Jenseits der Notwendigkeit
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Spielend frei sein

Jenseits der Notwendigkeit

Von Manuel Kellner | 05.12.2023

Die Alternative zur kapitalistischen Klassengesellschaft und ihrem Zerstörungswerk ist das Gemeineigentum an den Produktionsmitteln. Und ein Prozess nach dem Sturz der Macht des Kapitals, der über sozialistische Demokratie zu einer klassenlosen Gesellschaft führt. Das Ziel sind freie Menschen, die freiwillig miteinander zusammenarbeiten, um ihre Lebensmittel zu produzieren. Was aber bedeutet Freiheit? Sie ist zu Unrecht Parole auf dem Banner des Liberalismus. In Wirklichkeit ist sie der Leitgedanke des Kommunismus seit Thomas Morus und Karl Marx.

Auf der Insel von Thomas Morus, „Utopia“, gibt es keine Geld- und Warenwirtschaft. Die Menschen holen sich, was sie brauchen, aus frei zugänglichen Magazinen. Niemand würde auf die Idee kommen, mehr zu nehmen, als dem täglichen Bedarf entspricht. So wenig sich heute jemand den Wurmfortsatz des Blinddarms zweimal herausschneiden lässt, wenn das gratis ist. Die Menschen leiden keine Not. Sie werden nicht von der Ökonomie der Waren und des Geldes und von keinem Staat beherrscht.

Ganz in dieser Tradition hatte Marx kategorisch behauptet, das Reich der Freiheit beginne erst dort, wo das Reich der Notwendigkeit aufhört. Frei sind Menschen daher nur, wenn sie tun, wozu sie gerade Lust haben – und nichts, was notwendig ist, wozu nur die Not sie treibt. Dabei ist gleichgültig, ob diese Notwendigkeit daher kommt, dass es mühselig ist, der Erde die Lebensmittel abzuringen, oder dass sie unter der Fuchtel anderer Menschen unter deren Befehl arbeiten, oder die Scheinnatur der Waren- und Geldwirtschaft sie mit eiserner Gewalt dazu zwingt, für andere Leute zu arbeiten, wenn sie nicht untergehen wollen.

Die Freiheit von Menschen zu tun und zu lassen, was sie gerade wollen, und das dem entsprechende Lebensgefühl kennen wir alle. Es ist die Selbstvergessenheit von Kindern im Spiel. Wie zornig und frustriert sie sind, wenn das Reich der Notwendigkeit sie daraus zurückruft! Sie sollen aufhören zu spielen und essen kommen, oder gar in den schulischen Unterricht zurückkommen. Manche Erwachsene haben sich das Bedürfnis zu spielen bewahrt, zu einer Tätigkeit, die keinerlei äußerlichen Zwecken dient und reiner Selbstzweck ist. In ihr vergessen Menschen auch ihre Vergänglichkeit und ihre Leiden…

Denn nur in einer solchen Tätigkeit sind Menschen frei und souverän. Nur in einer solchen Tätigkeit sind sie überschäumend produktiv und entfalten vielfältig ihre Fähigkeiten und Anlagen.  Was sie schaffen, horten sie nicht, sondern sie verschenken und verschleudern es bzw. stellen es allgemein zur Verfügung. Darum war für Marx und seinesgleichen die Verkürzung der Arbeitszeit der Schlüssel zur allgemeinen Emanzipation. Denn die Arbeit, zu der Menschen – wie auch immer – verpflichtet werden, gehört dem Reich der Notwendigkeit an, das es eben zu überwinden gilt.

Das Bedürfnis zu verschenken und zu verschleudern, aus der Fülle zu geben, ist aus vielen vorkapitalistischen Gesellschaften bekannt, mit zahlreichen Übergängen zum Geschenktausch und schließlich zum Warentausch und zum Handel. In seinen urtümlichen Formen diente es dem Prestige: am meisten galt, wer am meisten gab. Sogar in den kränksten Formen des Spiels in der entwickelten Waren- und Geldwirtschaft, beim Glücksspiel etwa, scheint dieses Bedürfnis durch. Die Spielsüchtigen können nicht anders, als das Gewonnene wieder aufs Spiel zu setzen. Sie verschleudern alles und fühlen sich nur darin frei. Schade, wenn sie pleite sind, werden sie unsanft mit der Nase ins Reich der Notwendigkeit zurückgestoßen.

Im französischen Original des „Traité d’Economie marxiste“ (Abhandlung zur marxistischen Wirtschaftstheorie) von Ernest Mandel gab es ein Schlusskapitel, das in die deutsche Version (Marxistische Wirtschaftstheorie) leider nicht übernommen wurde. Es handelt von den Anfängen, der Entfaltung und dem kommenden Absterben der politischen Ökonomie (der Wirtschaftswissenschaften)! Das entspricht der Marxschen Herangehensweise, der zufolge Ökonomie wesentlich Ökonomie der Zeit und entsprechende Rechnungsführung ist, was der freien Verfügung der Menschen über ihre Zeit widerspricht. Wirtschaftswissenschaften verschwinden also in dem Maße, wie das Reich der Notwendigkeit verblasst und das Reich der Freiheit das Leben der Menschen vielfarbig überstrahlt.

Mandel spricht in seiner Marxistischen Wirtschaftstheorie auch vom Ziel der Verschmelzung des homo ludens und des homo faber, des spielenden und des produktiv arbeitenden Menschen. Am Ende wird die freie Zeit, in der die Menschen aus der Fülle leben und tun und lassen, was sie gerade wollen, zur eigentlich produktiven Zeit, wie auch Marx sagte. Solange es Arbeitspflicht gibt, die also dem Reich der Notwendigkeit angehört, muss diese Arbeit humanisiert, müssen die Arbeitenden in ihr möglichst viel Entscheidungsbefugnisse, Abwechslung und Erleichterungen erkämpfen. Erst jenseits dieser Pflichtarbeit sind sie aber frei, und so entsteht der neue Mensch in einem konvergierenden Prozess von beiden Seiten her – von der Pflichtarbeit und der freien Tätigkeit aus.

Vergleicht zur einschlägigen philosophischen und kulturwissenschaftlichen Diskussion bitte dieses kleine Buch: Johan Huizinga, Das Spielelement der Kultur. Spieltheorien nach Johan Huizinga von Georges Bataille, Roger Caillois und Eric Voegelin, hrsg. von Kurt Ebeling, Berlin: Matthes & Seitz, 2014. ‒ 167 S., ISBN 978-3-88221-569-4, 12,80 €, https://www.matthes-seitz-berlin.de/buch/das-spielelement-der-kultur.html.

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