TEILEN
Progress-News: Eine Zeitung verblendet den gesellschaftlichen Zusammenhang

Germanozentrismus in antideutscher Verkleidung

Von Harry Tuttle | 11.12.2005

Es gibt viele Arten, sich von sozialistischer Politik zu verabschieden: Hinwendung zur Sozialdemokratie, zum Liberalismus, zur Esoterik oder schlicht zum Privatleben. Seit einiger Zeit gibt es eine neue Art: die sogenannte antideutsche Bewegung. Sie hat keine breite soziale Basis und dürfte sich kaum zu einer Massenbewegung entwickeln, das gehört zu ihrem Programm. Diese Strömung dominiert jedoch eine Reihe Zeitschriften, die in radikaleren Kreisen der Linken viel gelesen werden (konkret, bahamas, 17°C etc.) und ist dabei, die einzige linke Tageszeitung (junge welt) zugrunde zu richten1.

Sie vereinigt einige der schlechtesten Traditionen der deutschen Linken: Die sektiererische Gewohnheit, den Trennungsstrich zum Feind exakt vor den eigenen Fußspitzen zu ziehen und den Rest der Welt an der Reinheit der eigenen Lehre zu messen. Die elitäre Sichtweise von Menschen als Material für ideologische Planspiele, sowie die Fähigkeit, unbequeme Wahrheiten zu ignorieren und Widersprüche mit der ideologischen Dampfwalze einzuebnen. Außerdem handelt es sich um eine Mogelpackung. „Antinationale Politik ist linksradikale Politik und hat die Rekonstruktion revolutionärer Politik zum Ziel. Sie ist zugleich internationalistische Politik“, wird im Aufrufentwurf für den 8. Mai behauptet“2 . Leider stimmt nichts davon.

Die „antideutsche“ Bewegung leugnet jede Möglichkeit, in der BRD eine größere Zahl von Menschen für revolutionäre Politik gewinnen zu können. Das dürfte die „Rekonstruktion revolutionärer Politik“ beträchtlich erschweren, wäre aber noch keine so ungewöhnliche Haltung in einer ermüdeten Linken. Die „antideutsche“ Bewegung jedoch definiert die „Massen“ als Feind, mit dem es keine Zusammenarbeit geben dürfe: „Wir lehnen (…) jede positive Bezugnahme auf die Bevölkerung und deren „eigentliche“ Interessen ab.“3
 
Die „antideutsche“ Bewegung kennt keine Klassen mehr, sie kennt nur noch Deutsche, von deren „Volksgemeinschaft“ man sich abgrenzen müsse. Sie konstruiert einen deutschen „Volkscharakter“, dessen höchstes Ziel es ist, in der faschistische Nation aufzugehen. Folglich kann der Klassenwiderspruch keine politische Bedeutung haben. Mehr noch: Klassenkampf und Kampf um gesellschaftliche Emanzipation gelten als Kollaboration mit der Nation. Damit und mit jeder Form von Massenpolitik müsse gebrochen werden, vielmehr soll die Linke „die Beziehung des heutigen Deutschland zum NS-Deutschland hierzulande als den zentralen Ausgangspunkt und die Hauptschwierigkeit „fortschrittlicher Politik“ ausmachen4.

Dem deutschen Imperialismus und der deutschen Bevölkerung – aus „antideutscher“ Sicht kann zwischen beidem nicht getrennt werden – wird überhistorisch eine besondere Gefährlichkeit zugeschrieben, die sie qualitativ von anderen imperialistischen Staaten und ihrer Bevölkerung unterscheidet. „Je mehr sich die Deutschen von ihrer Vergangenheit befreit fühlen, desto deutlicher treten Momente eines Wiederholungszwanges zutage. (..) die modifizierte Fortsetzung des Alten“, wobei sich „zentrale Elemente der alten deutschen Reichspolitik neu entfalten und neue Katastrophen vorzubereiten beginnen.“5
 
Diese Einschätzung ist nicht nur falsch. Sie führt bei der „antideutschen“ Bewegung auch zu antiinternationalistischen Schlussfolgerungen. „Im Kampf gegen Deutschland wird es auf lange Sicht keine anderen Verbündeten geben als jene internationale Linke, die in Kenntnis der Vergangenheit die Gegenwart des deutschen Imperialismus zu bekämpfen und dessen Zukunft zu vereiteln sich vorgenommen hat.“6
 
Praktisch bedeutet das, dass alle, die sich den „antideutschen“ ideologischen Vorgaben nicht beugen, der Verdammnis verfallen. So erfolgt unter dem Vorwand der Nationalismus-Kritik eine Entsolidarisierung gegenüber dem kurdischen Befreiungskampf, während Serbien vom Nationalismus-Verbot ausgenommen wird. Das Kriterium dabei ist eben nicht Antinationalismus bzw. das Fehlen von Nationalismus, oder, wie ebenfalls behauptet wird, das Bündnis „mit Linken derjenigen Länder, auf die die deutsche Herrschafts- und Ausbeutungsstrategie heute vorrangig zielt“7 , sondern Übereinstimmung mit den „antideutschen“ Konzepten.

Das ist nicht nur Eurozentrismus, sondern schon Germanozentrismus: am vermeintlichen deutschen Wesen wird die Welt gemessen. Dabei kommt die „ewige Nation“ ziemlich schnell zur Hintertür wieder herein; und ein Teil der germanozentristischen Polemik ist sogar von rassistischen und antiislamischen Vorurteilen durchdrungen.8  Vor allem aber knüpft der Germanozentrismus an die autoritäre Tradition in der Linken an. Jedes Bewusstsein, jedes Interesse für gesellschaftliche Kräfte und Prozesse ist verlorengegangen; Fortschritt ist nur noch als Folge äußeren Zwanges vorstellbar.

Das ist das Gegenteil revolutionärer Politik. Äußerer Zwang kann notwendig sein, aber nur, um bei der Befreiung Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Eine befreite Gesellschaft kann jedoch nicht durch Zwang geschaffen werden. Das zeigte sich auch nach dem 8. Mai 1945. Die Welt konnte von der Nazi-Herrschaft befreit werden, doch die gesellschaftliche Emanzipation wurde schnell wieder gebremst, im Westen wie im Osten.

Der Germanozentrismus dagegen ignoriert den widersprüchlichen Charakter des Zweiten Weltkrieges ebenso wie die Tatsache, dass es sich eben um einen Weltkrieg handelte, der nicht nur aus deutscher Perspektive betrachtet werden darf. Ernest Mandel hat den Zweiten Weltkrieg aus revolutionär-sozialistischer Sicht analysiert. Auf dieses Buch, aus dem ein Kapitel in dieser Broschüre abgedruckt ist, sei hier verwiesen, denn die Auseinandersetzung mit den germanozentristischen Thesen kann im Rahmen dieses Artikels nicht umfassend erfolgen*.


Anmerkungen

Verfasser des Textes: Harry Tuttle. Dieser Artikel aus dem Jahre 1995 ist erstmals erschienen in der Reihe „Die Internationale Theorie“, Heft 9: „Europa und das Ende des  Zweiten Weltkriegs“, herausgegeben vom Revolutionär Sozialistischen Bund / IV. Internationale. Dieses und andere Hefte können bei uns bestellt werden (Anm. RSB-Pdm).

*Das Buch von Ernest Mandel „Der Zweite Weltkrieg“ kann ebenfalls beim RSB bestellt werden (ISBN 3-88 332-137-0) (Anm. RSB-Pdm). 

Die nummerierten Anmerkungen befinden sich am Ende des Artikels (Anm. RSB-Pdm).

{mospagebreak title="Moral Bombing"}

Moral Bombing

Auf Veranstaltungen und Aktionen hat die „antideutsche“ Bewegung unter dem Leitsatz „Keine Träne für Dresden“ ihre vorbehaltlose Unterstützung für den Bombenkrieg gegen die Zivilbevölkerung kundgetan: „Ihre (der westlichen Alliierten, A.d.A.) Maßnahmen gegen Nazi-Deutschland – Stichwort ‚Bomber Harris‚ – sind gegen das Geheul der altneuen Volksgemeinschaft aller Deutschen jedoch uneingeschränkt in Schutz zu nehmen bzw., w
enn überhaupt, nur aus der Perspektive der nationalsozialistischen Opfer (gemeint ist: Opfer des NS, A.d.A.) zu kritisieren, die unter Umständen eher befreit oder gerettet hätten werden können, wenn Churchill Deutschland früher und entschlossener angegriffen hätte.“9
 
Die Bombardierung Dresdens, so Elsässer10  sei militärisch und politisch notwendig gewesen. Er unterschlägt die zweite strategische Option der Westalliierten: die Bombardierung von Industrie, Militär und Infrastruktur. Es ist nicht eindeutig nachweisbar, dass diese Strategie ein schnelleres Ende des Krieges herbeigeführt hätte, die Wahrscheinlichkeit jedoch ist groß. Entscheidend aus revolutionärer Perspektive allerdings ist die Frage der politischen Notwendigkeit.

Elsässer behauptet, dass es „in Nazi-Deutschland keine nennenswerten Widersprüche zwischen Führern und Geführten gab – von individuellen abgesehen.“11  Und im Aufrufentwurf12  heißt es: „In Hitler sahen die VolksgenossInnen ihr Selbst verkörpert (…) Unfähig, sich als Individuen mit ihrer Umwelt zu vermitteln, entledigten sich die Deutschen ab 1933 der Individualität (…) Am Kapitalismus hassten sie nur das, was ihn vom Raubmord unterschied (…) ‚Geld und Geist‚, das Abstrakte (…) Die ökonomische Unvernunft war Programm. Antisemitismus ist der Luxus des Volkes.“

Auschwitz wird damit zum Ausdruck der „deutschen Volkseele“. Das ist finsterster völkischer Mystizismus, und da verwundert es wenig, dass die Germanozentristen auch in der Frage des Krieges faschistische Ideologie wiederkäuen: Im „totalen Krieg“ gibt es keine Zivilbevölkerung mehr. So dachte der faschistische Militärtheoretiker Douhet, dessen Doktrin sich schließlich im Bomber Command durchsetzte.

Sie beruhte auf der Vorstellung, durch Bombardierung der Zivilbevölkerung ließe sich ein Zusammenbruch der „Heimatfront“ erreichen. Was im Ersten Weltkrieg durch einen revolutionären Aufstand geschah, sollte nun im wahrsten Sinne des Wortes von oben erzwungen werden – ein typisches Beispiel für militaristisches Denken, das in der Zivilbevölkerung nur Manövriermasse sehen kann.

In den Kolonialkriegen waren schon vorher Massenvernichtungswaffen gegen ZivilistInnen eingesetzt worden. In Guernica bombardierte die Nazi-Luftwaffe erstmals eine Stadt. Mit der gezielten Bombardierung der deutschen und japanischen Zivilbevölkerurig durch die Westalliierten wurde das Kriegsrecht, das eine solche Strategie verbot (und theoretisch bis heute verbietet), dauerhaft verwässert. Nach Hiroshima wurde die Zivilbevölkerung endgültig zur Geisel der Generäle.
Der Germanozentrismus hat die Doktrin vom notwendigen Krieg gegen die Zivilbevölkerung vollständig übernommen. Elsässer behauptet: „In Italien hatte das moral bombing nachweisbar dazu beigetragen, ‚dass große Gruppen der italienischen Arbeiterschaft im März 1943 offen gegen das faschistische Regime auftraten‚, weil dieses ‚im Hagel der Bomben nicht nur als korrupt sondern auch als machtlos und unfähig dastand.“13
 
Natürlich trug die militärische Schwächung des Regimes dazu bei, dass Widerstand sich offen formieren konnte. Einen ursächlichen Zusammenhang zwischen der Bombardierung der Zivilbevölkerung und der Resistenza herzustellen, kann nur Leuten einfallen, denen gar nicht mehr in den Sinn kommt, dass sich Menschen womöglich aus eigenem Antrieb am Befreiungskampf beteiligen. Leider steht diese Sichtweise symbolisch für die Haltung Elsässers und großer Teile der „antideutschen“ Bewegung zum Befreiungskampf überhaupt.

Moral bombing ist das Gegenteil von revolutionärer Politik, die nie Krieg gegen die Zivilbevölkerung sein kann. Dafür gibt es nicht nur moralische, sondern auch strategische Gründe: Die Menschen sollen sich ja nicht ducken, sondern aufstehen. Der Bombenkrieg gegen ZivilistInnen ist kennzeichnend für autoritär-militaristische Politik, und es ist unsinnig, diese zu rechtfertigen, bloß um eine bequeme Gegenposition zu den offiziösen Gedenkfeiern zu haben.

Revolutionäre Politik weist die völkische Sichtweise zurück, die sowohl Germanozentrismus als auch offiziöse Gedenkfeiern dominiert. Beide Seiten argumentieren aus der Sicht des „Deutschtums“, die einen, um aufzurechnen und die Nazi-Verbrechen zu relativieren, die anderen, um die Bombardierungen als gerechte und noch viel zu geringe Strafe darzustellen. Auch dazu muss das „Deutschtum“ zum Subjekt der Geschichte werden, mehr noch: zum kollektiven Subjekt, das den Tod verdient hat. Widerstand darf es nicht gegeben haben.

Doch auch wenn der Widerstand in Deutschland schwächer war als in den meisten eroberten Staaten, so ist es schlicht falsch zu behaupten, dass „in der Schlussphase des Nationalsozialismus die zerbröckelnde Staatsgewalt nicht mehr notwendig war, um die im Selbstlauf sich in Regimetreue übertreffende Gemeinschaft der Deutschen zu disziplinieren.“14  Sowohl die Nazis als auch ihre deutschnationalen Widersacher vom 20. Juli waren sich der „Volksgemeinschaft“ alles andere als sicher, und auch die Alliierten hatten Sorge vor der sozialen Revolution.

Schlicht unverschämt ist dies: „Geschichtsrevisionistisch ist nicht nur die ‚Auschwitz-Lüge‚, sondern auch die Behauptung, es habe relevanten Widerstand gegen den NS in Deutschland gegeben.“15  Abgesehen davon, dass die Nazis kaum einen solchen Terrorapparat aufgebaut und mehrere Millionen politische Oppositionelle und soziale AbweichlerInnen verfolgt hätten, wenn es mit der „Volksgemeinschaft“ so wunderbar geklappt hätte, fragt man sich wirklich, woher die Germanozentristen die Frechheit nehmen, entscheiden zu wollen, was damals „relevanter Widerstand“ war. Man ist heute wählerisch. Unter den deutschen AntifaschistInnen sollen jetzt alle jene ausgegrenzt werden, die damals keine hinreichend „antideutsche“ Position vertreten haben, mit „Respekt“ allerdings.16

{mospagebreak title="Der deutsche Sonderweg"}
 
Der „deutsche Sonderweg“ und die Absage an die „Massen“

Der Mythos vom einigen Volk, das hinter seinem Führer stand, ist die Grundlage der germanozentristischen Politik, denn die Nazi-Herrschaft wird als höchster Ausdruck der deutschen Volksseele gewertet. Deren Wurzeln nun werden in der Geschichte geortet, und hier wird einmal mehr deutlich, dass die Germanozentristen sich gesellschaftliche Veränderung nur als Folge äußeren Zwanges vorstellen können: „Hat nicht Napoleon sehr erfolgreich bürgerliche Verkehrsformen, Menschenrechte und den zivilisatorischen Mindeststandard des Code Civile auf den Spitzen seiner Bajonette nach ganz Europa exportiert?“17
 
Er hat nicht. Die bürgerliche Revolution ist kein Exportartikel, und die Wirkung der napoleonischen Eroberungen war zumindest zwiespältig. Monarchien und Feudalstaaten wurden erschüttert, zugleich aber diskreditierte die französische Besatzung jene Ideale, die sie zu verbreiten vorgab, eben weil sie eine Besatzungsherrschaft war. Das hat nicht nur in den Territorien des späteren deutschen Reiches, sondern überall zwischen Moskau und Kairo die völkischen gegenüber den demokrati
sch revolutionären Tendenzen im entstehenden Nationalismus gestärkt.

Es überrascht wenig, dass nach Elsässers Ansicht insbesondere Deutschland der demokratischen Nachhilfe von außen bedurfte „Die Durchsetzung der parlamentarischen Demokratie, die Zerschlagung vorbürgerlicher Autoritätsstrukturen und der sie tragenden junkerlich-militaristischen Eliten wurde durch den Sieg der Alliierten in den beiden Weltkriegen durchgesetzt oder auf Grundlage dieser Siege verordnet.“18  Bezüglich des Ersten Weltkrieges ist das eine haarsträubende Geschichtsfälschung. Die revolutionäre Entwicklung der Jahre 1918/19 passt nicht ins Deutschland-Bild Elsässers, folglich kann es sie nicht gegeben haben.
 
Nach germanozentristischer Ansicht wollte sich in Deutschland das Proletariat in die Volksgemeinschaft integrieren, wollte im Staat aufgehen, „um dessen bloße Ausgestaltung zum ‚Volksstaat’ die ArbeiterInnenbewegung rang, als Sachwalter von Kapital und Arbeit zugleich.“19  Die ArbeiterInnenbewegung so auf die rechte Sozialdemokratie zu reduzieren ist auch eine Art von Geschichtsrevisionismus.

Die „antideutsche“ Ideologie endet so in ihrer eigenen Version der „ewigen Nation“, denn diese „innere Struktur der Volksgemeinschaft blieb erhalten, das Kollektiv, das keinerlei individuelle Verantwortlichkeit kennt und daher weder Rationalität noch Zufriedenheit, projiziert die Zuständigkeit fürs eigene Befinden nach außen, zu den halluzinierten Feinden, derer es genug gab: Kommunismus, Terrorismus und Mafia z.B. (…) Wer hier Politik machen wollte, musste auf diese Form der Vergesellschaftung zurückgreifen.“ Nach dem Anschluss nun fiel „das letzte Hemmnis des kollektiven Hasses, die alliierte Besetzung“ weg, und die ewig unzufriedenen und ökonomisch nutzlosen Untertanen werden „ihre Nützlichkeit für die Politik daher umso aggressiver (…) unter Beweis zu stellen versuchen (…) – da läßt sich keine Massenorientierung, mehr herstellen, die nicht verbrecherisch wäre.“ 20
 
Das bizarre Weltbild geht vermutlich auf Wolfgang Pohrts pseudowissenschaftliches Elaborat „Der Weg zur inneren Einheit“21  zurück. Es verwurs(ch)tet Versatzstücke verschiedener soziologischer Theorien (unter anderem Elias und Adorno), ohne jedoch eine wirkliche Analyse zu unternehmen. Am Anfang steht der Wille zur Abgrenzung und die Absage an die „Massenpolitik“, Geschichte und Gegenwart werden dann den eigenen Vorurteilen angepasst.

Die germanozentristischen Kriterien für den „deutschen Sonderweg“ nun finden sich auch in anderen westlichen Staaten. Repressiver Antikommunismus, Liquidationspolitik gegen die bewaffnete Linke, Kriminalitätsparanoia, Euthanasiedebatte oder die Rückbesinnung auf die Werte von Kasernenhof und Patriarchat sind ebenso wenig ausschließlich deutsche Probleme wie das Zusammenspiel von Biedermann und Brandstifter; Rassismus und Antisemitismus sind allen Untersuchungen zufolge in Polen oder Frankreich ebenso weit verbreitet wie in der BRD.

Und auch das völkische Prinzip, das die Nationalität als Abstammungsgemeinschaft mythologisiert, taucht selbst in klassischen verfassungspatriotischen Staaten wie Frankreich auf. Dort wird das „Blutrecht“ nicht nur von Le Pens „Front National“ verfochten, sondern auch von renommierten bürgerlichen Politikern wie Chirac. Und auch ohne „Blutrecht“ weiß der rassistische Teil der weißen Bevölkerung recht genau, warum ein Staatsbürger nordafrikanischer Herkunft kein „echter Franzose“ sein kann.

Feststellungen dieser Art relativieren keineswegs Rassismus und Rechtsentwicklung in der BRD, stellen sie jedoch in einen internationalen Zusammenhang. Antirassistische Politik gegen die „Festung Europa“ muss internationalistische Politik sein, der Germanozentrismus dagegen erklärt sie für gänzlich unmöglich. Die Begründung dafür kann schwerlich auf die BRD beschränkt bleiben, denn sie ergibt sich „aus dem Wirkungszusammenhang der sozialen Stellung der Subjekte im kapitalistischen  Konkurrenzkampf mit der Produktivitätsentwicklung des Metropolenkapitalismus auf dem Weltmarkt.“22
 
Soll heißen: solange der Imperialismus den deutschen ArbeiterInnen billige Bananen bietet, werden sie ihn nicht in Frage stellen. „Ernsthafter Antirassismus kann nicht darauf hoffen, die Massen durch den Appell an ihre Interessen zu gewinnen, weil er ihren materiellen Interessen nicht entspricht: Er wird, er muss minoritär sein.“23
 
Seit dem 19. Jahrhundert werden die materiellen Vorteile des Kolonialismus für die europäischen Arbeiter diskutiert; rechte Sozialdemokraten waren damals der Ansicht, dass sie ein Interesse an der Aufrechterhaltung des Kolonialismus hätten. Ihr Blick war allein auf die Krümel gerichtet, die vom Tisch der imperialistischen Bourgeoisie herabfielen. Auf die Idee, gemeinsam mit den kolonisierten Völkern an diesem Tisch Platz zu nehmen, kamen sie nicht. Sie glaubten, was die Kapitalisten ihnen erzählten: es ist nicht genug für alle da.

So denken auch die Germanozentristen, und reihen sich damit in die Front derer ein, die die Welt für einen Kuchen halten, der nur auf diese oder jene Weise aufgeteilt werden kann. Dass ohne Imperialismus und Kapitalismus die Menschen sowohl in den Industriestaaten als auch in der „Dritten Welt“ besser leben könnten, kommt ihnen nicht in den Sinn. Ebenso wenig können sie sich vorstellen, dass Menschen, ArbeiterInnen gar, einen weniger engstirnigen Begriff von sozialen Interessen haben könnten als sie selbst.

„Unsere Kritik geht gegen diejenigen, die sich das Volk schönreden und die Augen davor verschließen, dass jeder antagonistisch betrachtete Politikansatz auf komplettes Unverständnis bis hin zu militanter Ablehnung bei der überwältigenden Mehrheit der hiesigen Bevölkerung (nicht jedoch unbedingt in anderer Teilen der Welt) stößt.“24
 
Hier stoßen wir auf jene Mischung aus Ignoranz und Selbstmitleid, die ebenfalls zu den schlechten Traditionen der deutschen Linken gehört. Man wähnt sich selbst in der schlimmsten aller nur möglichen Welten und sieht sich als Märtyrer in einem heroischen, aber aussichtslosen Kampf, frei nach dem Motto Lord Byrons: „Ein wahrer Gentleman setzt sich nur für eine Sache ein, die von vorneherein verloren ist.“

Natürlich ist es in Miami oder Kabul keineswegs einfacher, für Klassenkampf und soziale Revolution zu agitieren. Es gibt eine Reihe von Ländern, in denen die revolutionäre Linke weniger isoliert ist als hier, aber auch nicht wenige, in denen die Kluft zwischen Massenbewusstsein und revolutionärem Sozialismus noch weit größer ist. Bewusstsein jedoch kann sich ändern, und dafür zu sorgen ist Sache revolutionärer Politik. Der Germanozentrismus dagegen geht von einem nationalen Kollektivbewusstsein aus, das sich selbsttätig durch die Geschichte wälzt – mit Hilfe der deutschen Linken.

{mospagebreak title="Abrechnung mit der Linken"}

Abrechnung mit der Linken

„Ein großer Teil dieser Linken – ob bei Teilen der Autonomen oder der DKP – erklärt sich zwar für antinationalistisch, verhält sich dem massenhaften Nationalismus gegenüber jedoch opportunistisch u
nd kollaboriert auf diese Weise – anstatt für die Opfer des Deutschtums Partei zu ergreifen – mit der Nation. Es geht um die Frage: Entweder links oder deutsch. Entweder willentlicher Anschluss an die Volksgemeinschaft, und sei es auf der Basis von Blütentraum und Illusion, oder willentlicher Bruch mit ihr.“25
 
Der Germanozentrismus übernimmt die in der radikalen Linken schon früher vertretene Mythologisierung des „Bruchs mit der Gesellschaft“: ist dieser Bruch einmal erklärt, so bleibt die Reinheit der Seele gewahrt. Ob diese Erklärung etwas bewirkt oder überhaupt zur Kenntnis genommen wird, ist dann gar nicht mehr so wichtig. Neu ist jedoch, dass dem Klassenwiderspruch in der BRD jede politische Bedeutung abgesprochen wird.

Linke Politik soll sich an der besonderen Gefährlichkeit des deutschen „Volksimperialismus“ orientieren, stattdessen habe die Linke „das vorherrschende Geschichtsbewusstsein (…) übernommen und (…) den Nationalsozialismus über Jahrzehnte hinweg als imperialistisches Gewaltverhältnis ‚normalisiert‚.“ Der Germanozentrismus stellt die Linken in die geschichtsrevisionistische Ecke: „Sie haben selbst dafür gesorgt, dass nicht selten Proteste gegen Imperialismus, Unterdrückung und Ungerechtigkeit instrumentalisiert wurden, um einer Konfrontation mit der Vergangenheit der vorangegangenen deutschen Generation aus dem Wege zu gehen oder um implizit nachzuweisen, dass die Nazis immerhin nicht die einzigen gewesen seien.“26  Ähnlich outet Elsässer „alle Geburtsfehler dieser Linken: die nivellierende Einreihung von Auschwitz unter die Schrecken des Krieges; die fehlende Unterscheidung von Nationalsozialismus und gewöhnlichem Faschismus; die Gleichsetzung von Nazi-Deutschland mit den Feindstimmen, die Verwechslung von Antifaschismus mit Pazifismus, von Pazifismus mit Appeasement*.“27
 
Das meiste davon ist frei erfunden. Weder die 68er-Bewegung noch gar die damals entstehende neue Linke waren pazifistisch. Neben der Rebellion gegen gesellschaftliche Unterdrückung waren Schweigen und Kollaboration der Elterngeneration in der Nazi-Zeit und die Kontinuität faschistischer Strukturen das wichtigste Motiv der 68er-Bewegung.

Oft wurde die bürgerliche Herrschaft in der BRD als faschistisch bezeichnet oder von Faschisierung geredet, wo es um die Verschärfung bürgerlicher Repression ging. Dies geschah jedoch nicht, um die Nazi-Verbrechen zu verharmlosen oder zu relativieren, sondern um die bürgerliche Herrschaft anzugreifen. Es wurde also das Falsche aus den richtigen Gründen gesagt.

Zu Auschwitz hat die sozialistische Linke wenig zu sagen gehabt, und es ist richtig, dass die Klassenanalyse Auschwitz nicht erklären kann. Klassenanalyse kann jedoch erklären, wie jene an die Macht kamen, die Auschwitz wollten, und wie jene an der Macht blieben, die Auschwitz möglich machten. Und das ist für revolutionäre Politik allemal hilfreicher als germanozentristischer Zynismus à la „Antisemitismus ist der Luxus des Volkes“. Auschwitz ist nur aus dem Nazi-Weltbild erklärlich, hier siegte die Ideologie über die ökonomische und militärische Vernunft des deutschen Imperialismus. Die klassische marxistische Methodik stößt hier an Grenzen, der germanozentristische Mystizismus leistet aber noch viel weniger einen Beitrag zur Klärung.

Bei seiner Abrechnung mit der Linken greift der Germanozentrismus in einigen Fällen tatsächliche Fehler und Schwächen der Linken auf, meist aber erfindet er sich seine Linke so, wie er sie braucht. So ist es schlichtweg Unfug zu behaupten, „die Linke“ habe den rassistischen Terror entschuldigt. Revolutionäre Politik bedeutet weder, Rassismus bei den „Massen“ zu entschuldigen, noch, das Proletariat als natürlichen Hort des Guten zu betrachten. Revolutionäre Politik geht von der Notwendigkeit aus, menschliche Verhaltensweisen zu verändern, betont dabei aber die soziale Bedingtheit (nicht Unveränderlichkeit) dieser Verhaltenweisen. Dies geschieht nicht, um beispielsweise Rassismus zu entschuldigen, sondern um Ansätze zur gesellschaftlichen Veränderung zu finden.

Revolutionäre Politik unterstellt aber auch nicht von vornherein niedrige Motive. So sieht der Germanozentrismus beispielsweise die Lichterkettenbewegung als bewusste Eingliederung in die „rassistische Volksgemeinschaft“. Das ist natürlich, vorsichtig ausgedrückt, reine Spekulation. Gesellschaftliche Widersprüche, Ansatzpunkte (nicht Endpunkt) revolutionärer Politik, werden unter den Teppich gekehrt, so als wäre es völlig egal, ob jemand mit einer Kerze an einem See oder mit einem Brandsatz vor einem Flüchtlingslager steht.


Anmerkung

*engl.: Politik der „Beschwichtigung“; angewandt gegenüber außenpolitisch expansionistischen, autoritären Staaten; insbesondere Bezeichnung für die von der britischen Regierung im Jahr 1933-39 praktizierten Zugeständnisse gegenüber Nazi-Deutschland (Anm. RSB-Pdm).

{mospagebreak title=" Die Strategie des deutschen Kapitals"}

Die Strategie des deutschen Kapitals

Nachdem die „Volksgemeinschaft“ hergestellt worden ist, muss der Germanozentrismus, nun auch dem deutschen Imperialismus eine besondere Gefährlichkeit zuordnen, um ihn von anderen Imperialismen qualitativ unterscheiden zu können: „Es gibt innerimperialistisch also nicht nur den Konkurrenzwiderspruch, sondern auch Differenzen in der Methodik der Einflusssicherung. Das trägt dazu bei, dass auch in der Militärpolitik die gemeinsamen Ansätze von Kriegspolitik ausgehöhlt werden zugunsten einer Stärkung des nationalen Elements.“28  Die BRD betreibe „aggressive Außenpolitik nicht mehr nur gegen Osteuropa, sondern neuerdings auch gegen den Westen.“29  Der „deutsche Sonderweg“ habe sich nach 1945, und verstärkt nach 1989, fortgesetzt.

Sein besonderes Kennzeichen ist das völkische Prinzip, das der Germanozentrismus als ideologisches Anliegen auch jenseits wirtschaftlicher Interessen sieht. Nun ist der Kampf gegen den völkischen Nationalismus natürlich notwendig, gegenwärtig insbesondere im Kampf für das Bleiberecht und demokratische Rechte für Nichtdeutsche und gegen die unverschämten Forderungen, die Vertreter des Kohl-Regimes im Namen des „Deutschtums“ an osteuropäische Staaten richten.
Die Schlussfolgerungen des Germanozentrismus allerdings sind falsch. Die Benutzung außerhalb der Staatsgrenzen lebender BürgerInnen bzw. solcher Menschen, die ethnisch eingemeindet werden, als Legitimation für Intervention und Krieg gibt es in so verschiedenen Ländern wie USA, Türkei, Russland und Irak. Auch diese Politik muss also internationalistisch angegriffen werden.

Unter Berufung auf die „deutschen“ Minderheiten können politische und militärische Interventionen der BRD von Polen bis Kasachstan legitimiert werden. Grenzrevision und Annektion stehen jedoch gewiss nicht auf dem Programm, überhaupt zeigt der deutsche Imperialismus bisher nur mäßiges Interesse an der Erschließung des Ostens. Volkswirtschaftlich betrachtet war der Anschluss der DDR alles andere als ein gutes Geschäft f&uum
l;r die BRD, deren Kapitalvertreter 1989 ja auch keineswegs von nationalistischer Begeisterung erfüllt waren.

Abgesahnt haben sie dann natürlich trotzdem, aber kein klar denkender Kapitalist wird territoriale Ansprüche in Osteuropa stellen. Die gegenwärtige Situation ist viel vorteilhafter: Billiglohnländer, die an der kurzen Leine des IWF gehalten werden können und ihre Märkte offen halten müssen, Osteuropa, mit Einschränkungen selbst die Atommacht Russland, kann jetzt wie die „Dritte Welt“ durch wirtschaftlichen Druck zu politischem Wohlverhalten erpresst werden.

Es gibt jedoch keinen Beleg dafür, dass das Kohl-Regime sich in Osteuropa übermäßige politische Verantwortung aufladen will, noch dazu im Alleingang. Ebenso wenig gibt es Anzeichen dafür, dass die Westintegration aufgegeben werden soll. Natürlich strebt die BRD innerhalb der Bündnisse nach Dominanz bzw. dem zweiten Platz hinter den USA. Doch in wirtschaftlicher Hinsicht bleiben die westlichen Staaten die wichtigsten Partner und in politischer Hinsicht sind die imperialistischen Staaten zur Einigkeit verdammt, wenn sie ihre oligarchische Herrschaft aufrechterhalten wollen. Solange die gemeinsamen Interessen überwiegen, wird das auch so bleiben.

In militärischer Hinsicht schließlich bleibt die BRD auf die EU-Partner angewiesen, denn nur in enger Zusammenarbeit können die europäischen Staaten eine eigenständige Rüstungsindustrie in Konkurrenz zu den USA erhalten. Die BRD ist keine Atommacht, und die Bundeswehr verfügt auch nicht über jenes Netz von Stützpunkten und Transportsystemen, das die USA, Großbritannien und Frankreich in Jahrzehnten aufgebaut haben und das Auslandseinsätze erst ermöglicht. Ohne die Hilfe der NATO hätte die Bundeswehr im Zweiten Golfkrieg nicht einmal ein paar Raketen in die Türkei schaffen können.

Sicherlich muss sich revolutionäre Politik hierzulande vorrangig gegen den deutschen Imperialismus wenden. Die qualitative Unterscheidung verschiedener Imperialismen führt jedoch schnell dazu, den einen gegen den anderen zu unterstützen, analog zum Zweiten Weltkrieg. Anders als damals gibt es diese qualitativen Unterschiede heute nicht.

Der Germanozentrismus sieht die deutsche Außenpolitik vom nationalen Selbstbestimmungsrecht besessen: „Die Parzellierung Russlands, der Tschechoslowakei und Jugoslawiens ist insofern Bestandteil des deutschen außenpolitischen Programms, das Konflikte und Chaos bewusst in Kauf nimmt, um die eigene Machtposition zu stärken. Der Separatismus wird angeheizt“30  – eine etwas eigenwillige Interpretation der deutschen Tschetschenien- und Kurdistan-Politik.

Die besondere Gefährlichkeit des deutschen Imperialismus wird meist aus dem Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien abgeleitet. Der Germanozentrismus konstruiert hier ohne große Rücksicht auf die Tatsachen eine historische Kontinuität nicht nur bei den imperialistischen Staaten, sondern auch bei den ethnischen Gruppen. Das rechtspopulistische serbische Regime mutiert so zum Träger des Fortschritts, während Kroaten und Bosnier der Fortsetzung einer historischen Kollaboration mit den „Mittelmächten“, vor allem Deutschland, beschuldigt werden.

Um dieses Bild nicht zu trüben, muss der serbische Nationalismus mitsamt seinen religiösen und völkischen Bezügen konsequent totgeschwiegen werden. Stattdessen muss der Nationalismus – oder besser noch: der Islamismus, dessen Aktien an der aktuellen Feindbildbörse noch höher stehen – ausschließlich dort gefunden werden, wo er aus germanozentristischer Sicht zu sein hat: in Kroatien, und mehr noch in Bosnien.

Nationalismus und Islamismus in Bosnien sollen hier weder geleugnet noch beschönigt werden. Tatsache bleibt jedoch, dass großserbischer Nationalismus am Beginn der jugoslawischen Krise stand. Die brutale Unterdrückung im Kosovo gab das Startsignal für den Zerfall Jugoslawiens und war für den Ausbruch des Bürgerkrieges weit bedeutender als die frühere oder spätere Anerkennung dieser oder jener Teilrepublik durch diesen oder jenen imperialistischen Staat. Bosnien hat sich der ethnischen Polarisierung und dem Bürgerkrieg solange widersetzt, wie es irgend möglich war, und noch heute ist der aggressive völkische Nationalismus dort schwächer als in Kroatien oder Serbien, und auch der Islamismus wird nur von einer Minderheit vertreten.

Eine andere Einschätzung der jugoslawischen Frage ist natürlich legitim, sie sollte sich allerdings auf mehr stützen können als auf jene Aneinanderreihungen von Zitaten aus den reaktionärsten Postillen der deutschen Bourgeoisie, die im Germanozentrismus die politische Analyse ersetzt. Nicht legitim ist es jedoch, wenn unter dem antinationalen Deckmantel aggressiver Nationalismus unterstützt und mit geschichtsrevisionistischen Thesen Propaganda gegen die muslimischen BosnierInnen betrieben wird.

Und eben dies tut Elsässer in seinem Artikel „Die islamische Karte“31 . Zunächst gibt er sich alle Mühe, die bosnischen Muslime zu einer „Ausbeuterschicht des Osmanischen Reiches“ zu stilisieren: „Für ihren Abfall vom Christentum wurden sie zu adeligen Landbesitzern erhoben und von der Kopfsteuer befreit.“32  Es ist natürlich purer Unsinn, dass der Übertritt zum Islam genügte, um in den Adelsstand erhoben zu werden (den das Osmanische Reich in seiner europäischen Form übrigens gar nicht kannte).

Elsässer behauptet sodann bezüglich der islamischen SS-Divisionen, „dass sich Moslems in einer Weise als Schlächter betätigten, die selbst den Nazis ungelegen war“33 ; als Beleg zitiert er ausführlich den Bericht eines „Gewährsmannes“ der deutschen Generalität. Die SS-Kriegsverbrechen auf nichtdeutsche SS-Einheiten abzuschieben, gehört zu den beliebtesten Strategien des Geschichtsrevisionismus. Wer diese Propaganda wiederkäut und glaubt, sie mit Zitaten aus einer Nazi-Quelle belegt zu haben, zeigt, wie weit er bereit ist zu gehen, wenn er nur seine Vorurteile bestätigt findet.

Mit solchen Mitteln wird die historische Kontinuität der „Völker“ konstruiert, die dann die heutigen Konflikte „erklärt“. Ausdrücklich lobt Elsässer die griechische Handelsblockade gegen Mazedonien und die Nichtanerkennung dieses Staates. Dass jede Blockade die Bevölkerung aufgrund ihrer nationalen Zugehörigkeit zur Geisel macht, dass hinter der griechischen Politik ein bornierter und zumindest potentiell expansionistischer Nationalismus steht – kein Problem für den „Antinationalisten“ Elsässer.

Konsequent unwillig, die gesellschaftlichen Kräfte zu analysieren und die wirklich antinationalistischen Kräfte zu unterstützen, produziert der Germanozentrismus auch hier völkischen Mystizismus, ein spiegelverkehrtes Bild der antiserbischen Propaganda in der reaktionären Presse.

Die entscheidende Differenz zwischen Germanozentrismus und revolutionärer Politik liegt nicht in dieser oder jener Einschätzung, sondern im Politikverständnis und Menschenbild. Der Germanozentrismus huldigt einem autoritär-militaristischen Weltbild, das stalinistisch wäre, wenn es sich noch auf den Sozialismus beziehen würde. Doch Utopien, überhaupt positive politische Ziele werden nicht mehr formuliert.

Revolutionäre Politik muss sich der Tatsache stellen, dass die Mehrzahl der Menschen nicht revolutionär denkt und deshalb „rechts abgeholt&ldquo
; werden muss. Damit ist wohlgemerkt nicht gemeint, ihnen rechts Gesellschaft zu leisten. Die „Massen“ aber müssen schon angesprochen werden, wenn gesellschaftliche Veränderung das Ziel sein soll. Eine Erfolgsgarantie gibt es dabei nicht, aber es ist nichts als Selbstmitleid und Bequemlichkeit, die Möglichkeit gesellschaftlichen Fortschritts von vorneherein auszuschließen.

Der Germanozentrismus kommt zu seiner eigenen Version völkischen Denkens und ist deshalb unfähig, die tatsächliche Kontinuität faschistischer Strukturen herauszuarbeiten. Dieses Denken wird dann gleich auf die ganze Welt übertragen. Da es keine Individuen und Klassen kennt, sondern nur in historischer Kontinuität handelnde „Völker“, kennt es auch keine Zivilbevölkerung und keine Menschenrechte. Nicht allein die Deutschen der Nazi-Zeit, sondern ebenso die BosnierInnen oder AfghanInnen unserer Tage werden zum Abschuss freigegeben, wenn sie sich dem germanozentristisch definierten „Fortschritt“ verweigern. Das ist gewiss nicht die Art von Lehre, die SozialistInnen aus dem 8. Mai ziehen sollten.

Die Auseinandersetzung mit dem Germanozentrismus wird durch dessen völlig willkürliche „Beweisführung“, die bis zur bewussten Fälschung geht, nicht eben erleichtert. Am Anfang steht das Vorurteil, und das ist, ebenso wie der Glaube, immer schwer zu erschüttern. Um so drängender ist die Aufgabe, dem Germanozentrismus eine revolutionär-sozialistische Analyse entgegenzusetzen. Der 8. Mai 1945 darf nicht völkischen Ideologen überlassen werden, auch nicht solchen von „links“.

Anmerkungen:

1 Zitiert wird in diesem Artikel vor allem der Aufrufentwurf für die antinationale und antideutsche Aktion zum 8. Mai 1995, weil dieser eine gewisse Repräsentativität für die „antideutsche“ Szene hat, sowie konkret-Artikel von Jürgen Elsässer, dem extremistischen Wortführer dieser Szene.

2 Aufrufentwurf S.20

3 Ebd., S.19

4 Ebd., S.1

5 Ebd.

6 Ebd., S.4

7 Ebd., S.20

8 Es ist, wie im Laufe dieses Artikels nachgewiesen wird, kein Zufall, dass gerade die Wortführer des Germanozentrismus immer wieder mit rassistischen und antiislamischen Äußerungen (antiislamisch ist hier nicht als religionskritisch zu verstehen, sondern als „linke“ Version eines europäisch-christlichen Überlegenheitsgefühls) auffallen. In der berüchtigten März-Nummer des Golfkriegsjahres 1991 entdeckte Gremliza, die „islamische Gefahr“ und sagte Anschläge auf Atomkraftwerke und Kindergärten voraus, Kollege Pohrt empfahl gleich den Atomschlag gegen Bagdad. Nicht alle folgenden „Ausrutscher“ dieser Art können hier dokumentiert werden; der „Internationalismus“ des Germanozentrismus wird Thema eines gesonderten Artikels in „Avanti“III sein. [Avanti ist die monatlich erscheinende Zeitung des RSB / IV. Internationale. Die Artikel können ggf. eingesehen werden unter www.rsb4.de; Anm. RSB-Pdm]

9 Aufrufentwurf, S.4

10 „Die Dresden-Lügen“, konkret 2/95

11 Ebd., S.13

12 Ebd., S.18

13 konkret 2/95, S.13, Elsässer zitiert hier einen DDR-Historiker

14 Aufrufentwurf S.18. Bemerkenswert ist hier unter anderem die Tatsache, dass Widerstand sich in Milieus formierte, in denen es keine Widerstandstradition gab. So führten die „Edelweißpiraten“ in der Schlussphase des Krieges in Köln und anderen Städten einen Guerillakampf gegen die Nazis.

15 Aufrufentwurf S.20

16 Siehe ak 376, S.17

17 konkret 1/95, S.31; diese Thematik wird auch im Aufrufentwurf angesprochen und in der Zeitschrift bahamas behandelt. Demokratie gilt hier nicht als etwas, das erkämpft wurde, sondern als Gabe weiser Herrscher.

18 konkret 1/95, S.13

19 Aufrufentwurf S.17

20 Ebd., S.18

21 konkret 5, 6 und 7/90. Pohrt versuchte, einem polemischen Essay wissenschaftlichen Anstrich zu geben, indem er ganze 21 zufällig ausgewählte Personen befragte (wobei die Fragen eher Pohrts Vorurteile als soziologische Kriterien wiedergaben) und die Ergebnisse in komplizierten Tabellen präsentierte. Daraus bastelte er dann jenen deutschen „Nationalcharakter“ zusammen, der in das germanozentristische Weltbild einging.

22 Aufrufentwurf S.19

23 Ebd.

24 Ebd., S.20

25 Ebd.

26 Ebd., S. 1/2

27 konkret 2/95, S.14

28 Aufrufentwurf S.7

29 Ebd., S.1

30 Ebd., S.6

31
konkret 4/94

32 Ebd., S.32

33 Ebd., S.33

Artikel teilen
Kommentare auf Facebook
Zur Startseite