Ergebnisse des ersten Wahlgangs
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Stichwahl: Lula oder Bolsonaro - wohin geht die Reise in Brasilien?

Ergebnisse des ersten Wahlgangs

Von Hermann Dierkes im Gespräch mit Prof. Antônio Andrioli | 27.10.2022

Am 2. Oktober waren 156,4 Millionen Brasilianer:innen wahlberechtigt bzw. wahlpflichtig. Es ging um Wahlen gleichzeitig für die Präsidentschaft, den Senat und den Nationalkongress (oder Bundestag), die Gouverneure, die Legislativversammlungen der Bundesstaaten (Landtag). Hermann Dierkes hat das folgende Interview mit dem brasilianischen Sozialwissenschaftler und Agrarökonomen Prof. Antônio Andrioli geführt. Hier werden nicht wie sonst oft nur die Präsidentschaftskandidaturen in den Blick genommen.

Wie werden sich Kongress und Senat künftig zusammensetzen?

Das Parlament und insbesondere der Senat sind noch reaktionärer geworden als bisher. Zum Vergleich: Als Lula 2002 zum ersten Mal gewählt wurde, mit dem größten Sieg der PT, konnte er mit 91 der 513 Bundestagsabgeordneten und 13 der insgesamt 81 Senatoren rechnen. Diesmal kann er mit dem gesamten Bündnis aus PT, Grünen (PV) und der Kommunistischen Partei von Brasilien (PCdoB) mit maximal 79 Abgeordneten und 9 Senator:innen rechnen (obwohl die PT von 56 auf 68 Abgeordnete und von 6 auf 9 Senatoren kam – PV und PCdoB haben keinen Senator). Lula kann wahrscheinlich auch noch auf die PSB des Vizepräsidenten Alckmin (14 Abgeordnete und 2 Senatoren) und auf die Föderation PSOL/REDE (14 Abgeordnete und 1 Senator) setzen, sodass maximal mit 107 Abgeordneten (20 %) und 12 Senator:innen (14 %) zu rechnen ist.

Bolsonaro hat andererseits eine klare Mehrheit im Parlament erreicht: Allein seine aktuelle Partei, die Liberale Partei (PL), hat jetzt 99 Abgeordnete und 13 Senatoren und stellt somit die größte Fraktion der letzten 24 Jahre im brasilianischen Parlament. Nur die damals aus der Diktatur-Partei ARENA hervorgegangene PFL hatte mit 105 Abgeordneten und 5 Senatoren im Jahr 1998 bei der Wiederwahl von Fernando Henrique Cardoso gegen Lula etwas Ähnliches erreicht. Die dritte Fraktion im Abgeordnetenhaus ist die neu gegründete União Brasil (aus der vorherigen bolsonaristischen PSL entstanden) mit 59 Bundestagsabgeordneten und 11 Senatoren, gefolgt von der PP (die auch aus der Militärpartei ARENA entstanden ist; dies ist Partei des aktuellen Parlamentspräsidenten Arthur Lira, sie auch klar auf Bolsonaros Seite) mit 42 Abgeordneten und 7 Senatoren. Bolsonaro kommt mit PL (99), União Brasil (59), PP (47), PSD (42), Republicanos (42), Podemos (12), Avante (7), PSC (6), Patriota (4), Novo (3), und PTB (1) auf zusammen 322 Abgeordnete, also auf 62 %, ebenso im Senat mit 51 der insgesamt 81 Sitze.

Für Lula bleiben die 17 Mandate der PDT von Ciro Gomes, die 42 der MDB von Simone Tebet, die 4 von Solidariedade und die 3 von PROS, um in einer Koalition die Stichwahl zu gewinnen, um somit zusätzlich auf 66 im Abgeordnetenhaus und 13 im Senat zu kommen. Die Föderation PSDB/Cidadania (historisch Gegner der PT, obwohl Geraldo Alckmin jetzt Vizepräsident für Lula kandidiert und sowohl José Serra als auch Fernando Henrique Cardoso, früher allesamt Gegner von Lula, sich für ihn und gegen Bolsonaro ausgesprochen haben) scheint sich in der Stichwahl eher in Richtung Bolsonaro zu bewegen. So wäre insgesamt mit allen Zugeständnissen eine breite Koalition von maximal 33% im Abgeordnetenhaus und 30% im Senat möglich. Eine eindeutige Minderheitsregierung, denn das Ergebnis am 2. Oktober bedeutete eine starke Legitimierung der Bolsonaro-Regierung in ganz Brasilien. Selbst im Nordosten, wo Lula in allen Bundesländern gewann, sieht es für das Parlament nicht gut aus. In ganz Brasilien gibt es kein Bundesland, in dem die PT mehr Abgeordnete hätte als Bolsonaro. In vier Bundesländern (Acre, Amazonas, Sergipe und Tocantins) gibt es nur Abgeordnete der Parteien, die Bolsonaro unterstützen. Die Mehrheit der Abgeordneten kommen aus São Paulo (45), Minas Gerais (36) ‒ wo Lula eigentlich gewonnen hat ‒, Rio de Janeiro (29) und Bahia (25), das zweitbeste Ergebnis von Lula. Mensch kann davon ausgehen, dass Lula viel mehr Stimmen als seine Koalitionsparteien erhalten hat und Bolsonaro viel weniger Stimmen als seine Parteien. Oder anders gesagt: der Bolsonarismus ist viel stärker ausgeprägt als Bolsonaro und Lula ist viel zugkräftiger als alle Linken zusammen.

Wie sieht es mit der geschlechtermäßigen und auf Ethnien bezogenen Zusammensetzung aus?

Es gibt eine deutliche Zunahme von Schwarzen, Frauen, Indigenen und LGBTQ+ bei den gewählten Kandidat:innen. Von den insgesamt 26.073 registrierten Kandidat:innen waren 9.415 (33,2 %) Frauen, 14.015 Schwarze (53,7 %), 175 Indigene (0,7 %) und 112 asiatischer Herkunft (0,4 %). Es sind 135 schwarze Abgeordnete (26 %) gewählt worden, obwohl 56,1 % der brasilianischen Bevölkerung sich als schwarz bezeichnet. Allerdings gehört die Mehrheit der gewählten Schwarzen (77) Parteien an, die Bolsonaro unterstützen.

Bei den LGBTQ+ waren diesmal insgesamt 18 erfolgreich (14 für Landtage und 4 im Bundestag), was die bisherige Zahl verdoppelt. Sie sind alle linken Parteien zuzuordnen.

Bei den Frauen sind die Zahlen von aktuell 77 auf 91 gestiegen (18 %) obwohl 52,5 % der brasilianischen Bevölkerung Frauen sind. PT und PL zusammen stellen 40 % der Frauen, die gewählt worden sind. Fünf Indigene wurden diesmal ins Parlament gewählt (2 von der PT, 2 von der PSOL und 1 von der PL) und drei asiatischer Herkunft (alle im rechten politischen Lager).

Trifft es zu, dass auf der Linken links von der PT die PSOL erfolgreich war?

Ja, die Partei für Sozialismus und Freiheit (PSOL) hat mit 12 Abgeordneten den bisher größten Wahlerfolg erreicht. Dabei muss mensch auch sagen, dass von den 12 gewählten Abgeordneten (im Senat gibt es keine Vertretung) 5 aus São Paulo, 5 aus Rio de Janeiro, 1 aus Minas Gerais und 1 aus Rio Grande do Sul sind, also alle aus Hauptstädten des Südens oder Südostens. Die Wahl von Guilherme Boulos als der Kandidat mit der besten Stimmenzahl in São Paulo hat entscheidend dazu beigetragen. In Rio de Janeiro erreichte die PSOL dieselbe Anzahl von Abgeordneten wie die PT. Ihr Bündnispartner REDE hat jetzt zwei Abgeordnete (1 in Pernambuco und 1 in São Paulo).

Warum sind einige prominente Gewerkschafter:innen bei der Wahl gescheitert (z. B. Vicentinho)?

Vicentinho hat diesmal lediglich 82.912 Stimmen erhalten, immerhin etwas mehr als die 70.645, die ihm 2018 noch knapp für die Wiederwahl reichten. Insgesamt kann man aber davon ausgehen, dass generell die früheren Prominenten nicht gewählt wurden, wenn sie nicht eine klare Kontinuität bei ihrer traditionellen Wählerschaft sicherstellen konnten und bei vielen einfach nicht mehr bekannt sind. Schauen wir uns beispielsweise das Scheitern von José Serra an, des ehemaligen Präsidentschaftskandidaten und Gegner von Lula 2002; in São Paulo ist er nicht als Bundestagsabgeordneter gewählt worden. Oder das Scheitern von Heloísa Helena, inzwischen eine Sprecherin von REDE Sustentabilidade, in Rio de Janeiro oder die wenigen Stimmen für eine Luiza Erundina (obwohl die PSOL diesmal als Partei gut zulegte) oder selbst von Marina Silva, der bekanntesten Umweltpolitikerin Brasiliens, die bei der Wahl zur Bundestagsabgeordneten mit 237.526 Stimmen lediglich ein Drittel des ehemaligen Umweltministers von Bolsonaro, Ricardo Salles, erreichte, obwohl dieser sich nachdrücklich für die Zerstörung des Regenwalds im Amazonas und die Holzmafia einsetzte.

Das betrifft aber eigentlich nicht die Frage der Gewerkschafter:innen, denn sie sind bei dieser Wahl nicht durchweg gescheitert. Die Metallarbeiter:innen im Bundesland São Paulo haben sowohl einen Bundestagabgeordneten wie einen Landtagsabgeordneten gewählt: Luiz Marinho, der ehemalige Arbeitsminister von Lula, ehemalige Präsident des Gewerkschaftsdachverbands CUT und ehemalige Oberbürgermeister von São Bernardo do Campo, bekam 156.202 Stimmen; Teonílio Monteiro da Costa (Spitzname Barba, auch von der Leitung der Metall-Gewerkschaften der ABC-Region) bekam 108.071 Stimmen für den Landtag. Diese Kandidat:innen-Paare, also ein:e Kandidat:in für den Bundestag und ein:e Kandidat:in für den Landtag, war eine übliche Strategie im Wahlkampf für bestimmte Kategorien von Lohnabhängigen und Gewerkschaften und hat auch bei dieser Wahl gut funktioniert.

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