Die Bundestagswahl hat die bürgerlichen Kräfte gestärkt, die sich in vielen substantiellen Fragen nicht unterscheiden. Die zu SPD und Grünen abgewanderten Wähler*innen der LINKEN haben Illusionen in den Parlamentarismus. Für Sozialist*innen gibt es immerhin Lichtblicke fernab der Bundestagswahl.
Wahlen zu einem bürgerlichen Parlament sind nur bedingt ein Gradmesser für das Ausmaß an kritischem, antikapitalistischem Bewusstsein oder an Kampfbereitschaft der abhängig Beschäftigten. Dennoch geben die Wahlergebnisse ‒ wenn auch leicht verzerrt ‒ den Bewusstseinsstand in der Bevölkerung wieder. Die Verzerrung ist zum Teil den Illusionen in den Parlamentarismus geschuldet und speziell dem Willen, „nützlich“ zu wählen. Im vorliegenden Fall (BTW 2021) konnte deswegen die SPD von der Tatsache profitieren, dass viele Wähler*innen (darunter ein erklecklicher Teil der bisherigen LINKE-Wähler*innen) lieber die SPD gewählt haben als die Partei, mit der sie eigentlich mehr Sympathien verbinden. Allein diese Tatsache belegt, wie stark das Bewusstsein breitester Schichten ‒ bis weit hinein in die Wähler*innenschaft der LINKEN ‒ voller parlamentarischer Illusionen ist.
1. Die bürgerlichen Parteien (von SPD bis AfD) haben insgesamt rund 95% der Stimmen geholt. Sie alle stehen für jeweils eine andere Variante bürgerlicher Politik, zum Teil unterscheiden sie sich letztlich nur in Nuancen. An keiner Stelle ist von der neuen Regierung (ganz gleich welche der beiden realistischen Varianten zum Zug kommen wird) eine substantiell andere Politik zu erwarten. Auch eine „Mitte-Links-Regierung“ wird nicht gegen die Interessen des Kapitals handeln oder Rechte der abhängig Beschäftigten ausbauen oder etwa tatsächlich etwas Wirkungsvolles gegen den Klimawandel in Gang setzen. Im Gegenteil: Scholz‘ Ansehen ist jetzt so groß geworden, dass er, ein Anhänger der Agenda 2010, von seiner Partei kaum gebremst werden wird, wenn die Lasten der Krise auf die abhängig Beschäftigten abgewälzt werden. Auch die Grünen werden hier kein Bollwerk bilden, sind sie doch seit vielen Jahren eine neoliberale Partei. Mehr denn je wird es auf den Widerstand von unten ankommen.
2. Die AfD steht mit ihrer nationalistischen und rassistischen Politik am Rand des bürgerlichen Spektrums, unterscheidet sich aber nicht in ihren Grundauffassungen von dem, was auch die anderen als die Aufgabe bürgerlicher Politik ansehen (für die Festung Europa, für das Abladen der Krisenlasten auf die abhängig Beschäftigten usw.). Sie ist also keine Anti-System-Partei und würde sich lieber heute als morgen in eine Regierung integrieren, aber vorläufig wird sie (noch) nicht gebraucht. Also distanziert man sich erst mal von ihr, nicht nur, um Stimmen zu bekommen, sondern auch um sich – zumindest vorläufig ‒ nicht gegen das Mehrheitsempfinden in der Gesellschaft zu stellen. Sollte sich die AfD spalten und ein Teil (mit Meuthen) sich respektabler gebärden, wird die Sache anders aussehen.
3. Die BTW 2021 war keine Klassenwahl und sie war nur mit großen Abstrichen eine Wahl zwischen einer minimal rechteren und einer minimal linkeren Variante für die Fortführung der bisher für das Kapital so erfolgreichen Politik. Die SPD hatte zwar im Wahlkampf eine Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro versprochen, doch mit einer FDP in der Regierung wird es ihr nicht schwerfallen, die „Nichtdurchsetzbarkeit“ dieses Versprechens zu begründen. Selbst eine Gegenüberstellung von „links“ und „rechts“ bei der Stimmabgabe für die vier Parteien, die sich jetzt um eine Regierungsbildung bemühen, ist nicht wirklich angebracht, bestenfalls trifft dies auf Teile der Wähler*innenschaften von SPD und Grünen zu. Viele SPD-Wähler*innen sind enttäuschte CDU-Wähler*innen. Die Gründe zur Wahl von Scholz sind mannigfaltig, nur sehr bedingt und mit großen Abstrichen sind es klassenpolitische.
4. Dass die Wähler*innenschaft der LINKEN sich fast halbiert hat (u. a. um „nützlich“ zu wählen), ist zum einen Ausdruck des insgesamt geringen Klassenbewusstseins. Der Verlust von mehr als 2 Mio. Stimmen (=ein Rückgang um 47,2%) sagt zum anderen aber auch viel darüber aus, wie wenig die Partei DIE LINKE als eine Klassenkampfpartei wahrgenommen wird. Sie wurde seit eh und je als eine Partei gewählt, die mitregieren will und soll. Wenn die Chancen für einen Wahlsieg der SPD steigen, sinken in den Augen eines Großteils der LINKEN-Wähler*innen die Gründe, die LINKE zu wählen (und damit, die Stimme zu „verschenken“). Selbst eine Stimme für die Grünen erscheint dann nützlicher als die Wahl der LINKEN. Der Anteil derjenigen, die diese Partei trotz ihrer Sozialdemokratisierung (also mit vielen Bauchschmerzen und von einer sozialistischen Position ausgehend) gewählt haben, dürfte deutlich weniger als die Hälfte der Wähler*innenschaft der LINKEN ausmachen.
Somit ist die Partei weder inhaltlich programmatisch und in ihren Aktivitäten noch auf der Ebene ihres Anhangs eine sozialistische Massenpartei. Schlimmer noch: Der Wahlausgang wird den Druck zu einer weiteren Anpassung verstärken, denn der wesentliche und alles entscheidende Bestandteil ihres Profils ist das „Mitregieren-Wollen“. Eine weitere Anpassung wird sich ‒ so ist zu befürchten ‒ schon bei den Koalitionsverhandlungen in Berlin und Meck-Pom zeigen. Die Grundausrichtung des Mitregieren-Wollens steht in totalem Widerspruch zu einer sozialistischen Orientierung im Geiste einer Rosa Luxemburg. Alle Äußerungen der Parteispitze sind jedoch beredter Ausdruck des sozialdemokratischen Charakters dieser Partei. Daran ändern auch die Aktivitäten des linken Flügels der Partei nichts Substantielles.
Da es keine sozialistischen (klassenkämpferischen) Massen gibt, würde ‒ beim heutigen Stand der Klassenkämpfe in der Bundesrepublik ‒ natürlich auch eine klassenkämpferische Partei keine 5 oder gar 10 Prozent der Stimmen bekommen.
5. Auch wenn man die Ergebnisse der anderen linken Organisationen (DKP, MLPD usw.) hinzunimmt, gibt es keinen Anlass, an bestimmten Fakten der aktuellen bundesdeutschen klassenpolitischen Kräfteverhältnisse zu zweifeln. Überzeugte Sozialist*innen und Klassenkämpfer*innen sind eine sehr kleine Minderheit, was eine ganze Zeitlang durch die Stimmenzahlen für die Partei DIE LINKE verdeckt oder auch verdrängt wurde. Diese Realitäten anzuerkennen, ist eine Grundvoraussetzung, um den schwierigen Kampf revolutionärer Sozialist*innen beharrlich fortführen zu können. Das Schielen auf Wahlergebnisse hat in den vergangenen Jahren eh schon zu viele Aktive von den entscheidenden Auseinandersetzungen an der Basis abgelenkt, nämlich von den realen Kämpfen in Betrieb, Gewerkschaft und sozialer Bewegung.
6. Gewisse Lichtblicke gibt es dennoch – wenn auch nicht im unmittelbaren Zusammenhang mit den diesjährigen Bundestagswahlen – und wir sollten sie nicht geringschätzen: Nicht nur hat sich die Klimabewegung mit ihrem Aktionstag vom 24. 9. merkbar zurückgemeldet, auch die Abstimmung in Berlin zur Enteignung der Wohnungskonzerne ist das Ergebnis einer realen Bewegung. Der positive Ausgang des Volksentscheids in Berlin ist zwar nur ein kleiner Schritt, denn noch ist man vom Ziel weit entfernt, aber es dokumentiert klar die Bewusstwerdung eines bedeutenden Teils der Bevölkerung an einer wichtigen Frage, was ohne die intensive Kampagne von annähernd tausend Aktiven nicht möglich gewesen wäre. Gut wäre es allerdings, wenn sich die Bewegung für eine entschädigungslose (bzw. nur symbolisch zu entschädigende) Enteignung stark machen würde. Allerdings hat die „Wahlsiegerin“ bei den Berliner Landtagswahlen kein Hehl daraus gemacht, dass sie nichts von einer Enteignung von „Deutsche Wohnen“ wissen will. So der so: Auf die Bewegung von unten kommt es an. Und schon hier wird sich für die Partei DIE LINKE eine neue Richtungswahl auftun: Soll sie mit der Bewegung kämpfen oder wird sie ‒ wie bei der S-Bahn-Privatisierung – wieder einknicken? Das positivste Beispiel für einen wirkungsvollen Kampf allerdings ist die Tarifrunde der GDL, die bewiesen hat, dass kämpfen sich lohnt. Setzen wir alles daran, dass dies in den anderen Gewerkschaften ausreichend bilanziert wird und entsprechende Schlüsse gezogen werden.
Jakob Schäfer, 28.9.2021