer Teil der arbeitenden Bevölkerung Analphabeten sind, leisten zwangsläufig einer bürokratischen Entartung der Machtorgane Vorschub. Das erklärt auch, warum Lenin in seinen letzten Schriften so sehr darauf beharrt, das Bildungsniveau der Massen anzuheben. In dieser Hinsicht sind die Alphabetisierungskampagnen, die in Kuba und Nicaragua durchgeführt wurden, vorbildlich.

Auf der anderen Seite kann die Diktatur des Proletariats in den weniger industrialisierten Ländern zunächst von der proportionellen Vertretung der verschiedenen Bevölkerungsteile abweichen. Sie kann sich offen dafür entscheiden, die Vertretung der ArbeiterInnenklasse insbesondere gegenüber den Bauern/Bäuerinnen Vorrang einzuräumen, wie es in der russischen Verfassung von 1918 der Fall war.

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8. Warum ist dieses Programm der sozialistischen Demokratie bisher nicht in breitem Maße verwirklicht worden?

Die Definition unserer Auffassungen über die Diktatur des Proletariats ist nicht „normativ“. Sie ist grundlegend programmatischer Natur. In diesem Sinne ist sie wie alle programmatischen Positionen des Marxismus nur der bewusste Ausdruck einer objektiven historischen Tendenz, des instinktiven Drängens des Proletariats unter Bedingungen einer revolutionären Krise. Die Geschichte bestätigt eindrucksvoll, dass die ArbeiterInnen – angefangen bei der Pariser Kommune über die russische und die finnische Revolution von 1905, die russische Revolution von 1917, die deutsche und die österreichische Revolution von 1918/19, die ungarische Revolution von 1919, die revolutionäre Krise in Italien 1919/20, die spanische Revolution von 1936, die chinesische Revolution von 1925–1927, über zahlreiche Generalstreiks in unzähligen Ländern praktisch aller Kontinente einschließlich vieler kolonialer und halbkolonialer Länder ihr Streben nach verallgemeinerter Selbstorganisation durch Schaffung von ArbeiterInnenräten oder vergleichbarer Organen tatsächlich zum Ausdruck gebracht haben. Wir sind fest davon überzeugt, dass diese historische Tendenz, die Marx, Lenin und Trotzki und Luxemburg klar verstanden und programmatisch gefasst haben, sich im Zuge der gegenwärtigen und zukünftigen Revolutionen noch weiter entfalten wird als im Laufe der vergangenen Revolutionen.

Dieser Feststellung wird entgegengehalten, dass alle siegreichen sozialistischen Revolutionen bislang zu politischen System geführt haben, in denen die Macht von Minderheiten, einer Partei bzw. dem leitenden Apparat dieser Partei ausgeübt wird und nicht von den werktätigen Massen insgesamt. Wir lehnen jegliche Auffassung ab, wonach die Verzögerung bei der festen, dauerhaften Etablierung der ArbeiterInnenmacht – die in Sowjetrussland entgegen späteren diesbezüglichen Geschichtsfälschungen der Bürokratie einige Jahre lang sehr wohl bestanden hat – irgendwie auf eine angeborene Unfähigkeit des Proletariats, die politische und/oder wirtschaftliche Macht auszuüben, auf seine naturgegebene Schwäche oder schicksalhafte historische Tendenz zurückzuführen sei, die Ausübung der Macht an eine privilegierte Minderheit zu delegieren. Das Mindeste, was sich hierzu sagen lässt, ist, dass eine derartige Schlussfolgerung zum gegebenen Zeitpunkt geschichtlich verfrüht wäre, genauso wie es verfrüht gewesen wäre, aus den ersten bürgerlichen Revolutionen die Schlussfolgerung zu ziehen, die Bourgeoisie sei von Natur aus unfähig, mit Hilfe des allgemeinen Stimmrechts zu regieren.

Die grundlegende Ursache, warum die Macht der ArbeiterInnenräte in den bestehenden Arbeiterstaaten bisher die Ausnahme und nicht die Regel gewesen ist, muss im Gegenteil in engem Zusammenhang mit dem ausgesprochen begrenzten Einfluss, den das Proletariat bei der Schaffung dieser Staaten hatte, und der Schwäche und der noch viel ausgeprägteren späteren Schwächung des Proletariats in Sowjetrussland zwischen 1917 und 1923 gesehen werden.

Das Zusammenwirken einer Reihe von historischen Faktoren – der Rückständigkeit Russlands, der ersten Niederlage der internationalen Revolution, der daraus resultierenden Isolierung der russischen Revolution, dem Aufstieg der Sowjetbürokratie zu absoluter Macht, ihrem Einfluss auf die Kommunistische Internationale, den Folgen einer Serie von Niederlagen, die zu einem großen Teil auf diesen Einfluss zurückgehen, dem Fehlen einer alternativen revolutionären Führung des internationalen Proletariats, der Fähigkeit der traditionellen Apparate, den neuen revolutionären Aufschwung am Ende des Zweiten Weltkriegs zu begrenzen und zu kanalisieren, dem Umstand, dass der Aufstieg der Weltrevolution sich daher zwei Jahrzehntelang auf die kolonialen und halbkolonialen Länder konzentrierte, dem Umstand, dass er dort im Wesentlichen die Form eines anhaltenden revolutionären Kriegs auf dem Land unter Führungen angenommen hat, die von der stalinistischen Ideologie beeinflusst waren – diese ganze Verkettung von Faktoren hat zu einer Phase geführt, in der neue Arbeiterstaaten gebildet wurden, bei deren Entstehung der Einfluss des Proletariats angesichts des Fehlens eigener Kampf- und Organisationsformen äußerst gering war.

Außerdem legten das geringe spezifische Gewicht der ArbeiterInnenklasse in Gesellschaften wie jener Chinas oder Vietnams und der besondere Charakter der Probleme, mit denen die Diktatur des Proletariats konfrontiert war – Beginn der Industrialisierung, Beginn der Produktivitätssteigerung in der landwirtschaftlichen Arbeit, noch ausgeprägtere Armut und Rückständigkeit als in Russland –  der sozialistischen Demokratie zusätzliche subjektive Hindernisse in den Weg.

Als Ergebnis des Zusammenwirkens all dieser Faktoren war die Diktatur des Proletariats in diesen Ländern von Anfang an bürokratisiert. Die ArbeiterInnenklasse hat dort nie direkt die politische Macht ausgeübt.

Nach der qualitativen Stärkung des Proletariats in einer Reihe von Arbeiterstaaten und halbindustrialisierten abhängigen kapitalistischen Ländern, dem neuen Heraufziehen revolutionärer Kämpfe, für die der französische Mai 1968 und die portugiesische Revolution 1974–1976 als Symbol stehen, und dem Aufschwung der politischen Revolution in den Arbeiterstaaten (Tschechoslowakei, Polen) ist in der gegenwärtigen Phase das Gewicht des Proletariats im realen Prozess der Weltrevolution jedoch viel größer als in der Zeit zwischen 1945 und 1968. Das wird durch die Tatsache eindrücklich bestätigt, dass es wieder zu Generalstreiks, Massenaufständen in Städten, Organen der Selbstorganisation während der wichtigsten revolutionären Ausbrüche der letzten Jahre nicht nur in Chile und Portugal, sondern sogar im Iran, in Polen und in Nicaragua kommt. Zugleich haben nun nach einer Periode, während der das Bewusstsein unvermeidlich hinter der Realität herhinkte, breite Sektoren des internationalen Proletariats den wahren Charak
ter des Stalinismus begriffen (was 1936 oder 1945 nicht der Fall war) und lehnen „Modelle“ der „Diktatur des Proletariats“ nach Art der UdSSR entschieden ab. Das gilt nicht nur für bestimmte imperialistische Länder, sondern auch für Osteuropa, China, Brasilien usw. Unser Programm der auf die Demokratie der ArbeiterInnenräte gestützten Diktatur des Proletariats drückt also weder „abstrakte Normen“ noch utopische Illusionen, sondern eine reale historische Tendenz aus, die von den subjektiven und objektiven Folgen zweier Jahrzehnte der Niederlagen der Weltrevolution verdrängt worden war und sich jetzt immer kraftvoller bestätigt.

Wir können schließlich auch nicht das Argument akzeptieren, die Macht der ArbeiterInnenräte sei auf irgendeine Art und Weise ,nicht machbar“, solange der Imperialismus weiter bestehe, d.h. solange die Probleme der Selbstverteidigung der siegreichen proletarischen Revolution und ihrer internationalen Ausdehnung für die Diktatur des Proletariats von zentraler Bedeutung bleiben. Wir sind vielmehr davon überzeugt, dass die Demokratie der ArbeiterInnenräte die Selbstverteidigungsfähigkeit des ArbeiterInnenstaats und seine Attraktivität für die ArbeiterInnen der kapitalistischen Staaten verstärkt, d.h. den Kampf gegen den Imperialismus und für die internationale Ausweitung der Revolution begünstigt.

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9. Antwort auf die Dogmen stalinistischen Ursprungs

Die herrschenden Bürokratien haben im Wesentlichen stets eine pragmatische Ideologie vertreten. Doch dieser Ideologie liegen einige Theorien und Dogmen zugrunde, die in sich kohärent sind, aber in einem Gegensatz zur revolutionär-marxistischen Theorie stehen. Diese Ideologie der Bürokratie, deren zentrale Idee die Herrschaft der Einheitspartei im Namen der ArbeiterInnenklasse ist, lässt sich, auch wenn sie nicht immer expliziert formuliert wird, folgendermaßen zusammenfassen:

1. Die führende Partei (oder sogar ihr „Führungskern“, das „leninistische Zentralkomitee“) besitzt ein Monopol auf den höchsten politischen Bewusstseinsstand, ja sogar ein Monopol auf wissenschaftliche Erkenntnisse auf dem Gebiet der Gesellschaftswissenschaften. Dadurch verfügt sie über eine garantierte Unfehlbarkeit (aus der oft die theologische Schlussfolgerung gezogen wird, dass man der Verbreitung des Irrtums nicht dieselben Rechte einräumen kann wie der Verbreitung der Wahrheit).

2. Die ArbeiterInnenklasse und mehr noch die werktätigen Massen in ihrer Gesamtheit sind politisch zu rückständig, stehen zu sehr unter dem Einfluss der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Ideologie, neigen zu sehr dazu, unmittelbaren materiellen Vorteilen den Vorzug gegenüber ihren eigentlichen historischen Interessen zu geben, als dass man vom Standpunkt der „Interessen des Sozialismus“ die direkte Ausübung der Staatsmacht durch demokratisch gewählte ArbeiterInnenräte zulassen könnte. Die Einführung einer wirklichen proletarischen Demokratie berge das Risiko, dass immer mehr schädliche bzw. „objektiv konterrevolutionäre“ Entscheidungen getroffen würden, die den Weg zur Restauration des Kapitalismus ebnen oder im besten Fall dem Prozess des Aufbaus des Sozialismus schaden oder ihn behindern würden.

3. Aus diesem Grund kann die Diktatur des Proletariats nur von der „führenden Partei des Proletariats“ ausgeübt werden, oder besser noch: Die Diktatur des Proletariats ist die Diktatur der Partei, sei es als Vertreterin einer ihrer Natur nach passiven ArbeiterInnenklasse oder gestützt auf den Klassenkampf der Massen, die jedoch für unwürdig oder unfähig erachtet werden, die direkte Staatsmacht mittels institutionalisierter Machtorgane selbst auszuüben.

4. Weil diese Partei und sie allein die Interessen der ArbeiterInnenklasse vertritt, die in jeder Lage und bei allen Problemen als homogen betrachtet werden, muss die „führende Partei“ selbst monolithisch sein. Jede oppositionelle Tendenz spiegelt zwangsläufig auf die eine oder die andere Weise einen dem Proletariat gegenüber feindlichen Klassendruck oder fremde Klasseninteressen wider (der Kampf zwischen zwei Linien ist stets der Kampf zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie innerhalb der Partei, schlussfolgern die Mao-StalinistInnen). Das logische Ergebnis dieser Konzeption ist eine monolithische Kontrolle aller Bereiche des gesellschaftlichen Lebens durch die Einheitspartei. Über sämtliche Bereiche der „Zivilgesellschaft“ muss die direkte Kontrolle der Partei errichtet werden.

5. Eine weitere Annahme, die dieser ganzen Konzeption zugrunde liegt, ist, dass im Verlauf des Aufbaus des Sozialismus eine Verschärfung des Klassenkampfes stattfindet (obgleich diese Hypothese nicht notwendigerweise zu denselben Schlussfolgerungen führt, wenn sie nicht mit den beiden vorgenannten Prämissen verbunden wird). Aus dieser Annahme wird abgeleitet, dass die Gefahr der Restauration des Kapitalismus sogar noch lange nach der Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln wachsen kann, und zwar unabhängig vom Stand der Entwicklung der Produktivkräfte. Die Gefahr der Restauration des Kapitalismus wird als automatische Folge des Siegs der bürgerlichen Ideologie auf diesem oder jenem gesellschaftlichen, politischen, kulturellen oder gar wissenschaftlichen Gebiet dargestellt. In Anbetracht der ungeheuren Macht, die damit dem bürgerlichen Gedankengut zugeschrieben wird, ist die Anwendung von Unterdrückungsmaßnahmen gegen diejenigen, denen unterstellt wird, diese Ideen zu verbreiten, eine logische Schlussfolgerung aus dieser Analyse.

All diese Prämissen und Annahmen sind von einem allgemeinen marxistischen Standpunkt aus gesehen unwissenschaftlich und im Lichte der realen historischen Erfahrung des Klassenkampfs während und nach dem Sturz der kapitalistischen Herrschaft in der UdSSR und in anderen Ländern unhaltbar. Sie haben sich wiederholt als schädlich für die Verteidigung der Klasseninteressen des Proletariats und als Hindernisse für einen wirkungsvollen Kampf gegen die Bourgeoisie und die bürgerliche Ideologie erwiesen. Da sie zu Dogmen geworden sind, die zur Zeit Stalins von den kommunistischen Parteien nahezu weltweit akzeptiert wurden, und da sie eine nicht zu bestreitende innere Kohärenz besitzen, welche die materiellen Interessen der Bürokratie als sozialer Schicht widerspiegelt und eine Rechtfertigung ihrer Diktatur darstellt, sind sie seither von keiner einzigen KP jemals ausdrücklich und vollständig kritisiert worden. Diese Vorstellungen sind in der Ideologie vieler FührerInnen und Kader der kommunistischen und der sozialistischen Parteien, d.h. der Bürokratien der ArbeiterInnenbewegung, zumindest teilweise nach wie vor zu finden. Sie dienen weiter als Vorrat an Vorstellungen, aus dem Rechtfertigungen für die vielfältigen Beschneidungen der demokratischen Rechte der werktätigen Massen geschöpft werden.

Anzumerken ist, dass auch andere Organisationen, die nicht aus einer stalinistischen Tradition kommen, in dieser Frage analoge Vorstellungen entwickeln, mit denen zumindest teilweise vergleichbare Praktiken in ihren Reihen gerechtfertigt werden. Umso notwendiger ist es zu betonen, dass all dies völlig im Gegensatz zu dem steht, was Lenin und Trotzki vertreten haben, ganz zu schweigen von Marx und Engels und unserer eigenen geschichtlichen Bewegung. Für die Verteidigu
ng unseres Programms der sozialistischen Demokratie ist eine klare, kohärente Widerlegung dieser Konzepte also unabdingbar.

Erstens steht die Vorstellung einer homogenen ArbeiterInnenklasse, die ausschließlich durch eine einzige Partei vertreten wird, im Widerspruch zur gesamten historischen Erfahrung und zur marxistischen, materialistischen Analyse des konkreten Wachstums und der konkreten Entwicklung des heutigen Proletariats sowohl unter dem Kapitalismus als auch nach dessen Sturz. Man könnte allenfalls die These vertreten, auf programmatischer Ebene vertrete einzig die revolutionäre Avantgardepartei die langfristigen historischen Interessen des Proletariats und dessen globale unmittelbare Klasseninteressen im Gegensatz zu sektoriellen, besonderen, nationalen, regionalen, lokalen Interessen, denen von qualifizierten oder privilegierten Gruppen usw. Aber selbst in diesem Fall müsste bei einer dialektisch-materialistischen Analyse im Gegensatz zu einer mechanisch-idealistischen umgehend hinzugefügt werden, dass mensch nur in dem Maße, wie diese Partei tatsächlich die politische Führung der Mehrheit der Arbeitenden erringt, von einem Zusammenfallen der unmittelbaren und der historischen Klasseninteressen sprechen könnte, was die Wahrscheinlichkeit herabsetzen würde, diese Interessen falsch auszulegen. Zudem schließt dies keineswegs aus, dass diese Partei sich in besonderen Fragen irren kann.

In Wirklichkeit gibt es eine deutliche, objektiv gegebene Schichtung der ArbeiterInnenklasse. Ebenso besteht zwischen dem Kampf für unmittelbare Interessen und dem Kampf für die historischen Ziele der Arbeiterbewegung zumindest eine Spannung (nach der Machtübernahme z.B. der Widerspruch zwischen unmittelbarem Konsum und langfristigen Investitionen). Gerade diese Widersprüche, die im Vermächtnis der ungleichen Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft selbst wurzeln, stellen eine der wichtigsten theoretischen Rechtfertigungen für die Notwendigkeit einer revolutionären Avantgarde dar, die im Gegensatz zur Vorstellung eines „Zusammenschlusses“ steht, der alle Lohnabhängigen einfach in einer Organisation vereinigt. Das hat wiederum zur Folge, dass nicht bestritten werden kann, dass innerhalb der ArbeiterInnenklasse unterschiedliche Parteien entstehen können und entstanden sind, die sich durch eine unterschiedliche Ausrichtung und Herangehensweise an den Klassenkampf zwischen Kapital und Arbeit und an das Verhältnis zwischen unmittelbaren und historischen Zielen der Arbeiterbewegung auszeichnen. Sie repräsentieren wirklich unterschiedliche Teile der ArbeiterInnenklasse (selbst wenn es sich um rein sektorielle Interessen oder ideologischen Druck der gegnerischen Klasse usw. handeln mag). Es lässt sich auch nicht ausschließen, dass sich in ein und demselben Land mehrere revolutionäre Parteien herausbilden, die ihre Meinungsverschiedenheiten vor der Revolution nicht mittels einer Vereinigung regeln können, was zur Folge hätte, dass versucht werden müsste, eine mehr oder minder enge Front aus diesen Parteien zu bilden, die sich bemüht, ihre politische Tätigkeit gemeinsam festzulegen.

Zweitens verfügt eine revolutionäre Partei mit einem demokratischen Innenleben über einen enormen Vorteil in Bezug auf eine richtige Analyse der sozioökonomischen und politischen Entwicklung und in Bezug auf die richtige Ausarbeitung taktischer und strategischer Antworten auf diese Entwicklung, weil sie sich auf den gesamten wissenschaftlichen Sozialismus – den Marxismus – stützen kann, der alle bisherigen Erfahrungen des Klassenkampfs in ihrer Gesamtheit zusammenfasst und verallgemeinert. Indem sie dies zum Ausgangspunkt für ihre laufenden politischen Analysen nimmt, neigt sie viel weniger als alle anderen Tendenzen der ArbeiterInnenbewegung oder alle unorganisierten Sektoren der ArbeiterInnenklasse zu falschen Schlussfolgerungen, voreiligen Verallgemeinerungen, einseitigen und impressionistischen Reaktionen auf unvorhergesehene Entwicklungen, Zugeständnissen an den ideologischen und politischen Drucks gegnerischer Klassenkräfte, prinzipienlosen politischen Kompromissen usw.

Es gibt jedoch keine unfehlbare Partei. Ebenso wenig gibt es unfehlbare Parteiführungen, Parteimehrheiten, „leninistische Zentralkomitees“ oder einzelne ParteiführerInnen. Das marxistische Programm ist nie ein endgültig abgeschlossenes Programm. Es gibt keine neue Situation, die vollständig unter Verweis auf vorausgegangene historische Ereignisse analysiert werden kann. Die gesellschaftliche Wirklichkeit unterliegt einer ständigen Veränderung. An historischen Wendepunkten treten regelmäßig neue, unvorhergesehene Entwicklungen ein. Marx und Engels konnten das Phänomen des Imperialismus nicht analysieren, das sich erst nach Engels Tod voll entfaltet hat. Die BolschewistInnen haben die Verzögerung der proletarischen Revolution in den fortgeschrittenen imperialistischen Ländern nicht vorhergesehen. Die bürokratische Degeneration des ersten ArbeiterInnenstaats ist nicht in die leninistische Theorie der Diktatur des Proletariats eingegangen. Das Entstehen einer Reihe von Arbeiterstaaten (wenngleich mit bürokratischen Deformationen) nach dem Zweiten Weltkrieg infolge revolutionärer Massenkämpfe ohne revolutionär-marxistische Führungen (Jugoslawien, China, Vietnam) war von Trotzki nicht vorhergesehen worden. In den klassischen Schriften oder im bestehenden Programm lassen sich keine vollständigen, fertigen Antworten auf neue Erscheinungen finden.

Zudem werden im Zuge des Aufbaus des Sozialismus neue Probleme auftreten, für die das revolutionär-marxistische Programm nur einen allgemeinen Bezugsrahmen liefert, nicht aber automatisch eine korrekte Antworten bereithält. Das Ringen um korrekte Antworten auf solche Probleme erfordert ein ständiges Zusammenwirken von theoretischer und politischer Analyse und Diskussion mit einer revolutionären Klassenpraxis; das letzte Wort gehört der praktischen Erfahrung.

Unter diesen Umständen wird jede Einschränkung der politischen und theoretischen Diskussionsfreiheit, die auf eine Einschränkung der freien politischen Betätigung der proletarischen Massen hinausläuft – also jede Einschränkung der sozialistischen Demokratie – die revolutionäre Partei daran hindern, selbst zu einer korrekten politischen Linie zu finden. Eine derartige Einschränkung ist also nicht nur vom theoretischen Standpunkt aus falsch, sondern auch in der Praxis unwirksam und vom Gesichtspunkt der Fortschritte auf dem Wege zum Aufbau des Sozialismus schädlich.

Eine der schwerwiegendsten Folgen eines monolithischen Einparteiensystems, des Fehlens einer Vielzahl an politischen Gruppen, Tendenzen und Parteien und der administrativen Einschränkungen der politischen und ideologischen Diskussionsfreiheit liegt darin, dass ein solches System ein Hindernis für eine rasche Korrektur der Fehler darstellt, die von der Regierung eines ArbeiterInnenstaates möglicherweise begangen werden. Derartige Fehler sind ebenso wie Fehler, die von der Mehrheit der ArbeiterInnenklasse, ihren verschiedenen Schichten und politischen Gruppierungen begangen werden, im Laufe des Prozesses des Aufbaus einer klassenlosen sozialistischen Gesellschaft weitgehend unvermeidlich. In einem Klima freier politischer Diskussion, des freien Zugangs der Oppositionsgruppierungen zu den Massenmedien, eines umfassenden politischen Gespürs und Engagements der breiten Massen und einer Kontrolle der Tätigkeit der Regierung und des Staats auf allen Ebenen durch die Massen ist eine rasche Korrektur derartiger Fehler jedoch möglich.

Das Fehlen all dieser Korrektive in einem System monolithischer Einparteienherrschaft macht d
ie Korrektur schwerwiegender Fehler viel schwieriger. Das Dogma der Unfehlbarkeit der Partei, auf dem das stalinistische System beruht, bedeutet notwendigerweise, dass die Anerkennung von Fehlern aufs Äußerste herausgezögert wird (die Suche nach Rechtfertigungen oder Sündenböcken erhält damit vorrangige Bedeutung), und dasselbe gilt für stillschweigende Kurskorrekturen. Die durch ein derartiges System verursachten objektiven Kosten in Form von wirtschaftlichen Verlusten oder unnötigen, d.h. objektiv vermeidbaren Opfern, die den werktätigen Massen auferlegt werden, von politischen Niederlagen gegenüber den Klassenfeinden sowie politischer Desorientierung und Demoralisierung des Proletariats sind außerordentlich hoch, wie die Geschichte der Sowjetunion seit 1928 beweist. Um nur ein Beispiel zu geben: Das hartnäckige Festhalten Stalins und seiner Gefolgsleute an einer verfehlten Landwirtschaftspolitik (selbst in Detailfragen wie den Ankaufpreisen für bestimmte Agrarprodukte) nach der durch die Zwangskollektivierung verursachten Katastrophe, die sich aus den gesellschaftlichen Sonderinteressen der Bürokratie erklären lässt, hatte während mehr als einer Generation desaströse Folgen für die Nahrungsmittelversorgung des Sowjetvolkes. Die negativen Spätfolgen sind noch heute, fast ein halbes Jahrhundert später, nicht vollständig überwunden. Eine derartige Katastrophe wäre unmöglich gewesen, hätte es in der UdSSR eine freie politische Diskussion über alternative Lösungen der landwirtschaftlichen Probleme gegeben.

Drittens ist die Vorstellung, eine Einschränkung der demokratischen Rechte des Proletariats könne auf irgendeine Art und Weise die schrittweise „Erziehung“ einer angeblich „rückständigen“ Masse von Werktätigen fördern, ganz augenscheinlich absurd. Man kann nicht schwimmen lernen, ohne ins Wasser zu steigen. Die Massen haben keine andere Möglichkeit, das Niveau ihres politischen Bewusstseins zu heben, als sich politisch zu betätigen und aus den dabei gesammelten Erfahrungen zu lernen. Es gibt keine andere Möglichkeit, Fehler vermeiden zu lernen, als wenn man zumindest das Recht hat, sie zu begehen. Paternalistische Vorurteile in Bezug auf die angebliche „Rückständigkeit“ der Massen verbergen im Allgemeinen eine kleinbürgerliche, konservative Angst vor der Aktivität der Massen, die mit revolutionärem Marxismus nichts gemein hat. Die Bürokratie hat eine tödliche Angst vor der sozialistischen Demokratie – nicht aus „programmatischen“ Gründen, sondern weil diese Regierungsform mit ihren materiellen Privilegien, um nicht zu sagen mit ihrer Macht unvereinbar ist. Jegliche Einschränkung der politischen Betätigung der Massen unter dem Vorwand, sie würden zu viele Fehler begehen, kann nur zu einer wachsenden politischen Apathie unter den Arbeitenden führen, verstärkt also paradoxerweise gerade den Zustand, der die Einschränkung angeblich gerechtfertigt hat.

Viertens läuft unter Bedingungen einer mehr oder minder durchgehenden Vergesellschaftung der Produktionsmittel und des gesellschaftlichen Mehrprodukts jedes langfristige Monopol der Machtausübung durch eine Minderheit – auch wenn es sich um eine revolutionäre Partei handelt, die zunächst voller wirklich revolutionärer proletarischer Motivation ist – hochgradig Gefahr, objektive Tendenzen zur Bürokratisierung zu fördern. Unter derartigen sozioökonomischen Bedingungen kontrolliert jeder, der die Kontrolle über die Staatsmacht innehat, damit auch das gesellschaftliche Mehrprodukt und dessen Verteilung. Da zu Beginn vor allem in wirtschaftlich rückständigen Arbeiterstaaten noch wirtschaftliche Ungleichheiten weiter bestehen werden, kann dies zur Quelle von Korruption und der Entwicklung materieller Privilegien und gesellschaftlicher Differenzierung werden. „Die Machteroberung verändert nicht nur das Verhältnis des Proletariats zu den anderen Klassen, sondern auch seine eigene innere Struktur. Die Machtausübung wird Spezialität einer bestimmten sozialen Gruppierung, die mit umso größerer Ungeduld ihre eigene, soziale Frage‘ zu lösen bestrebt ist, je höher ihre Meinung von ihrer Mission ist.“ (L. Trotzki: Verratene Revolution, a.a.O., S.102.) Es besteht also eine objektive Notwendigkeit für eine wirkliche Kontrolle über den Prozess der Entscheidungsfindung, und zwar seitens des Proletariats als Klasse, mit unbegrenzten Möglichkeiten, Verschwendung, Misswirtschaft, rechtswidrige Aneignung und übermäßige Nutzung wirtschaftlicher Ressourcen auf allen Ebenen bis hin zur höchsten Stufe anzuprangern. Eine derartige demokratische Kontrolle durch die Massen ist jedoch nur möglich, wenn es oppositionelle Tendenzen, Gruppen und Parteien gibt, die eine vollständige Freiheit der Betätigung, der Propaganda und Agitation genießen und über einen unbeschränkten Zugang zu den Massenmedien verfügen, solange sie nicht den bewaffneten Kampf zum Sturz der ArbeiterInnenmacht aufgenommen haben.

Ebenso werden in der Zeit des Übergangs zwischen Kapitalismus und Sozialismus und sogar in der ersten Phase des Kommunismus (der sozialistischen Phase) unvermeidlich noch Formen der Arbeitsteilung und Formen der Arbeitsorganisation und des Arbeitsprozesses bestehen, die ganz oder teilweise vom Kapitalismus ererbt wurden und die keine volle Entwicklung aller schöpferischen Fähigkeiten aller ProduzentInnen erlauben. Dies lässt sich nicht durch Erziehung, Indoktrinierung, moralisierende Ermahnungen oder periodische Kampagnen der „Massenkritik“ ausgleichen, wie es die MaoistInnen behaupten, und noch weniger durch Pseudolösungen, indem etwa Kader einen Tag in der Woche als Handarbeiter arbeiten müssen. Diese objektiven Hindernisse auf dem Weg zur schrittweisen Herausbildung wirklich sozialistischer Produktionsverhältnisse könnten zu mächtigen Quellen materieller Privilegien werden. Das kann nur verhindert werden, wenn die Masse der ProduzentInnen (an erster Stelle diejenigen, denen die größte Ausbeutung droht, die HandarbeiterInnen) wirkliche politische und gesellschaftliche Macht über alle „funktionell“ privilegierten Schichten ausüben kann. Die radikale Verkürzung des Arbeitstags, eine möglichst umfassende Sowjetdemokratie und die allen Arbeitenden offen stehende Möglichkeit, ihren Bildungsstand rasch anzuheben, sind Kernvoraussetzungen, um dieses Ziel zu erreichen.

Um sich selbst vor den Gefahren der berufsmäßigen Machtausübung zu schützen, muss die revolutionäre Partei ihren Mitgliedern untersagen, mehrere Staatsämter und Führungspositionen in der Partei anzuhäufen.

Die gegenwärtigen Bedingungen, unter denen es besonders schwierig ist, die proletarische Demokratie zu erhalten und voranzutreiben, werden sich natürlich qualitativ verändern, falls oder sobald eine der beiden folgenden Entwicklungen eintritt:

1. Eine sozialistische Revolution in einem oder mehreren der meist industrialisierten Länder. Eine solche Revolution würde dem Kampf für demokratische Rechte weltweit spontan ungeheuren Auftrieb verleihen und unmittelbar die Möglichkeit eines gewaltigen Produktivitätswachstums eröffnen, wodurch der Mangel beseitigt würde, der – wie oben erläutert – die wesentliche Grundlage für die Festigung des parasitären Bürokratismus darstellt.

 

2. Eine politische Revolution in den bürokratisch deformierten oder degenerierten Arbeiterstaaten, vor allem in der Sowjetunion oder der Volksrepublik China. Dies würde ebenfalls einen Aufstieg der proletarischen Demokratie mit enormen internationalen Auswirkungen nach sich ziehen und zugleich der Existenz der Bürokratenkaste und ihres Verständnisses vom Aufbau des „Sozialismus in einem Lande“ ein Ende setzen.

 


Eine derartige politische Revolution würde eine gemeinsame Wirtschaftsplanung aller Arbeiterstaaten ermöglichen, die für einen gewaltigen Produktivitätssprung sorgen würde, der zur Beseitigung der wirtschaftlichen Grundlage des parasitären Bürokratismus beitragen würde, noch bevor in den industriell fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern sozialistische Revolutionen stattfinden.

Und schließlich besteht tatsächlich keine automatische Wechselbeziehung oder Gleichzeitigkeit zwischen der Abschaffung der bürgerlichen Staatsmacht und des Privateigentums an Produktionsmitteln auf der einen Seite und dem Verschwinden von Privilegien im Bereich des privaten Reichtums, des kulturellen Erbes und des ideologischen Einflusses auf der anderen Seite, vom Verschwinden sämtlicher Elemente der Warenproduktion ganz zu schweigen. Noch lange nach dem Sturz der bürgerlichen Staatsmacht und der Beseitigung des kapitalistischen Eigentums werden Überbleibsel der kleinen Warenproduktion und das Fortbestehen von Elementen der Geldwirtschaft weiterhin einen Rahmen bilden, in dem wieder eine ursprüngliche Akkumulation von Kapital einsetzen kann, besonders wenn der Stand der Entwicklung der Produktivkräfte noch nicht ausreicht, um eine automatische Herausbildung und Festigung wirklich sozialistischer Produktionsverhältnisse zu garantieren; ebenso werden unter derartigen Bedingungen Elemente von gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Ungleichheit fortbestehen. Noch lange nachdem die Bourgeoisie ihre Position als politisch und wirtschaftlich herrschende Klasse verloren haben wird, wird der Einfluss bürgerlicher und kleinbürgerlicher Ideologien, Sitten, Gebräuche, kultureller Werte in verhältnismäßig umfassenden Bereichen des gesellschaftlichen Lebens und in breiten Schichten der Gesellschaft weiter bestehen.

Es ist aber völlig falsch, aus dieser unbestreitbaren Tatsache (welche, nebenbei bemerkt, einer der Hauptgründe ist, warum sich die Staatsmacht unbedingt in den Händen des Proletariats befinden muss, um zu verhindern, dass diese „Inseln bürgerlichen Einflusses“ sich in Stützpunkte für die Restauration des Kapitalismus verwandeln) die Schlussfolgerung zu ziehen, die Unterdrückung der bürgerlichen Ideologie mit administrativen Mitteln sei eine notwendige Bedingung für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft. Die historische Erfahrung bestätigt im Gegenteil die vollständige Wirkungslosigkeit der Bekämpfung reaktionärer bürgerlicher und kleinbürgerlicher Ideologien durch administrative Mittel. In der Tat verstärken derartige Methoden letztlich auf lange Sicht den Einfluss dieser Ideologien. Infolge eines Mangels an Erfahrung mit wirklichen politischen und ideologischen Debatten und der fehlenden Glaubwürdigkeit der offiziellen „Staatsdoktrinen“ führen sie zu einer ideologischen Entwaffnung der breiten Masse des Proletariats gegenüber diesen Ideologien.

Das einzige wirksame Mittel, um den Einfluss dieser Ideologien auf die Masse der Werktätigen zu brechen, liegt darin,

1. wie alle großen Produktionsmittel auch die Druckereien, die Radio- und Fernsehstationen zu enteignen, d. h. die Massenverbreitung von Meinungen vom materiellen Zugriff des Großkapitals zu befreien;

2. gesellschaftliche Bedingungen zu schaffen, unter denen diese Ideologien die materiellen Wurzeln ihrer stetigen Erneuerung verlieren;

3. auf dem Boden der Ideologie und der Politik selbst einen schonungslosen Kampf gegen diese Ideologien zu führen. Ein derartiger Kampf kann jedoch nur unter Bedingungen einer offenen Diskussion und Konfrontation vollständig gelingen, d. h. unter einem ideologisch-kulturellen Pluralismus, in dem die Verfechter reaktionärer Ideologien ihre Vorstellungen frei vertreten können, solange sie nicht zur gewaltsamen Aktion gegen die ArbeiterInnenmacht übergehen.
Nur diejenigen, die weder in die Überlegenheit der marxistischen und materialistischen Ideen noch in das Proletariat und in die werktätigen Massen Vertrauen haben, können die offene ideologische Konfrontation mit den bürgerlichen und kleinbürgerlichen Ideologien unter der Diktatur des Proletariats fürchten. Wenn die bürgerliche Klasse entwaffnet und enteignet ist und ihre Angehörigen nur entsprechend ihrer Zahl und nicht ihres Vermögens Zugang zu den Massenmedien haben, besteht kein Grund, eine ständige, freie und offene Konfrontation zwischen ihren und unseren Ideen zu fürchten. Diese Konfrontation stellt das einzige Mittel dar, mit dessen Hilfe die ArbeiterInnenklasse sich ideologisch erziehen und erfolgreich vom Einfluss der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Vorstellungen befreien kann. Auf diese Weise wird der Marxismus seine Überlegenheit voll unter Beweis stellen.


Jegliche Situation, in der dem Marxismus (oder erst recht einer besonderen Version oder Interpretation) im ideologisch-kulturellen Bereich durch administrative und repressive Maßnahmen des Staats de facto eine Monopolstellung eingeräumt wird, muss zwangsläufig dazu führen, dass der Marxismus selbst, eine kritische, revolutionäre Wissenschaft, die eine Waffe zur Emanzipation des Proletariats und zum Aufbau einer klassenlosen Gesellschaft darstellt, zu einer sterilen, abstoßenden Staatsdoktrin oder Staatsideologie verkommt. Dies wird gegenwärtig in der UdSSR offensichtlich, wo die dem „offiziellen Marxismus“ eingeräumte Monopolstellung über eine wirkliche Armut an schöpferischem marxistischem Denken in allen Bereichen hinwegtäuscht. Der Marxismus, ein kritisches Denken par excellence, kann nur in einer Atmosphäre vollständiger Diskussionsfreiheit und ständiger Auseinandersetzung mit anderen Denkrichtungen, d.h. in einer Atmosphäre des vollständigen ideologischen und kulturellen Pluralismus, gedeihen. „Ihr – die Partei – braucht die sozialistische Wissenschaft, und diese kann nicht leben ohne Freiheit der Bewegung.“ (Friedrich Engels an August Bebel, 1.–2. Mai 1891, in: MEW, Band 38, S. 94.)

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10. Die Selbstverteidigung des ArbeiterInnenstaats

Jeder ArbeiterInnenstaat muss sich natürlich gegen alle Versuche des Umsturzes und offene Verletzungen seiner Grundgesetze verteidigen. In der proletarischen Demokratie eines stabilen ArbeiterInnenstaats, der nach der erfolgreichen Entwaffnung der Bourgeoisie und dem Ende des Bürgerkriegs entstanden ist, wird nach Verfassung und Strafgesetzbuch die private Aneignung der Produktionsmittel oder die private Anstellung von Arbeitskräften verboten sein, genau wie unter der Herrschaft der Bourgeoisie in Verfassung und Strafgesetzbuch Eingriffe in das Rechts auf Privateigentum verboten sind.
Ebenso werden, solange die proletarische Staatsmacht fortbesteht und die Restauration des Kapitalismus möglich bleibt, die Verfassung und das Strafgesetzbuch der Diktatur des Proletariats den Tatbestand des bewaffneten Aufstands, Versuche zum gewaltsamen Sturz der ArbeiterInnenmacht, terroristische Angriffe auf VertreterInnen der Arbeitermacht, Sabotageakte, Spionage im Dienst ausländischer kapitalistischer Mächte usw. verbieten und unter Strafe stellen. Strafbar dürfen aber nur entsprechende bewiesene Tatbestände oder deren direkte Vorbereitung sein und nicht die allgemeine Propaganda, die explizit oder implizit eine Restauration des Kapitalismus befürwortet. Dies bedeutet, dass die politische Organisationsfreiheit allen einschließlich probürgerlicher Elemente gewährt werden sollte, die in ihren tatsächlichen Handlungen die Verfassung des ArbeiterInnenstaats einhalten, d.h. keine gewaltsamen Aktionen zum Sturz der Arbeitermacht und des kollektiven Eigentums an den Produktionsmitteln unternehmen.

Es gibt keinen Grund, warum die ArbeiterInnen Propaganda, die sie zur Rückgabe der Fabriken und der Banken an die Privateigentümer „ermutigt“, als eine tödliche Gefahr ansehen müssten. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich mehrheitlich von einer Propaganda dieser Art „überzeugen“ lassen, ist gering. In den imperialistischen Ländern, in den bürokratisierten Arbeiterstaaten und in einer wachsenden Zahl halbkolonialer Länder ist die ArbeiterInnenklasse stark genug, um das „Meinungsdelikt“ nicht in das Strafgesetzbuch oder in die tägliche Praxis des ArbeiterInnenstaats einführen zu müssen.

Es ist wichtig, einen deutlichen Unterschied zu machen zwischen Aktivitäten, die Gewalt gegen die ArbeiterInnenmacht provozieren, und politischer Betätigung, ideologischen Positionen oder programmatischen Erklärungen, die als Befürwortung der Restauration des Kapitalismus interpretiert werden können. Gegen den Terror verteidigt sich der proletarische Staat mittels Repression. Gegen politische Programme und reaktionäre Ideen verteidigt er sich mit politischem und ideologischem Kampf. Das ist keine Frage der „Moral“ oder „weicher“ Positionen, sondern im Wesentlichen eine Frage der langfristigen politischen Wirksamkeit.

Durch die katastrophale Erfahrung des Stalinismus, der sich systematisch verleumderischer Beschuldigungen bediente – etwa des „heimlichen Einverständnisses mit dem Imperialismus“, der „Spionage im Dienste fremder Mächte“, einer „objektiv dem Imperialismus nutzenden Betätigung“, „antisowjetischer“ oder „antisozialistischer Agitation“ – , um in den Ländern, die von einer parasitären Bürokratenkaste regiert wurden, jede Form von politischer Kritik, von Opposition oder einfach von Nonkonformismus zu unterdrücken, und der unter diesem Vorwand eine grausame Massenrepression betrieben hat, ist ein tiefes (und zutiefst gesundes) Misstrauen gegenüber dem Missbrauch strafrechtlicher, gerichtlicher, polizeilicher oder psychiatrischer Institutionen zum Zweck politischer Unterdrückung entstanden. Es muss daher betont werden, dass die Anwendung von repressiven Mitteln der Selbstverteidigung seitens des Proletariats und seines Staats gegen Versuche zum gewaltsamen Sturz der ArbeiterInnenmacht strikt auf bewiesene Verbrechen und Handlungen beschränkt, anders gesagt strikt vom Bereich der ideologischen, politischen und kulturellen Betätigung getrennt werden muss.

Die IV. Internationale spricht sich für die Verteidigung und die Ausweitung der fortschrittlichsten Errungenschaften der bürgerlich-demokratischen Revolutionen auf dem Gebiet des Strafrechts und der Justiz aus und kämpft für deren Aufnahme in die sozialistischen Verfassungen und Strafgesetzbücher. Das betrifft Rechte wie:

1. die Notwendigkeit eines geschriebenen Gesetzes und die Ablehnung des Konzepts rückwirkender Straffälligkeit; die Anklage muss den Beweis für das Vergehen beibringen; der/die Angeklagte gilt bis zur Vorlage dieses Beweises als unschuldig;

2. das volle und uneingeschränkte Recht aller Individuen, ihre Verteidigung selbst zu bestimmen; volle und uneingeschränkte Immunität der Rechtsanwälte für jegliche Erklärung oder Verteidigungsform im Verlaufe eines Prozesses;

3. die Verwerfung jeglichen Konzepts kollektiver Verantwortlichkeit von gesellschaftlichen Gruppen, Familien usw. für individuell begangene Verbrechen;

4. das strikte Verbot jeder Form von Folter oder der Abpressung von Geständnissen unter Zwang;

5. die Aufhebung der Todesstrafe mit Ausnahme von Situationen des Kriegs oder des Bürgerkriegs;

6. die Ausdehnung und allgemeine Einführung von öffentlichen Prozessen vor Geschworenengerichten;

7. die demokratische Wahl aller RichterInnen mit dem Recht auf Abberufung aller Gewählten nach Ermessen der WählerInnen.

Der ArbeiterInnenstaat kann zudem schrittweise die Institution der Berufsrichterschaft beseitigen, indem er den Massen zunächst auf lokaler Ebene bei geringfügigeren Vergehen  selbst überlässt, die richterlichen Funktionen auszuüben.

Selbstverständlich wird das letzte Wort in dieser Angelegenheit sowie allgemeiner die endgültige Abfassung des sozialistischen Strafgesetzbuchs und die Regelung des Strafvollzugs unter der Diktatur des Proletariats bei den ArbeiterInnenräten selbst liegen, nachdem der bewaffnete Widerstand der Bourgeoisie gebrochen ist. Ihnen werden wir unser Programm vorlegen und uns in diesem Rahmen mit politischen Mitteln dafür einsetzen.

Die wichtigste Garantie gegen jeglichen Missbrauch der Repression seitens des Staats liegt in der breitesten Teilnahme der werktätigen Massen an der politischen Aktivität, in der breitesten sozialistischen Demokratie, in der allgemeinen Bewaffnung des Proletariats (ArbeiterInnenmilizen) und in der Abschaffung jedes Monopols einer Minderheit auf Zugang zu den Waffen.

Doch wie Lenin sagte: „Die Tatsache, dass das Proletariat die soziale Revolution vollzogen hat, macht es noch nicht zu einem Heiligen und wird die Revolution nicht vor Irrtümern und Fehlern bewahren.“ Deswegen darf die Wachsamkeit der revolutionären KommunistInnen während der Periode des Übergangs zur kommunistischen Gesellschaft nicht nachlassen. Der kommunistischen Avantgarde wird es obliegen, die mindesten Anzeichen von „Bürokratismus“ aufzuspüren, alle Missstände im proletarischen Staat anzuprangern und zu bekämpfen, auf die Einhaltung egalitärer und demokratischer Prinzipien zu achten, die Rechte der Frauen und „rassischer“, nationaler oder ethnischer Minderheiten zu verteidigen – kurz, auch dem proletarischen Staat gegenüber die Rolle der kommunistischen Avantgarde zu spielen.

Unbegrenzte politische Freiheit für alle Individuen, Gruppen, Tendenzen und Parteien, die das Kollektiveigentum und die Verfassung des ArbeiterInnenstaats praktisch anerkennen, so lautet unsere programmatische und prinzipielle Richtlinie. Dies bedeutet nicht, dass diese Richtlinie ungeachtet der konkreten Bedingungen vollständig anwendbar ist. Im Verlauf der Errichtung der Diktatur des Proletariats kommt es bei einer revolutionären Krise, die in einem Aufstand gipfelt, und während des Aufstands selbst, wenn die Staatsmacht von einer Klasse an eine andere übergeht, zu Ausbrüchen von Gewalt und einem damit einhergehenden Rechtsvakuum. Sie werden
nur dann zum Sieg des Proletariats führen, wenn der Aufstand von der Mehrheit der Bevölkerung, der großen Mehrheit der LohnempfängerInnen, unterstützt wird – zumindest in all den Ländern, in denen diese bereits die zahlenmäßig stärkste Gesellschaftsklasse darstellen. Je breiter die Massenmobilisierung ist, die den Aufstand begleitet, desto geringer wird die unvermeidliche Gewalt und Willkür sein, die diese gigantische gesellschaftliche Umwälzung begleiten wird.

Ebenso kann der Festigung der Diktatur des Proletariats ein Bürgerkrieg oder eine ausländische Militärintervention vorausgehen, d.h. Versuche der alten herrschenden Klasse, die ArbeiterInnenmacht gewaltsam zu stürzen. Unter diesen Bedingungen kommen die Regeln des Kriegs zur Anwendung und die Bourgeoisie könnte in ihrer politischen Aktivität eingeschränkt werden. Keine einzige Gesellschaftsklasse und kein Staat haben je denjenigen, die mit gewaltsamen Mitteln auf ihren Sturz hinarbeiteten, den vollständigen Genuss politischer Rechte gewährt. Die Diktatur des Proletariats wird in dieser Hinsicht nicht anders handeln können.

Konkreter gesagt werden alle Personen, Organisationen und Parteien, die an konterrevolutionärer Gewalt beteiligt sind oder denen man nachweisen kann, dass sie diese aktiv unterstützen oder vorbereiten, unterdrückt und Bedingungen unterworfen werden, die ihnen eine Fortsetzung dieser Tätigkeit verunmöglichen. Das Ausmaß und die konkreten Formen dieser Repression werden von den Umständen und den Kräfteverhältnissen abhängen, die zu diesem Zeitpunkt in einem bestimmten Land oder einer Gruppe von Ländern bestehen. Während der ersten Phase der Errichtung des ArbeiterInnenstaats gegen den bewaffneten Widerstand der Bourgeoisie oder deren Versuche, ihn zu stürzen, kann das Vorhandensein eines geschriebenen Strafrechts – der sozialistischen Gesetzgebung – nachrangig sein gegenüber den Anforderungen der Revolution, Krisensituationen zu lösen, die nicht der Notwendigkeit untergeordnet werden können, zuerst ein Strafgesetz auszuarbeiten. Die historische Erfahrung hat wieder und wieder bestätigt, dass die Periode des eigentlichen Bürgerkriegs desto kürzer sein und die soziale Revolution desto weniger Menschenleben kosten wird, je schneller und radikaler der bewaffnete Widerstand der Bourgeoisie gebrochen wird.

Für den allgemeinen Rahmen, in dem die Revolution langfristig ihre Wirksamkeit erweisen kann, sind die bestimmenden Kriterien nach wie vor, dass die einer unmittelbaren Notwendigkeit entspringenden Maßnahmen in Bezug gesetzt werden zu den Erfordernissen der Festigung der neuen Gesellschaftsordnung auf der Grundlage einer möglichst breiten Zustimmung und Beteiligung der Masse. Selbst unter Bedingungen des Bürgerkriegs sind nur solche unmittelbaren Maßnahmen tatsächlich effizient, die das Klassenbewusstsein und das Selbstbewusstsein des Proletariats heben, anstatt es zu drücken, die das Vertrauen des Proletariats in seine Fähigkeit, einen ArbeiterInnenstaat und eine klassenlose Gesellschaft aufzubauen, stärken und nicht untergraben, und die gewährleisten, dass es sich aktiv an der Verwaltung des eigenen Staats beteiligen kann und in der Lage ist, zu mobilisieren und sich selbst zu organisieren. Selbst unter Bedingungen des Bürgerkriegs darf dieses grundlegende Kriterium nie vergessen werden, zumal sich künftige Revolutionen möglicherweise unter viel günstigerer Kräfteverhältnisse entwickeln werden als 1919 oder 1920/21 in Russland.

Hierzu hat sich Trotzki 1940 unmissverständlich geäußert. Was er damals schrieb, gilt heute noch mehr: „Vorab lässt sich folgendes Gesetz aufstellen: Je größer die Zahl der Länder ist, in denen die Herrschaft des Kapitalismus gebrochen wird, desto schwächer wird der Widerstand sein, den die herrschenden Klassen in anderen Ländern leisten werden, desto weniger heftig wird die sozialistische Revolution ausfallen, desto weniger gewalttätige Formen wird die proletarische Diktatur annehmen, desto kürzer wird sie dauern und desto eher wird die Gesellschaft auf der Grundlage einer neuen, vollständigeren, perfekteren und humaneren Demokratie sich reorganisieren. (…) Der Sozialismus wäre wertlos, wenn er nur die rechtliche Unverletzlichkeit und nicht auch die volle Garantie aller Interessen der menschlichen Persönlichkeit mit sich brächte.“ (Leo Trotzki: Die Weltsituation und die Perspektiven, 14. Februar 1940, : Denkzettel. Politische Erfahrungen im Zeitalter der permanenten Revolution, Frankfurt a. M. [Suhrkamp] 1981, S. 262.)

Zudem muss die direkte politische und materielle Verantwortung der bürgerlichen Konterrevolution für jegliche Einschränkung der sozialistischen Demokratie unter Bedingungen eines Bürgerkriegs oder des Kriegs betont werden. Das bedeutet, dass der Gesellschaft insgesamt und den Überresten der ehemaligen herrschenden Klassen deutlich gemacht werden muss, dass es letzten Endes von ihnen selbst, d.h. von ihrem praktischen Verhalten abhängt, wie sie behandelt werden.

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11. Internationale Revolution und Konterrevolution

Solange der Imperialismus zumindest in bedeutenden Ländern und zweifellos in den Vereinigten Staaten weiter besteht, wird er stets versuchen, jegliche neue Ausdehnung der sozialistischen Weltrevolution mittels wirtschaftlichem Druck und militärischer Stärke zu verhindern. Ebenso wird er sich unablässig bemühen, zunächst einige und zunehmend sämtliche Gebiete zurückzuerobern, die für die direkte Ausbeutung durch das Kapital verloren sind. Eine solche Restauration ist auf schrittweisem, friedlichem Wege nicht möglich, ebenso wie der Kapitalismus nicht friedlich und schrittweise gestürzt werden kann.

Daraus folgt, dass sich jeder ArbeiterInnenstaat, der aus einer siegreichen sozialistischen Revolution hervorgegangen ist, und jede Gruppe von Arbeiterstaaten unabhängig vom sie kennzeichnenden Grad an Bürokratisierung oder sozialistischer Demokratie im Zustand eines Waffenstillstands mit dem internationalen Kapital befinden, der unter bestimmten Bedingungen in einen offenen Krieg münden kann. Eine der Hauptverantwortlichkeiten der Diktatur des Proletariats besteht also darin, die materiellen wie menschlichen Bedingungen ihrer permanenten militärischen Selbstverteidigungsfähigkeit zu erhalten und auszubauen, um sich gegebenenfalls einer derartigen Aufgabe stellen zu können.

Wir lehnen die Vorstellung ab, dass ein nuklearer Weltkrieg unvermeidlich sei. Ebenso lehnen wir aber auch die Vorstellung ab, Propaganda, Agitation und die Organisierung der Werktätigen in den kapitalistischen Ländern würden schon ausreichen, um imperialistische Angriffskriege gegen neue und frühere Revolutionen zu verhindern. Solange die ArbeiterInnenklasse der wichtigsten kapitalistischen Länder nicht tatsächlich die Herrschaft des Kapitals gestürzt hat, wird die Gefahr konterrevolutionärer Kriege bestehen bleiben. Das Proletariat, das sich im anderen Teil der Welt an der Macht befindet, muss sich auf diese Gefahr vorbereiten, so wie es bereit sein muss, den aufständischen Massen anderer Länder in ihrem Zusammenstoß mit der bewaffneten Intervention der nationalen und internationalen Konterrevolution zu Hilfe zu kommen.

Die Notwendigkeit, sich militärisch auf imperialistische Angriffskriege vorzubereiten, bedeutet für die Arbeiterstaaten, dass sie materielle Ressourcen, die ansonsten dazu dienen könnten, d
ie Entwicklung in Richtung Sozialismus zu beschleunigen, in die Waffenproduktion umleiten müssen. Dies ist ein Grund mehr, die reaktionäre Utopie abzulehnen, der Sozialismus könne in einem Land oder in einigen wenigen Ländern aufgebaut werden.

ArbeiterInnen- und Volksmilizen, das Volk in Waffen, bilden die Grundlage für die Selbstverteidigung des ArbeiterInnenstaates. Dafür ist aber auch die Aufrechterhaltung einer Armee nötig, die auf den Umgang mit hoch komplizierten Waffen spezialisiert ist. Diese ArbeiterInnenarmee wird eine Armee neuen Typs sein, in der sich die neue Klassenbasis widerspiegelt. Sie wird, ähnlich wie die Rote Armee zu Beginn der Sowjetrepublik, die Offizierskaste abschaffen, sie durch SoldatInnenräte und demokratisch gewählte KommandantInnen ersetzen und ein ausgewogenes Verhältnis zu den Milizen herstellen. Im Allgemeinen lässt sich sagen: „Das Verhältnis zwischen Kasernen- und Miliztruppen ist kein so schlechtes Merkmal des tatsächlichen Vordringens zum Sozialismus.“ (L. Trotzki: Verratene Revolution, a.a.O., S. 212)

Das bedeutet jedoch noch nicht, dass der äußere Druck des Imperialismus auf die Arbeiterstaaten zwangsläufig zur bürokratischen Degeneration oder ernstlichen Einschränkungen der sozialistischen Demokratie führen muss.

Erstens war der Aufstieg und Sieg der stalinistischen Bürokratie keine direkte, automatische Folge der kapitalistischen Einkreisung der UdSSR. Sie ergaben sich aus einer Kombination verschiedener Faktoren: der relativen Rückständigkeit Russlands; der relativen Schwäche des russischen Proletariats; den ersten Niederlagen der Weltrevolution; der sich hieraus ergebenden kapitalistischen Einkreisung; der fehlenden politischen Vorbereitung der proletarischen Vorhut auf das Problem der Bürokratie; den Nachwirkungen des schrittweisen Machtzuwachses der Bürokratie auf die Ergebnisse der wiederholten Wellen revolutionärer Kämpfe in der Welt; dem Fehlen einer alternativen revolutionären Führung des Proletariats außerhalb der vom Kreml kontrollierten kommunistischen Parteien. All diese Faktoren wurden noch verschärft durch die Folgen der mehrfachen Niederlagen der Weltrevolution. Dass sich eine derartige Kombination aus Faktoren ein zweites Mal wiederholt, ist insbesondere im Falle neuer siegreicher sozialistischer Revolutionen in industriell weit fortgeschritteneren Länder, als dies Russland 1917 oder China 1949 war, ausgesprochen unwahrscheinlich.

Heute weist Russland im Vergleich zum internationalen Kapitalismus bereits einen wesentlich geringeren Grad an Rückständigkeit auf und die objektive Stärke des sowjetischen Proletariats ist unvergleichlich größer als 1923 oder 1927. Würde sich die relative Macht der gegenwärtigen Arbeiterstaaten verbinden mit siegreichen sozialistischen Revolutionen in Westeuropa, in Japan oder in den wichtigsten Ländern Lateinamerikas, von den Vereinigten Staaten ganz zu schweigen, so würde sich das Kräfteverhältnisse gegenüber dem internationalen Kapitalismus für diesen erneut so dramatisch verschlechtern, dass der Druck des kapitalistischen Umfelds und die Notwendigkeit, eine starke Bewaffnung und Armee aufrecht zu erhalten, als objektive Ursachen für ernsthafte Einschränkungen der sozialistischen Demokratie wegfielen.

Zudem schafft zwar das vorläufige Fortbestehen mächtiger imperialistischer Staaten und reicher bürgerlicher Klassen in der Welt eine Situation mehr oder minder permanenter potentieller Konfrontation. Die offenkundige Notwendigkeit, dass sich der ArbeiterInnenstaat gegen die Drohung auswärtiger imperialistischer Intervention schützt, bedeutet jedoch keineswegs, dass ein potentieller Krieg mit einem tatsächlich stattfindenden Krieg gleichgesetzt werden kann, wie dies von Seiten der StalinistInnen und der bürokratischen Kräfte jeglicher Schattierung fortwährend geschehen ist, um die Erstickung der ArbeiterInnendemokratie in den Ländern zu rechtfertigen, die von einer parasitären Bürokratie beherrscht werden.

Im Übrigen ist das Hauptproblem, das sich heute in der UdSSR, in der VR China und in den osteuropäischen Arbeiterstaaten stellt, nicht die Gefahr einer kapitalistischen Restauration unter Bedingungen des Kriegs oder des Bürgerkriegs. Das Hauptproblem, mit dem die ArbeiterInnenklasse dieser Länder konfrontiert ist, ist die diktatorische Kontrolle des wirtschaftlichen, sozialen und politischen Lebens durch eine privilegierte bürokratische Kaste. Die enormen Missbräuche, zu denen diese Kontrolle geführt hat, haben die Identifikation der Massen dieser Länder mit den bestehenden Staaten tief untergraben, was auf Dauer deren Fähigkeit schwächt, einen möglichen zukünftigen Angriff der imperialistischer Armeen siegreich zurückschlagen zu können. Umso notwendiger ist es, die demokratischen Rechte aller gegen die von der Bürokratie auferlegten Einschränkungen zu verteidigen und für die politische Revolution zu kämpfen. Diese Prozesse würden die Fähigkeit der Arbeiterstaaten, sich jeglicher imperialistischen Aggression zu widersetzen, keineswegs schwächen, sondern im Gegenteil stärken – ganz zu schweigen von der Fähigkeit, den Prozess der Weltrevolution aktiv zu unterstützen.

Schließlich müsste diese ganze Argumentation auf die Füße gestellt werden. Wir bestreiten, dass die Einschränkungen der sozialistischen Demokratie – und erst recht die bürokratische Diktatur – ein Preis sind, der notwendigerweise zu bezahlen ist, um siegreiche Revolutionen und die internationale Ausdehnung der Revolution gegenüber der militärischen Macht des Imperialismus zu verteidigen. Wir erklären im Gegenteil, dass diese Einschränkungen die Diktatur des Proletariats gegenüber dem Imperialismus politisch und militärisch schwächen.

Ein hoher Grad an politischem Bewusstsein und sozialistischer Überzeugung der werktätigen Massen, deren hohes Niveau an politischer Betätigung, Mobilisierung und Wachsamkeit sowie die internationalistische Schulung und Praxis des Proletariats tragen dazu bei, die Selbstverteidigungsfähigkeit und die militärische Stärke eines ArbeiterInnenstaats generell zu verbessern.

Die Geschichte hat gezeigt, dass für die erhöhte Verteidigungsfähigkeit eines gegebenen Staates letztlich zwei Faktoren entscheidend sind: ein höherer Grad an sozialem und politischem Zusammenhalt und Identifikation der Masse der Bevölkerung mit diesem Staat sowie eine höhere durchschnittliche Arbeitsproduktivität und Produktionskapazität. Je umfassender und je weniger eingeschränkt die sozialistische Demokratie ist, desto stärker identifiziert sich die große Mehrheit des Volks mit dem ArbeiterInnenstaat und desto schneller wird auch die Arbeitsproduktivität einschließlich der Möglichkeit von technologischen Durchbrüchen gegenüber dem Imperialismus zunehmen. Unter diesem Gesichtspunkt ist die sozialistische Demokratie in einer internationalen Lage, die gekennzeichnet ist von den potentiellen Angriffskriegen des Imperialismus gegen die Arbeiterstaaten oder gegen stattfindende sozialistische Revolutionen, beileibe kein „Luxus“, sondern selbst auf rein militärischen Gebiet eine bedeutende Waffe in der Hand des ArbeiterInnenstaats.

Dies gilt, wie bereits gesagt unter defensiven Gesichtspunkten und mehr noch unter offensiven. Der Imperialismus kann sich nicht auf militärische Abenteuer gegen frühere oder laufende Revolutionen einlassen, ohne eine massive Opposition innerhalb seiner eigenen Festungen auf
den Plan zu rufen. Er wird gezwungen sein, zunehmend auf Repression und auf Einschränkungen der demokratischen Freiheiten der Massen zurückzugreifen, um diese Opposition zu schwächen. Ein hoher Grad an sozialistischer Demokratie in den Arbeiterstaaten würde von daher auf die unterdrückten Massen in den kapitalistischen Staaten eine größere Anziehungskraft ausüben, wodurch die militärische Stärke des Imperialismus untergraben und die Chancen zur Ausdehnung der Revolution verbessert würden.

Die militärischen Vorbereitungen der Arbeiterstaaten gegenüber der Gefahr imperialistischer Angriffe müssen besondere Maßnahmen gegen Spionage, aus dem Ausland geschickte Saboteure und andere gegen die ArbeiterInnen gerichtete Formen militärischer Aktivität einschließen, die über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte hinweg andauern könnten. Die Notwendigkeit besonderer technischer Maßnahmen zur Selbstverteidigung des ArbeiterInnenstaates darf jedoch auf keinen Fall zur Einschränkung der sozialistischen Demokratie führen, indem BürgerInnen, die ihr Recht auf Kritik und Opposition ausüben, der Spionage oder Sabotage bezichtigt werden. Je höher der Grad an Aktivität, Wachsamkeit und sozialem Zusammenhalt der werktätigen Massen, was nur durch die Entfaltung der sozialistischen Demokratie erreicht werden kann, desto schwieriger wird es in der Tat für wirkliche Spione oder Saboteure sein, in einem entschieden feindlichen Milieu zu operieren, und desto besser wird der ArbeiterInnenstaat in der Lage sein, sich selbst zu verteidigen.

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12. Die bürokratisierten Arbeiterstaaten, die Diktatur des Proletariats und der Aufstieg der antibürokratischen politischen Revolution

Von einem theoretischen Standpunkt aus stellen die UdSSR und die anderen bürokratisierten Arbeiterstaaten äußerst deformierte und degenerierte Formen der Diktatur des Proletariats dar, sofern die von der sozialistischen Oktoberrevolution geschaffenen wirtschaftlichen Grundlagen von der Bürokratie nicht zerstört worden sind. In diesem Sinne leitet sich die Notwendigkeit, die UdSSR und die anderen Arbeiterstaaten gegen jeglichen Versuch der Restauration des Kapitalismus – die einen gigantischen historischen Rückschritt bedeuten würde – zu verteidigen, aus der Tatsache ab, dass es sich bei diesen Ländern um bürokratisch degenerierte oder deformierte Arbeiterstaaten, d. h. um degenerierte Formen der Diktatur des Proletariats handelt.

Daraus leitet sich aber keineswegs ab, dass es mehrere historische Varianten der Diktatur des Proletariats gibt, die wir alle mehr oder minder auf dieselbe Stufe stellen, und dass die (sozialistische) proletarische Demokratie, wie sie in unserem Programm beschrieben wird, nur die „ideale Norm“ darstellt, von der sich die Realität entfernt hat und in Zukunft noch stärker entfernen wird.

Die Diktatur des Proletariats ist kein Selbstzweck. Sie ist nur ein Mittel, um das Ziel zu erreichen, die Befreiung der Arbeit, aller Ausgebeuteten und Unterdrückten durch die Schaffung einer klassenlosen Gesellschaft im Weltmaßstab, die das einzige Mittel ist, um alle brennenden Probleme zu lösen, mit denen die Menschheit konfrontiert ist, und zu verhindern, dass diese in die Barbarei zurückfällt. In ihrer äußerst degenerierten Form der Diktatur der Bürokratie bietet die „bürokratische“ Diktatur des Proletariats aber keine Handhabe, diesem Ziel näher zu kommen. Sie hemmt den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus. Sie ist ein Hindernis, das das  Proletariat durch eine politische Revolution beseitigen muss.

Hieraus folgt, dass die sozialistische Demokratie, die Ausübung der Macht durch das Proletariat selbst mittels demokratisch gewählter ArbeiterInnen- und Volksräte, keineswegs nur eine von verschiedenen Varianten der Diktatur des Proletariats ist – eine ideale oder normative, d. h. gewissermaßen „unrealistische“ Variante, was im Grunde auf eine objektivistische Apologie des Aufstiegs des Stalinismus und der bürokratischen Diktatur hinausläuft. Sie ist vielmehr die einzige Form der Diktatur des Proletariats, die unserem sozialistischen Ziel entspricht, die einzige Form, die sie zu einer wirksamen Kraft werden lässt, um der Weltrevolution und dem Weltsozialismus näher zukommen. Wir kämpfen für die Verwirklichung dieser Form der Diktatur des Proletariats – und nur für diese, und zwar nicht aus Gründen der Moral, einer humanitären Einstellung oder eines historischen Idealismus (dem Versuch, dem historischen Prozess ein „ideales“ Modell aufzuzwingen), sondern aus Gründen politischer Wirksamkeit und politischen Realismus, aus Gründen programmatischer Prinzipien, aus Gründen unmittelbarer und historischer Notwendigkeit vom Standpunkt der Verteidigung der Interessen des internationalen Proletariats und des Weltsozialismus.

Außerdem kann die „bürokratische“ Diktatur des Proletariats – wie in der UdSSR geschehen – nur in Folge einer katastrophalen und dauerhaften politischen Niederlage des Proletariats aufkommen, die ihm von der Bürokratie beigebracht wird. Trotzki hat in diesem Zusammenhang nicht zufälligerweise von „politische Enteignung des Proletariats durch die Bürokratie“ gesprochen. Als proletarische Revolutionäre/Revolutionärinnen sind wir gegenüber der Frage eines politischen Siegs oder einer politischen Niederlage unserer Klasse nicht neutral. Wir bemühen uns darum, ihren Sieg zu gewährleisten. Wir suchen ihre Niederlage mit allen möglichen Mitteln zu verhindern. Daraus folgt wiederum, dass wir nur für die Form der Diktatur des Proletariats kämpfen, bei der sich die politische Macht in den Händen demokratisch gewählter ArbeiterInnenräte befindet.

Politisch gesehen handelt es sich keineswegs um eine rein akademische Frage. Sie stellt in allen, nicht nur den imperialistischen Ländern, in denen die ArbeiterInnenklasse jetzt im Großen und Ganzen die Verbrechen des Stalinismus und der Arbeiterbürokratien allgemein eingestanden hat, ein brennendes Problem dar. Jegliche Gleichsetzung der „Diktatur des Proletariats“ mit der bloßen Verstaatlichung der Produktionsmittel ohne besondere Bedingungen zur Ausübung der Macht im Staat und in der Wirtschaft durch die ArbeiterInnenklasse wird dort zu einem großen Hindernis auf dem Weg zu einer siegreichen sozialistischen Revolution, zur tatsächlichen Verwirklichung der Diktatur des Proletariats. Objektiv hilft sie der Bourgeoisie, dem Kleinbürgertum, den Sozialdemokraten und den kommunistischen Parteien, die ArbeiterInnenklasse in das Korsett des bürgerlich-demokratischen Staats eingezwängt zu halten.

Noch brennender ist das Problem in allen bürokratisierten Arbeiterstaaten selbst, in denen die politische Revolution auf der Tagesordnung steht. In diesen Ländern würde jeder Versuch, andere Varianten als die sozialistische Demokratie als Ziel der aufsteigenden politischen Revolution hinzustellen, alle, die das versuchen würden, extrem von den Massen isolieren. Sie würden Gefahr laufen, den Hass, mit dem das Proletariats auf die Bürokratie, „die neuen Herren“, reagiert, auch auf sich zu ziehen.

Durch die konkreten Erfahrungen der ungarischen Revolution von Oktober/November 1956 und der polnischen Revolution von August 1980 bis Dezember 1981, die auf dem Weg einer voll entfalteten antibürokratischen politischen Re
volution weiter gegangen sind, und des „Prager Frühlings“ von 1968/69 konnten bereits außerordentlich bedeutsame Lehren in Bezug auf die Dynamik der politischen Revolution gezogen werden. Der „Prager Frühling“ und die politische Revolution in Polen hatten zudem den Vorteil, dass sie sich unter sozioökonomischen und politischen Bedingungen von Ländern abspielten, in denen die ArbeiterInnenklasse die große Mehrheit der erwerbstätigen Bevölkerung stellt und sich auf eine lange Tradition von sozialistischen, kommunistischen und gewerkschaftlichen Massenorganisationen sowie in Polen auf eine reiche Erfahrung antibürokratischer politischer Revolten und Kämpfe für die ArbeiterInnenselbstverwaltung stützt. Diese drei Erfahrungen beginnender politischer Revolution bestätigen, dass der Inhalt der sozialistischen Demokratie, so wie er in unserem Programm vorgestellt und in diesen Thesen genauer ausgeführt wird, nur der bewusste Ausdruck der Ziele ist, für die Millionen von ArbeiterInnen gekämpft haben, als sie sich gegen die totalitäre Diktatur der Bürokratie erhoben.

Der Kampf gegen die Geheimpolizei, für die Freilassung der politischen Gefangenen, gegen die Unterdrückung politischer und gewerkschaftlicher Betätigung, die das Machtmonopol der herrschenden Bürokratie antasten, gegen die Pressezensur, gegen die Willkür in der Rechtsprechung (d.h. für geschriebenes Recht und für das Recht der Angeklagten auf gesetzeskonformen Prozess und Verteidigung), gegen das Einparteiensystem, gegen die Kontrolle der Bürokratie über das gesellschaftliche Mehrprodukt und das gesamte Wirtschaftssystem, gegen die ungeheuren materiellen Privilegien der Bürokratie und für einen qualitativen Sprung vorwärts zur wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gleichheit – das sind die Hauptbeweggründe, für die die ungarischen und tschechoslowakischen werktätigen Massen gegen die Bürokratie auf die Straße gegangen sind. Dasselbe steht in der UdSSR und in der VR China bevor.

Sie haben mit einer Wiedereinführung des Privateigentums und des Kapitalismus nichts zu tun, wie die stalinistischen Verleumder behauptet haben, um die konterrevolutionäre Unterdrückung der gegen die Bürokratie gerichteten Massenerhebungen durch die Entsendung von sowjetischen Truppen nach Ungarn und in die Tschechoslowakei oder durch die Verhängung des Kriegsrechts in Polen zu rechtfertigen. Im selben Sinne haben sie auch nichts mit dem Sturz der Diktatur des Proletariats zu tun.

1956 haben sich in Ungarn die ArbeiterInnenräte – insbesondere der Zentrale ArbeiterInnenrat von Budapest – nach langen Diskussionen für die Verteidigung des verstaatlichten Eigentums und die Freiheit für alle politischen Parteien mit Ausnahme der Faschisten ausgesprochen. Im Verlauf des „Prager Frühlings“ in der Tschechoslowakei [1968] ist die Forderung nach uneingeschränkter Organisationsfreiheit für die politischen Clubs, Tendenzen und Parteien, die zuerst von den radikalsten AnhängerInnen der Bewegung vertreten wurde, von breiten Strömungen innerhalb der Kommunistischen Partei selbst aufgegriffen worden und hat die Unterstützung der großen Mehrheit der Gewerkschaften und der ArbeiterInnenräte erhalten, die während des Höhepunkts des „Frühlings“ entstanden sind. Die ArbeiterInnenklasse hat sich energisch für die Pressefreiheit ausgesprochen, wogegen die stalinistischen Wortführer der Bürokratie, die die konterrevolutionäre Militärintervention der sowjetischen Bürokratie vorbereitet, begünstigt und unterstützt haben, ihre Angriffe bezeichnenderweise auf die vorgeblich „verantwortungslosen“ und „pro-bürgerlichen“ SchriftstellerInnen konzentrierten, deren freie Meinungsäußerung sie um jeden Preis ersticken wollten. Die ArbeiterInnenklasse hat sich in ihrer erdrückenden Mehrheit für die Meinungsfreiheit dieser SchriftstellerInnen ausgesprochen.

In Polen hat die ArbeiterInnenklasse 1980/81 während 16 Monaten den Versuch eines umfassenden Kampfs für die politische Revolution in einem ArbeiterInnenstaat unternommen. Die innere Demokratie, die sich die zehn Millionen ArbeiterInnen gaben, die in der Gewerkschaft „Solidarno“ organisiert waren, bewies, wie fest die ArbeiterInnenklasse zu den Prinzipien der proletarischen Demokratie steht. Die Losungen „Vergesellschaftung der Produktionsmittel und der Planung“ und „Aufbau einer selbstverwalteten Republik“, die von der Massenbewegung aufgestellt wurden, waren ein klarer Ausdruck für deren Bestreben, der Bürokratie die Kontrolle über die Wirtschaft wie den Staat zu entwinden und sie der kollektiven, demokratischen Leitung der ArbeiterInnen zu unterstellen; dieses Bestreben nahm im Kampf um die ArbeiterInnenselbstverwaltung und in der Bildung von ArbeiterInnenräten sowie deren Koordinationen greifbare Gestalt an. Das Programm, das vom Landesdelegiertenkongress von „Solidarno“ angenommen wurde, erklärt: „Der weltanschauliche, gesellschaftliche, politische und kulturelle Pluralismus muss die Grundlage für die Demokratie in einer selbstverwalteten Republik sein.“ (Programm der NSZZ „Solidarno“, in: „Osteuropa-Info“, Nr. 4, Dezember 1981, These 19, S. 31.) Es fährt fort: „Das öffentliche Leben in Polen verlangt eine tiefe und umfassende Reform, die zu einer dauerhaften Einführung der Selbstverwaltung, der Demokratie und des Pluralismus führen muss. Deshalb werden wir sowohl eine Umgestaltung der staatlichen Strukturen als auch die Schaffung und Unterstützung von unabhängigen und selbstverwalteten Institutionen in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens anstreben.“ (S. 32)

In diesem Programm heißt es weiter: „Wir sind der Ansicht, dass die Grundsätze des Pluralismus in das politische Lehen hineingetragen werden müssen. Unsere Gewerkschaft wird Bürgerinitiativen stützen und verteidigen, die das Ziel haben, der Gesellschaft verschiedenartige politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Programme vorzustellen.“ (S. 32)

Es ist mehr als wahrscheinlich, dass sich ähnliche Konfrontationen während jeder künftigen politischen Revolution ereignen werden, vor allem in der UdSSR und der VR China. Die revolutionären MarxistInnen können nicht zögern oder eine abwartende Haltung einnehmen. Sie müssen sich nach dem richten, worum es der großen Mehrheit der werktätigen Massen geht – Verteidigung uneingeschränkter demokratischer Freiheiten, gegen die Zensur und die Repression der Bürokratie.

Zu Beginn einer wirklichen politischen Revolution unterscheiden die werktätigen Massen zwischen denjenigen Sektoren der Bürokratie, die versuchen, Mobilisierungen und die Selbstorganisation der Massen auch mit Gewalt zu verhindern, und anderen Sektoren, die – aus welchen Gründen auch immer – dem Druck der Massenbewegung nachgeben und sich mit ihr zu verbünden scheinen. Erstere werden gnadenlos aus allen Organen ferngehalten werden, die aus der wahren ArbeiterInnen- und Volksmacht entstehen. Letztere werden geduldet werden, und die Massen werden mit ihnen sogar taktische Bündnisse schließen, vor allem dann, wenn sie von den verhasstesten VertreterInnen der bürokratischen Diktatur angegriffen werden.

Bei der Institutionalisierung der ArbeiterInnenmacht werden die werktätigen Massen jedoch alle nötigen Maßnahmen ergreifen, ihre zahlenmäßige, soziale und politische Überlegenheit in den regenerierten Sowjets sicherzustellen, um zu verhindern, dass dies
e wieder unter die Hegemonie der Bürokratie – sei es auch nur ihres technokratischen und „liberalen“ Flügels – geraten. Doch dies kann auch durch geeignete Wahlregeln verwirklicht werden und darf in keiner Weise das Verbot bestimmter Parteien oder ideologischer Tendenzen enthalten, die als Vertretung jener Sektoren der Bürokratie betrachtet werden, die sich zeitweise mit den revolutionären Massen verbündet haben.

Während des Aufstiegs und des Kampfs für den Sieg der antibürokratischen politischen Revolution werden die revolutionären MarxistInnen das enorme Handikap überwinden müssen, dass der Marxismus, der Kommunismus, der Leninismus und der Sozialismus allgemein durch Stalin, den Stalinismus und dessen Erben diskreditiert wurden, indem sie ihre verabscheute Unterdrückungsherrschaft diesen großen emanzipatorischen Denkrichtungen gleichgesetzt haben. Die IV. Internationale kann dieses Handikap erfolgreich überwinden, indem sie sich auf die Bilanz von mehr als einem halben Jahrhundert gnaden- und kompromissloser Kämpfe stützt, die ihre BegründerInnen und ihre Mitglieder gegen diese Unterdrückungsherrschaft geführt haben. Sie muss aber zu dieser Bilanz ein mutiges Programm mit konkreten Forderungen hinzufügen, die in den Augen der Massen den Sturz der Herrschaft der Bürokratie, deren Ersetzung durch die von den ArbeiterInnen selbst ausgeübte Macht und die von den Massen geforderten ausreichenden Garantien verkörpern, um zu verhindern, dass je wieder die politische und wirtschaftliche Macht der ArbeiterInnen durch eine privilegierte Gesellschaftsschicht an sich gerissen wird. Unser Programm der sozialistischen Demokratie fasst all diese Forderungen zusammen, die in den Augen der zweihundert Millionen ProletarierInnen der bürokratisierten Arbeiterstaaten dem sozialistischen Ziel Glaubwürdigkeit verleihen.

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13. Das Programm der sozialistischen Demokratie als integraler Bestandteil des Programms der Weltrevolution

Die Bilanz von sechzig Jahren bürokratischer Macht, angefangen mit dem Aufstieg des stalinistischen Regimes in der UdSSR, und von dreißig Jahren weltweiter Krise des Stalinismus kann folgendermaßen zusammengefasst werden:

1. Trotz aller Unterschiede zwischen den verschiedenen europäischen und asiatischen Arbeiterstaaten und trotz aller Veränderungen, die sich dort vollzogen haben, kennzeichnet sie doch alle nach wie vor das Fehlen einer institutionalisierten, verfassungsmäßig garantierten direkten ArbeiterInnenmacht, d.h. von ArbeiterInnenräten oder ArbeiterInnen- und Bauern/Bäuerinnenräten, die direkt die Staatsmacht ausüben. Überall besteht faktisch ein Einparteiensystem weiter, das Ausdruck des vollständigen Monopols realer Machtausübung durch privilegierte Bürokratien in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens ist. Das Fehlen des Rechts, innerhalb der Einheitspartei Tendenzen zu bilden, und die Verneinung des wirklichen demokratischen Zentralismus im leninistischen Sinne des Wortes runden dieses Monopol der Ausübung der Staatsmacht ab. Die parasitäre Natur der materiell privilegierten Bürokratien bringt es ferner mit sich, dass der sozialistischen Weltrevolution und dem Aufbau des Sozialismus in unterschiedlichem Ausmaß enorme zusätzliche Hindernisse in den Weg gestellt wurden. Der Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus gerät ins Stocken, die Kreativität wird erstickt und riesige Mengen des gesellschaftlichen Reichtums werden falsch genutzt und verschwendet.

2. Trotz der zahlreichen Teilkritiken am bestehenden politischen und wirtschaftlichen System in der UdSSR durch verschiedene ideologische Strömungen, die sich seit der Krise des Stalinismus entwickelt haben (Titoismus, Maoismus, „Eurokommunismus“ und Linkszentrismus italienischen, spanischen und westdeutschen Typs usw.), hat keine dieser Strömungen eine alternative Lösung hervorgebracht, die sich vom stalinistischen Modell in der UdSSR grundlegend unterscheidet. Keine von ihnen schlägt angesichts der bürokratischen Machtstruktur vor, die Macht solle direkt und demokratisch von der ArbeiterInnenklasse ausgeübt werden. Ein wirkliches Verständnis des Stalinismus-Problems ist ohne eine marxistische Analyse der Bürokratie als einer gesonderten gesellschaftlichen Erscheinung nicht möglich. Ohne die Institutionalisierung der direkten Macht des Proletariats durch demokratisch gewählte ArbeiterInnenräte (oder ArbeiterInnen- und Bauern/Bäuerinnenräte) mit einem Mehrparteiensystem und vollen demokratischen Rechten, die allen Arbeitenden garantiert sind, auf der Grundlage einer geplanten, demokratisch zentralisierten Selbstverwaltung der Wirtschaft durch die assoziierten ProduzentInnen ist eine Alternative zur Macht der Bürokratie (oder zur Restauration des Kapitalismus) nicht möglich.

Die meisten westeuropäischen kommunistischen Parteien verschärfen zwar ihre Kritik an den Dogmen und Praktiken der Bürokratie in der UdSSR und in Osteuropa und weiten ihre Polemik gegen den Kreml aus, schlagen aber statt einer revolutionären Veränderung bestenfalls eine Reform der schlimmsten Auswüchse des stalinistischen Regimes vor. Diese Parteien haben die Nabelschnur, die sie mit der sowjetischen Bürokratie verbindet, nicht durchtrennt und bringen weiterhin Rechtfertigungen und „objektivistische“ Apologien für die begangenen Verbrechen der Bürokratie und die gegenwärtigen Formen der bürokratischen Macht vor. In den imperialistischen Ländern untergräbt zudem ihre allgemeine Linie der Klassenzusammenarbeit und der Aufrechterhaltung der bürgerlichen Ordnung, die sie selbst dann beibehalten, wenn heftige Massenkämpfe aufkommen, ihre Glaubwürdigkeit im Hinblick auf ihre demokratischen Absichten innerhalb der ArbeiterInnenbewegung. In ihrer Kritik haben sie die Unterschiede zwischen der bürgerlichen Demokratie und der ArbeiterInnendemokratie systematisch verwischt, und unter dem Deckmantel der Bekämpfung des Einparteienregimes in der UdSSR, Osteuropa und China vertreten sie in Wirklichkeit die Vorstellung, die einzige politische Alternative zur Macht der Bürokratie und des Einparteiensystems seien die bürgerlich-parlamentarischen Institutionen. Damit führen sie erneut die allgemeinen Thesen der klassischen Sozialdemokratie hinsichtlich des „friedlichen“ und „schrittweisen“ Übergangs zum Sozialismus in die ArbeiterInnenbewegung ein.

Im Lichte all dieses Versagens erweist sich das Programm der IV. Internationale zugunsten der Diktatur des Proletariats als direkte Macht der ArbeiterInnen, die durch gewählte ArbeiterInnenräte ausgeübt wird und einen Pluralismus an Räteparteien anerkennt, als die einzige zusammenhängende und ernsthafte Alternative zu den beiden grundlegenden Revisionen des Marxismus, dem sozialdemokratischen Reformismus und der stalinistischen Kodifizierung des Machtmonopols einer usurpatorischen bürokratischen Kaste.

Dieses Programm, das in seinen Grundzügen in der Kontinuität der Schriften von Marx und Engels über die Pariser Kommune, von Lenins „Staat und Revolution“ und von den Dokumenten der ersten Kongresse der Kommunistischen Internationale über die Diktatur des Proletariats steht, ist im Lichte der späteren Erfahrungen mit proletarischen Revolutionen und der bürokratischen Degeneration bzw. Deformation der Arbeiterstaaten zunächst von Trotzki in der „Verratenen Revolution“ und in den Gründungsdokumenten der
IV. Internationale sowie später durch Dokumente der IV. Internationale nach dem Zweiten Weltkrieg bereichert worden. Der vorliegende Text fasst die gegenwärtigen Auffassungen der revolutionären MarxistInnen zu diesem grundlegenden Gesichtspunkt des Programms der sozialistischen Revolution zusammen.

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