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Antwort auf Jakob Schäfer:

Eskalation oder Verhandlungen um jeden Preis – kein Weg, um Putins Krieg gegen die Ukraine zu beenden

Von Wolfgang Weitz | 07.06.2024

Jakob Schäfer beginnt seinen Artikel „Eskalation oder Verhandlungen?“ mit der Feststellung; „Putins Krieg gegen die Ukraine ist Ausdruck imperialistischer Politik, aber eben nicht nur. In der Logik von Großmachtpolitik ist er auch eine Reaktion auf die aggressive Politik des Westens“.

Der erste Satz ist zweifellos korrekt, aber hier fehlt eine Beschreibung oder Charakterisierung der spezifischen imperialistischen Politik Putins, während der zweite Satz so klingt, als ob es sich bei Putins Krieg um eine mehr oder weniger defensive Antwort auf die Politik des Westens handelt. Tatsächlich geht es Putins Russland um die Rückgewinnung des Großmachtstatus, der mit dem Ende der Sowjetunion verloren gegangen ist und dem Putin von allem Anfang an nachtrauerte. Bei seinem Regierungsantritt 1999 übernahm er ein weitgehend deindustrialisiertes Land mit einer durch chaotische Privatisierungen – sie wurden von westlicher Seite maßgeblich unterstützt ‒ gekennzeichneten Wirtschaftsstruktur, das in der kapitalistischen Weltwirtschaft auf die Rolle eines Rohstofflieferanten, hauptsächlich Öl, festgelegt war. Außenpolitisch war Russland mit einem zunehmend unilateral agierenden US/Nato-Imperialismus konfrontiert, der sich weder an internationale Vereinbarungen hielt (Jugoslawienkrieg 1999, Irakkrieg, Afghanistankrieg usw.) noch auf die Erweiterung der Nato um Nationen aus dem früheren Einflussbereich der Sowjetunion verzichtete. In der Folge schlug Putin im Innern den tschetschenischen Aufstand brutal nieder, konsolidierte die russische Wirtschaft – ein steigender Ölpreis verhalf ihm dabei – und zähmte die einheimischen Oligarchen, die sich große Teile des russischen Volksvermögens unter den Nagel gerissen hatten. Sein und der Traum seiner Regierungsclique war/ist die Wiederherstellung der imperialen Größe Russlands, wozu die Eingliederung aller Gebiete der ehemaligen Sowjetunion in der einen oder anderen Form gehörte/gehört. Dazu zählt insbesondere die Ukraine, der Putin schon 2007/2008 das Recht absprach, ein eigenständiger Staat zu sein.

2011/2012 war durch massive Proteste gegen Wahlfälschungen angesichts von Putins Wiederwahl zum Präsidenten gekennzeichnet. 2013/2014 kam es zum „Maidan“ in der Ukraine; der dortige Regierungschef wurde verjagt. Es war ein Volksaufstand gegen Korruption und Repression, der von einer anderen als der vorher regierenden Oligarchen-Fraktion gekapert wurde. Die Furcht vor ähnlichen Entwicklungen in Russland und die Überzeugung, dass keine russlandfreundliche Regierung mehr gebildet werden konnte, veranlasste Putin, die Krim zu annektieren – nach einer manipulierten Volksabstimmung und als Rechtfertigung das Beispiel der Unabhängigkeitserklärung Kosovos heranziehend – und die Kräfte in den ukrainischen Oblasten Lugansk und Donezk zu unterstützen, die sich von der Ukraine abspalteten.

Angesichts der Schwäche der Nato nach ihrem Afghanistan-Debakel und ihrer offensichtlichen internen Zerrissenheit entschloss sich Putin, seiner großrussischen Ideologie folgend, zur Invasion der Ukraine.

Mit anderen Worten: die aggressive imperialistische Politik des Westens befeuerte einen großrussischen Nationalismus, der der Hintergrund für die Entscheidung war, die Ukraine anzugreifen, als die Gelegenheit günstig schien und es keine andere Möglichkeit gab, die Ukraine im russischen Macht- und Einflussbereich zu halten.

Weiter schreibt Jakob „Die Invasion vom 24. Februar 2022 und die Reaktion der Ukraine boten dem westlichen Imperialismus die Chance einer geopolitischen Schwächung Russlands…“. Aber die „geopolitische Schwächung Russlands“ setzte mit dem Moment der Invasion ein: Schweden und Finnland wollten der Nato beitreten, Deutschlands Kanzler verkündete die „Zeitenwende“, die Rüstungsetats aller Nato-Staaten gingen ohne großen Widerstand in die Höhe, was vorher über Jahre selbst mit „gutem Zureden“ seitens der USA sowie der Militärs und ihrer Lobby nicht möglich war, die Militarisierung der Gesellschaft – das hat Jakob ja beschrieben. Des auf die Invasion folgenden Ukrainekriegs hätte es für die geopolitische Schwächung Russlands nicht mehr bedurft.

Und ja, es war die „Reaktion der Ukraine“, genauer der militärische und nicht-militärische Widerstand der ukrainischen Bevölkerung und des ukrainischen Militärs, die die Invasion scheitern ließ, was weder der westliche Imperialismus noch Russland erwartet hatten. Aus einer „Spezialoperation“ die nach Vorstellung der Invasoren nach kurzer Zeit abgeschlossen sein sollte, wurde ein inzwischen mehr als zweijähriger Krieg.

Der Grund dafür wird von Jakob komplett ignoriert; er sieht nur die Interessen des westlichen Imperialismus und spricht damit der ukrainischen Bevölkerung ihre Rolle als eigenständig handelndes Subjekt ab. Aber die Ursache für den Widerstand der ukrainischen Bevölkerung ist, dass sie weiß, dass sie für die Existenz der Ukraine, für ihre Unabhängigkeit von Russland kämpft – Putin hat ja vor Beginn der Invasion der Ukraine unmissverständlich die Existenzberechtigung abgesprochen, und er ist seither von dieser Position noch keinen Deut abgewichen. Die ukrainische Bevölkerung wird also mitnichten von USA und Nato in einen „Stellvertreterkrieg“ geschickt, in dem sie angeblich im Wesentlichen für diese und deren Ziele kämpft. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass die Ukraine nur noch mit Aussicht auf Erfolg für ihre Unabhängigkeit kämpfen kann, weil sie Waffenlieferungen und andere Hilfe der westlichen Imperialisten erhält. Letztere haben natürlich ihre eigenen Interessen und an der Unabhängigkeit der Ukraine von Russland sind sie – anders als die ukrainische Bevölkerung – nicht existentiell interessiert – Jakob führt ja auch einige Beispiele an, wo die USA bremsend wirkt, wie z. B. im Fall der ukrainischen Angriffe auf russische Raffinerien und Erdöllager.

An anderer Stelle schreibt Jakob aber, es sei „nicht zu erwarten, dass der westliche Imperialismus in nächster Zeit auf eine Beendigung des Krieges drängt“. Aber warum „drängen“? Einem Stellvertreter sagt man, was er zu tun hat. Ist das mit dem „Stellvertreter“ doch nicht so klar? Jakob sollte dem noch die eine oder andere Überlegung widmen.

Das gilt auch für seine wiederholten Hinweise auf die Verhandlungen von März/April 2022, die angeblich vor allem auf Druck Großbritanniens abgebrochen wurden. Der damalige ukrainische Unterhändler nennt einen plausiblen Grund: Mangel an Vertrauen in die Vertragstreue von Putin. Wir erinnern uns: Die russischen Truppen befanden sich zu diesem Zeitpunkt auf einem ziemlich chaotischen Rückzug, und Putin wich keinen Deut von seinen Zielen bezüglich der Ukraine ab. Unter diesen Umständen hätte ein Waffenstillstand wohl nur dazu gedient, dass Russland seine Truppen hätte reorganisieren können, um dann mit neuer Stärke wieder anzugreifen. Mit anderen Worten: die Ukraine hatte einen sehr plausiblen Grund, die Verhandlungen abzubrechen, völlig unabhängig vom wirklichen oder angeblichen Druck des westlichen Imperialismus.

Verhandlungen jetzt? Die russischen Truppen sind auf dem Vormarsch, u. a. weil der westliche Imperialismus nicht genügend Material liefert und wenn es nach Jakob ginge, würde gar nichts mehr geliefert. Putin ist nach wie vor keinen Deut von seinen ursprünglichen Zielen abgewichen. Russland würde unter diesen Umständen Verhandlungen aus einer Position der Stärke führen. Und wer sollte denn die Verhandlungen führen? Russland und die Ukraine? Oder doch die Großmächte Russland und die USA, wie es Manuel K. in seinem Artikel „Krieg in der Ukraine: Was tun dagegen und gegen den Militarismus“ vorschlägt? Im letzteren Fall geschähe das über den Kopf der Ukraine hinweg, das wäre eine glatte Negation ihres Rechtes auf Selbstbestimmung.

Und noch ein Wort zur Frage zynischen Verhaltens. Die ukrainische Bevölkerung und die ukrainische Armee haben die russische Invasion gestoppt und mit Hilfe westlicher Waffenlieferungen zurückgedrängt. Wenn jetzt die Lieferung von Waffen und anderem Material gestoppt werden soll, wie Jakob anklingen lässt, dann ermöglicht das Russland, seine Angriffe und die Zerstörungen weitgehend ungehindert fortzusetzen und die Ukraine zu ungünstigen Bedingungen zu Verhandlungen zu zwingen. Handelt nicht derjenige zynisch, der Verhandlungen fordert und ansonsten alles dafür tut, dass sie unter für Russland günstigen Bedingungen stattfinden, während er gleichzeitig der Ukraine den Status eines eigenständig handelnden Subjekts (Stellvertreter, Ukrainer gleich Kanonenfutter für den westlichen Imperialismus) abspricht?

Und es ist sehr wohl möglich, gleichzeitig für Waffenlieferungen an die Ukraine und gegen die Aufrüstungspolitik zu sein und das auch begründet: Ablehnung des Aufrüstungshaushalts, weil er nicht der Unterstützung des Kampfes für Unabhängigkeit der Ukraine zugutekommt, sondern dem Rüstungswettlauf zwischen den imperialistischen Blöcken.

Rodgau, 17. Mai 2024

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