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Innenpolitik

Zwischen Gutschein und Kombilohn

Von Walter Weiss | 01.09.2010

Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Hartz IV-Regelsätzen ist die Bundesregierung unter Zugzwang geraten. Mit einer ganzen Palette von Ausweichmanövern versucht sie, den Konsequenzen zu entgehen.

Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Hartz IV-Regelsätzen ist die Bundesregierung unter Zugzwang geraten. Mit einer ganzen Palette von Ausweichmanövern versucht sie, den Konsequenzen zu entgehen.

Der bisherige Regelsatz für Kinder bis 6 Jahren liegt bei 215 Euro, von 7 bis 13 Jahren bei 251 Euro und ab 14 Jahren bei 287 Euro. Das ist deutlich zu wenig, denn zum Beispiel die Kosten für Bekleidung sind bei Heranwachsenden ein expandierender Faktor. In vorauseilendem Gehorsam folgte die Bundesregierung der Vorgabe des Chefs der „Wirtschaftsweisen“ Wolfgang Franz und ließ eine Debatte über die Erhöhung der Regelsätze für Kinder erst gar nicht aufkommen.
Die Gutscheindebatte
Das erste Zauberwort hieß Gutscheine. Dabei stehen die Eltern von Langzeiterwerbslosen unter dem Generalverdacht, das zusätzliche Geld in Zigaretten anzulegen oder in der Eckkneipe zu verjubeln. Die ohnehin stigmatisierten Arbeitslosen sollten sich nun dem entwürdigenden Vorlegen von Gutscheinen zum Beispiel beim Erwerb eines Schulranzens aussetzen.
Diese diskriminierende Praxis stieß aber bei der CSU und der bayrischen Sozialministerin Christine Haderthauer auf breite Ablehnung. Um das Verfahren zu anonymisieren, präsentierte das Haus von der Leyen eine neue Variante: das Chipsystem. Allerdings vorerst nur für Kinder, deren Eltern das Arbeitslosengeld 2 beziehen, die mühelos in ihrer sozialen Misere identifizierbar sind. Der diskriminierende Charakter bleibt also erhalten! Eine Infrastruktur, um das System umzusetzen, ist weit und breit nicht in Sicht.

Die Erfahrung mit der Familien- und Bonuskarte in Stuttgart zeigt, dass das Angebot kaum akzeptiert wird. Sportvereine wurden nur zu 8,4 % in Anspruch genommen und auf Musikschulen entfielen kümmerliche 0,25 %. In Gemeinden ohne Sozialticket kommen auf die Betroffenen zusätzliche Fahrkosten dazu bzw. die betreffenden Einrichtungen existieren überhaupt nicht oder sind dem Sparzwang zum Opfer gefallen.

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts wird von den zahlreichen Jurist­Innen in Politik und Wirtschaft bewusst fehlinterpretiert. Das Gericht rügt nachdrücklich den Staat und nicht die Eltern, weil er das soziokulturelle Existenzminimum der Jüngeren nicht gewährleistet. Die zynische Logik verweigert Kindern Geld für Bildung, da den erwerbslosen Eltern auch kein Euro zusteht.
Manipulierte Zahlen
In unserem Artikel „Die Büchse der Pandora“ (Avanti März 2010) haben wir auf die manipulierten Zahlen in der Arbeitsmarktpolitik hingewiesen. Unverfroren wird diese Praxis fortgesetzt. Obwohl Expert­Innen im Gefolge des BVG-Urteils einen milliardenschweren Aufwand erwarten, sind ganze 480 Millionen Euro oder 23 Euro monatlich für die fast 1,8 Millionen Betroffenen anvisiert. Erinnern wir uns: Die vorläufige Rettung und de facto Verstaatlichung der Hypo Real Estate Bank verschlang 100 Milliarden Euro, vom Rettungsschirm für die Banken und die flankierenden Maßnahmen im Rahmen der Europäischen Union ganz zu schweigen. Und gleichzeitig spart der bürgerliche Staat satte 400 Millionen Euro, da ALG 2-Bezieher­Innen das Elterngeld gestrichen wird.
Nur am Rande sei erwähnt, dass die ganze Praxis in eklatantem Widerspruch zur Verfassung steht, da sie die Menschenwürde verletzt, die freie Entfaltung der Persönlichkeit einschränkt, die gesetzliche Gleichstellung unterläuft und in das natürliche Recht der Eltern zur Pflege und Erziehung der Kinder eingreift.

Der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Schneider, kommentiert lapidar, Berlin könne gar nicht beurteilen, was 1,8 Millionen Kinder benötigen (SR online, 17.08.2010). Und um sich aus der Verantwortung weiter zurückzuziehen, sollen Stiftungen und Private Mittel zur Förderung der jungen Generation bereitstellen. Weitere Lasten werden auf die Länder abgewälzt und werden die finanziell maroden Kommunen an den Rand des Kollaps bringen.
Letztlich wird der Armutssektor verstärkt privatisiert wie die expandierenden Tafeln und Kleiderkammern zeigen!
Kombilohn – eine interessante Zahl
Die Zahl der sogenannten Aufstocker­Innen, also von Menschen, die durch ihre Arbeit nicht einmal das Niveau des ALG 2 erreichen, ist zwischenzeitlich auf 1,4 Millionen Menschen angewachsen. Nicht selten arbeiten sie acht bis zwölf Stunden am Tag. Ihr Einkommen liegt unter dem bis 2004 geltenden Sozialhilfesatz, der real höher war als das ALG 2, da die Sachleistungen weitgehend entfallen sind. Nun meldet der SAT.1-Text unter Berufung auf die Frankfurter Rundschau am 12.08.2010, dass die Aufstockung der Bezüge dieser Menschen seit 2005 mit 50 Milliarden Euro zu Buche schlägt. Und da die Aufwendungen für die Agenda 2010 mehr als doppelt so hoch ausfallen wie veranschlagt, ist das ganze Projekt ein Geschenk an die kapitalistische Klasse, das im Wesentlichen von der Arbeiter­­Innenklasse finanziert wird. Und wenn die „Lazarusschichten des Proletariats“ (Karl Marx) u. a. über die Lohnsteuer der „normal verdienenden Arbeiter­Innenklasse“ alimentiert werden, wirft das ein bezeichnendes Licht auf die politischen Kräfteverhältnisse in der Klassengesellschaft.
Notwendige Debatte
„Wir brauchen eine Generaldebatte über Hartz IV, da die Hartz-IV-Reformen wesentliche Ursache für Armut sind“, sage Ver.di-Vorstandsmitglied Elke Hannack. Ein Gesinnungswandel? Immerhin war die gleiche Gewerkschaft in der Hartz-Kommission vertreten. Gefordert wird ein Regelsatz von 435 Euro und liegt damit nur etwas über den 420 Euro, die Sozialverbände und die Grünen für nötig erachten. Trotzdem sollte mensch diese Forderung in der Tendenz unterstützen und die Diskussion verstärkt in die Gewerkschaften hineintragen, um in Richtung auf die 500 Euro-Forderung aus der sozialen Bewegung zu orientieren.
Angesichts der „Aufstocker­Innen“ und zahlreicher weiterer prekärer Beschäftigungsverhält­nisse ist der Hinweis auf das Lohnabstandsgebot der blanke Hohn. Nun ist der Regelsatz seit 2005 von 345 Euro auf 359 Euro, d. h. um 4 %, gestiegen, während die Lebenshaltungskosten um mehr als das Doppelte auf 8,4 % gestiegen sind. Die Armutsspirale geht bei der Höhe der Transferleistungen nach unten. Die aktuelle Armut ist nach den Worten des Sozialwissenschaftlers Christoph Spehr ein „Klassenprojekt von oben“.

Die Antwort von unten kann nur durch eine Klassenanalyse, die diesen Namen verdient, in Kombination mit einer Strategie der Übergangsforderungen – und wir wiederholen uns bewusst –, die auf der Höhe der Zeit ist, entwickelt werden. Die gesamte Linke muss ihre bisherigen Ansätze und Praxis einer radikalen und kompromisslosen Überprüfung unterziehen. Wäre das Resultat – wir greifen einen Begriff aus Italien auf – eine antagonistische Linke, die nicht systemkonform u
nd die interventionsfähig wäre, könnte dies die Kräfteverhältnisse zugunsten der Ausgebeuteten und Unterdrückten tiefgreifend verändern.

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