„Vor allem was für die lesenden Arbeiter*innen“

Foto: Antonio Marín Segovia, Carlos Marx te reactiva el cerebro, CC BY-NC-ND 2.0

TEILEN
130. Geburtstag von Gramsci

„Vor allem was für die lesenden Arbeiter*innen“

Von Thomas Goes | 22.01.2021

Der Mitgründer der Kommunistischen Partei Italiens (PCI) Antonio Gramsci hätte heute seinen 130. Geburtstag gefeiert. Inzwischen wird er viel zu selten gelesen, findet unser Autor – dabei helfen seine Werke nicht nur beim Verständnis unserer Gesellschaft, sondern auch auf der Suche nach Zukunftsvisionen.

Am 22. Januar wäre Antonio Gramsci 130 Jahre alt geworden, Mitbegründer der Partito Comunista Italiano (PCI), militanter Intellektueller, Antifaschist. Einer der Klassiker, die wir uns aneignen müssen, immer wieder, wenn wir weiterkommen wollen. Für mich jedenfalls war die Entdeckung des „Gramscianismus“ (wenns sowas überhaupt gibt) jedenfalls ziemlich wichtig.

Als ich mit 20 an die Uni gekommen bin, war ich lebensweltlich schon ziemlich links, aber ein theoretisches Fundament hatte ich nicht und war ganz schön wirr (noch wirrer als heute). Ich lief von einer linken Gruppe zur anderen (angefangen bei der Grünen linken Liste, dann zu einer Gruppe namens Taubenschlag und schließlich zur Autonomen Liste) und dachte dann schließlich „Danke nein“. Wenn ich mich richtig entsinne, habe ich dann mit Bastian Sanders zusammen eine PDS-nahe Hochschulgruppe gegründet.

Aha, was schreibt der jetzt hier Memoiren, was hat das mit Gramsci zu tun? Erstmal nicht unmittelbar was, und dann doch. Ich kam aus einer Arbeiterfamilie an die Uni und fand die linksgrünen und alternativen Gruppen ziemlich spooky, wenn auch total nett und für den Freizeitumgang sehr geeignet. Im Kontakt mit Leuten, die ich im Umfeld der PDS, aber der Hochschulgruppe kennenlernte, stieß ich dann auf die kommunistischen Traditionsbezüge. Ich erinnere mich noch, wie mir der Ratsherr der PDS (Hans Henning Adler) damals zuraunte, „unser Lehrer Abendroth“ hätte das doch … Ratlos in die Bibliothek, wer war das gleich noch. Okay, Abendroth. Das war schon viel. Und dann immer wieder dieser Gramsci, eben so versatzstückhaft. Ich glaube, dass es Bastian war, der immer so Poesiealbenzitate von Gramsci brachte. Klang gut, also auch angefangen nachzulesen. In der Seminarwelt an der Uni kam das natürlich nicht vor, Gramsci höchstens als Fußnote zu irgendeinem Text über Texte über Texte über Postmoderne. Erschlossen habe ich mir Gramsci über die Sekundärliteratur, also ins Deutsche übersetzte Sachen und über Sabine Kebir, natürlich über „Das Argument“. Das hat für mich in Oldenburg null Unterschied gemacht. In den Gefängnisheften habe ich dann immer wieder gelesen, aber auch die früheren Schriften, die zum Teil bei Dietz und Suhrkamp erschienen sind.

Ich erzähle dies nicht, um zu erzählen, was ich so alles gelesen habe. Sondern weil mir Gramsci wirklich geholfen hat, besser zu verstehen, was passiert. Wo ich herkam und wieso es dort so war, wie es war (Klassenkultur), was das mit Klassen- und Klassenherrschaft (Hegemonie) zu tun hat, was eine erweiterte Aufgabenstellung innerhalb einer komplex strukturierten Gesellschaft sein kann für eine Partei (überhaupt: warum es immer noch Partei braucht, da waren meine linksradikalen Freund*innen ja ganz anderer Meinung), wieso Hegemonie von links etwas damit zu tun hat, dass Arbeiter*innen politisch zu führenden Kräften werden müssen; warum Führung nichts Militärisches sein muss etc.

Graffiti mit Gesicht von Gramsci. Foto: Riccardo Cuppini, Proletariat, CC BY-NC-ND 2.0

Mir ist das damals gar nicht so bewusst gewesen, aber wenn ich heute politisch denke und argumentiere, dann in der Regel (ausgesprochen oder nicht) mit Begriffen und Orientierungen, die ich meine (immer ganz sicher bin ich mir dann auch nicht) von Gramsci so zu haben. Z.B. die Aufgabe, ein Klassenbündnis herauszuarbeiten, die Vorstellung, dass sowas etwas mit Inhalten und Forderungen zu tun hat, aber eben auch mit der großen sozial-moralischen Reform, eine Vision davon, dass unsere neue Welt auf anderen ethischen Prinzipien beruhen wird. Oder die Vorstellung, dass die Linke zwingend national und popular sein muss, nicht im nationalbesoffenen Sinne, sondern dass sie an die nationale Geschichte der Kämpfe anknüpfen muss und so weiter…. Für mich selbst, also universitätsfremder Student, war Gramsci auch in der Sinnstiftung wichtig. Was mache ich da jetzt eigentlich an der Uni und nach der Uni?
Immerhin spielen Intellektuelle (der organische Intellektuelle vs. der traditionelle Intellektuelle) ja eine wichtige Rolle für Gramsci, wenngleich der organische Intellektuelle in meinem Verständnis kein Akademiker ist, sondern entweder sich intellektuell und politisch weiterbildende Arbeiter*innenintellektuelle oder akademisch Qualifizierte, die sich organisch mit der wirklichen Bewegung der Arbeiter*innen verbinden, ob nun Gewerkschaften, Kulturorganisationen oder, oder, oder (ich weiß, schon allein über dieses Verständnis kann man lange streiten). Das hat mir Mut gemacht und ich habe – glaube ich, jedenfalls, man belügt sich im Laufe der Zeit ja auch gerne mal – mich an dieser Vorstellung seither orientiert.

In einem Filmschnipsel über Gramsci hörte ich dann mal den Schauspieler sagen, organische Intellektuelle sollten wie Hühnerkacke sein. Ihre Aufgabe sei es, vor allen Dingen anderen dabei zu helfen, stark und politisch führend zu werden. Keine Ahnung, ob der alte Sarde das je gesagt hat, aber ich fand es einen schönen Merksatz. Ich wollte also später mal organischer Intellektueller werden, könnte man die Rollenfindung zusammenfassen. Und es wäre freilich gut, wenn an den Massenunis diese Schlussfolgerung häufiger gezogen würde.

Keine Ahnung, ob das so gekommen ist. Von Gramsci mitgenommen habe ich jedenfalls die Vorstellung, dass ich als Intellektueller da eine durchaus wichtige Rolle spielen könnte, wenn ich mir immer wieder klar mache (gegen die Berufskrankheiten, die man an der Uni so entwickelt: Geltungssucht, Drang zum Sprechen, Drang zur eigenen „Besonderung“), dass ich eine „dienende Rolle“ spielen muss (nicht: Anti-Intellektualismus etc., im Gegenteil): nämlich z.B. helfen „Arbeiter*innenintellektuelle“ zu stärken (was das 2021 bedeutet, wäre eine eigene Diskussionen). Ich weiß, es gibt ein bisschen einen Gramsci-Kult, einen sehr kleinen, und dann wird ausgeblendet, dass Gramsci in einer Linie steht und es ähnliche Gedanken etc. auch andernorts gibt. Lenin und Gramsci, Gramsci und Bauer z.B. Oder noch besser: Fragen des Alltagslebens von Trotzki (oder Schriften über Kunst) lesen und Gramsci. Ist aber nicht so wichtig gerade. Ich wollte am Tag seines Geburtstags eigentlich nur dafür werben: Gramsci lesen. Es ist nützlich. Meine Erfahrung ist nämlich, dass es außerhalb der Universitätslinken kaum getan wird. Dort werden andere Klassiker gelesen, Gramsci aber nicht. Ich erinnere mich, dass ein Freund mit mal in einem sehr guten Stadtteilladen in Kassel sagte, dieser Gramsci sei doch nur was für Studierte (der und Poulantzas). Ich glaube dagegen: Gramsci ist vor allem was für die lesenden Arbeiter*innen.

Thomas Eilt Goes (* 3. Juni 1980 in Aurich) ist ein deutscher Sozialwissenschaftler und Autor.

Artikel teilen
Tags zum Weiterlesen
Kommentare auf Facebook
Ähnliche Artikel
Zur Startseite