TEILEN
Länder

Zur Rolle des Reformismus in Griechenland

Von Andreas Kloke | 01.12.2011

Einige Bemerkungen zur Situation der griechischen Linken und zu W. Wetzels Artikel „Ist Griechenland am Ende…?“, am 6. November 2011 auf scharf-links.de veröffentlicht.

Einige Bemerkungen zur Situation der griechischen Linken und zu W. Wetzels Artikel „Ist Griechenland am Ende…?“, am 6. November 2011 auf scharf-links.de veröffentlicht.

Es ist kaum zu bestreiten, dass es einen großen Bedarf gibt, die deutsche und internationale linke, sys­temkritische und antikapitalistische Öffentlichkeit mit Informationen und Berichten über die Entwicklungen in Griechenland zu versorgen. Dieses Land bewegt sich seit zwei Jahren auf besondere und merkwürdige Art mit an der Spitze der weltweiten Klassenauseinandersetzungen. In diesem Sinn ist jeder Beitrag zu begrüßen, der sich im deutschsprachigen Raum mit den – in der Tat schwerwiegenden und komplizierten – Problemen des sozialen Widerstands und der griechischen Linken auseinandersetzt. Der Artikel von W. Wetzel „Ist Griechenland am Ende…?“, der eine ganze Reihe von Behauptungen und Problemstellungen aufstellt, enthält aber derart viele Ungenauigkeiten und fragwürdige Aussagen, dass einige Richtigstellungen angebracht erscheinen.

Der Autor fragt sich zu Recht, was „eine Alternative wäre“, wenn Wah­len „an der Machtlosigkeit (des gesellschaftlichen Widerstands) nichts ändern würden.“ Es fällt allerdings auf, dass sich seine weiteren Ausführungen praktisch auf die KPG (KKE) und ihre Gewerkschaftsformation PAME einerseits und auf das Spektrum autonom-anarchistischer Gruppen andererseits beschränken. Es stimmt, dass diese beiden entgegengesetzten Gruppierungen der griechischen Linken am 20.10. eine, wenn auch im negativen Sinn, zentrale Rolle gespielt haben, da der massenhafte Protest aufgrund der Schlägereien und Ausschreitungen, für die der „black block“ die Hauptverantwortung trug, vorzeitig und ergebnislos abgebrochen wurde. Allerdings hat auch der PAME-Block auf Unbeteiligte und Demonstranten eingeprügelt.

Es ist schade, dass der Artikel im Zusammenhang mit diesen Ereignissen kritiklos eine ellenlange Erklärung der „Pressestelle des ZK der KKE“ übernimmt und sich so mit ihr identifiziert. Diese Erklärung enthält vor allem die unwahre Behauptung, der Tod des Gewerkschafters und PAME-Mitglieds Dimitris Kotzaridis sei auf den Angriff „anarchofaschistischer Gruppierungen“ (KKE-Jargon) mit Molotowcocktails etc. zurückzuführen. Dazu ist zu bemerken, dass Kotzaridis während der Ereignisse zwar von einem Stein getroffen wurde, sein Tod im Krankenhaus, in das er eingeliefert wurde, aber erwiesenermaßen nicht durch diese Verletzung verursacht wurde. Die Todesursache ist noch nicht restlos geklärt, aber sehr wahrscheinlich ist, dass die Chemikalien, mit denen die Polizei den Syntagma-Platz wieder einmal eingenebelt hatte, in diesem Fall tödliche Auswirkungen hatten. Es handelt sich hier um ein nicht unbedeutendes Detail: Wird der Tod von Kotzaridis den „anarchofaschistischen Gruppierungen“ angelastet oder müssen die Repressionskräfte des bürgerlichen Staates dafür verantwortlich gemacht werden (wofür die Indizien sprechen)?
Das Problem des Reformismus
Die KKE-Führung hat sich für die erste Version entschieden und damit die Rolle bestätigt, die sie am 20.10. insgesamt gespielt hat: die Verteidigung des Parlaments und der Institutionen des bürgerlichen Staates, in Zusammenarbeit mit der Polizei (die sie nicht verheim­licht und auf die sie stolz zu sein scheint) und damit der Regierung, die doch laut KKE und PAME gestürzt werden sollen! Es ist wahr, dass die KKE-Führung diese Funktion als ein Bestandteil der Bewegung selbst ausübt, an deren äußersten rechten, loyalistischen Rand sie die Partei und PAME geführt hat. Das teilweise radikale Wortgeklingel, mit dem die KKE-Führung ihre rechtsgerichtete Praxis begleitet, und das Gerede über die Notwendigkeit der Abschaffung des Kapitalismus (in ferner, ungewisser Zukunft) und des „Sozialismus“ (als dessen Idealbild ihr eine erneuerte stalinistische Diktatur vorschwebt) kann diese Realität nur mühsam verdecken. Dieser eklatante Widerspruch zwischen Wort und Tat ist in der Geschichte der Arbeiterbewegung natürlich absolut nichts Neues und spätestens seit dem Verrat der deutschen sozialdemokratischen Parteiführung vom 4. August 1914 das entscheidende Merkmal reformistischer Parteien. Die Aufrechterhaltung ihres Parteiapparats, aber eben auch die Verteidigung des bestehenden politökonomischen Systems unter (fast) allen Umständen stellt das A und O derartiger Parteiführungen dar. Genau das trifft auch auf die KKE-Führung zu.

Auf der anderen Seite hat man es mit gewaltfixierten Molotow-Cocktail-Werfern zu tun, denen aus anderen Gründen, vor allem aufgrund einer zutiefst antipolitischen Haltung und eines in Wahrheit emanzipatorischen Desinteresses, an der realen Entwicklung einer Arbeiter­Innen- und Massenbewegung nicht gelegen ist. Sie interessiert nicht, ob die Oppositionsbewegung in der Lage wäre, die Regierung und das gesamte verrottete politische System einschließlich des einsturzbereiten griechischen Kapitalismus zu stürzen. Es ist selbstverständlich, dass von diesen in der Tat kriminellen Elementen nichts Positives zu erwarten ist, auch wenn es ein schwerer Fehler wäre, im Stil der KKE-Führung das autonome und anarchistische Spektrum in Bausch und Bogen als „anarchofaschistisch“ zu denunzieren.
Damit fallen aber gewisse Problem- und Fragestellungen des Artikels ins Leere, wie zum Beispiel: „Was hat die Kommunistische Partei/KKE dazu bewogen, lediglich eine symbolische Umzingelung durchzuführen? Warum war es nicht möglich, zwei unterschiedliche Strategien aufeinander abzustimmen?“ Eine Antwort darauf wäre, dass weder die eine noch die andere „Strategie“ in Wirklichkeit irgendetwas mit antikapitalistischem und revolutionärem Kampf zu tun hat, sondern beide „Strategien“ effektive Bremsklötze der Entwicklung der Bewegung und des sozialen Widerstands darstellen.

Was auffällt, ist, dass die eigentlichen Träger/innen der Bewegung, die Hunderttausenden, die am 19.10. auf der Straße demonstrierten und die 100 000, die sich am 20.10. vor dem Parlament versammelten, sowie ihre Intentionen in dem Artikel von W. Wetzel praktisch nicht vorkommen. Es ist vollkommen klar, dass die gewaltige Mehrheit dieser Protestierenden, die von der herrschenden Politik die Nase gestrichen voll haben, weder mit den Molotow-Cocktail-Werfern noch mit den Indoktrinationen der reformistischen Parteien oder sonst irgendwelcher mehr oder weniger antikapitalistischen Organisationen sonderlich viel zu tun hat. Worum es ihnen ging, war der Sturz der Regierung und ihrer Memorandum-Politik sowie die Hoffnung auf eine Alternative, wie unbestimmt diese derzeit auch aussehen mag.
Programmatische, politische, organisatorische Alternative
So sieht es in der Realität aus. Wünschenswert wäre es allerdings, dass diese breiteren Schichten, die sich in einem Politisierungs- und Radikalisierungsprozess befinden, für antikapitalistisch-revolutionäre Ideen gewonnen werden können und der Kampf gegen die Memorandum-Pol
itik eine entsprechende Dynamik entwickelt. Alle objektiven Voraussetzungen dafür sind gegeben und es hat sich schon gezeigt, dass die­se Dynamik den politischen Horizont der reformistischen Parteien KKE und SYN/SYRIZA (SYN ist aus dem Eurokommunismus hervorgegangen) bei Weitem übersteigt. Hier ist es die Aufgabe der antikapitalistisch-revolutionären Linken, deren wichtigste Gruppierung die Allianz ANTARSYA ist, den politischen Träger und in der Perspektive die antikapitalistisch-revolutionäre Partei aufzubauen.

Es ist klar, dass dieser Kampf verschiedene Etappen durchlaufen wird und sich vor allem auf die Bewegung selbst stützen muss, ohne diese in doktrinärer oder anderer Weise zu manipulieren. Denn wenn diese Bewegung ihr Ziel erreichen will, das in nichts anderem als dem Sturz der kapitalistischen Ausbeuterordnung bestehen kann, muss sie vor allem durch und durch basisdemokratisch organisiert und partei- und organisationsübergreifend sein sowie über ein an zentralen Übergangsforderungen orientiertes Programm verfügen. ANTARSYA, eine Allianz verschiedener Organisationen der außerparlamentarischen Linken, hat Ende Oktober einen nationalen Kongress durchgeführt und einen längeren programmatischen Text verabschiedet, der diesem notwendigen programmatischen Rahmen und seiner Perspektive grundsätzlich in ausgezeichneter Weise entspricht. Aber auch hier ist Vorsicht angebracht. Der programmatische Text von ANTARSYA (der es verdient, ins Deutsche und andere Sprachen übersetzt zu werden) ist besser als die politische Praxis einiger Organisationen, die an ANTARSYA beteiligt sind, und vor allem muss ANTARSYA unter Beweis stellen, dass sie als relevanter politischer Faktor in Erscheinung treten kann, woran es bislang gehapert hat.

Sicher kann dem Autor Wetzel nicht angelastet werden, dass er sich an Informationen aus zweiter Hand halten muss. Trotzdem könnte er sich in seinen Einschätzungen mehr Zurückhaltung auferlegen, wenn er über sein Thema nicht so genau Bescheid weiß. Z. B. kam es am 20.10 auf dem Syntagma-Platz nicht „zu Angriffen auf kommunistische Organisationen“, sondern auf den Block von PAME bzw. KKE. Ebenso wenig trifft zu, dass es „starke kommunistische und basisdemokratische Gewerkschaften“ gibt. Nur ganz wenige Einzelgewerkschaften werden von PAME/KKE dominiert, die wichtigste von ihnen ist die Bauarbeitergewerkschaft. PAME und KKE treten aber bei allen Demos in sektiererischer Manier als abgetrennter und eigenständiger Block auf und schwächen damit die Einheit der Bewegung und damit deren Chancen, ihre Ziele gegenüber Kapital und Regierung durchzusetzen. Anders verhält es sich mit den gewerkschaftlichen Basiskomitees, die vor allem seit Winter 2010, als die Memorandum-Politik lanciert wurde, die konsequenteste und am stärksten vorwärtstreibende Kraft bildet. An ihnen sind ANTARSYA, SYN/SYRIZA, andere linke Organisationen und Unorganisierte beteiligt.

Im Übrigen ist ganz unbestreitbar, dass in Griechenland – wie in allen anderen europäischen Ländern auch – die meisten Menschen Lohnabhängige sind, ganz gleich wie hoch ihr Anteil in der Industrieproduktion sein mag. Griechenland ist von seiner ökonomischen und sozialen Entwicklung her schon seit Ende des Ers­ten Weltkriegs „reif“ für die sozialistische Umwandlung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Unter den heutigen Bedingungen sind sie schon überreif, wie gerade die aktuelle Krise in aller Deutlichkeit unter Beweis stellt. Der sozialistische Ausweg aus der Krise kann letztlich natürlich nur ein internationaler und internationalistischer sein, das sei hier nur nebenbei erwähnt.

Eine letzte Bemerkung: Im Artikel steht, dass sich die griechische Linke „in einer bizarren und his­torisch außergewöhnlichen Situation“ befindet. „Der Kapitalismus befindet sich in der schwersten ökonomischen und institutionellen Krise seit 1945, ohne dass die Linke dabei der treibende Faktor war und ist.“ Zu fragen wäre, ob es seit der Zeit der Französischen Revolution jemals eine soziale und schließlich revolutionäre Krise gegeben hat, weil eine sys­temkritische oder revolutionäre Minderheit es so gewollt hat. Natürlich hat es niemals etwas Derartiges gegeben. Es ist immer die Systemkrise selbst, heute die kapitalistische Krise historischen Ausmaßes, durch die die Absurdität der bestehenden Ordnung offenbar wird und die Notwendigkeit der Revolution auf die Tagesordnung gesetzt wird. Ungewöhnlich ist daran nichts. – Dem Autor des Artikels ist zu wünschen, dass er sein Thema eingehender studiert, damit seine Beurteilungen und Schlussfolgerungen in Zukunft treffsicherer ausfallen.

Artikel teilen
Kommentare auf Facebook
Zur Startseite