TEILEN
Innenpolitik

Zu den Ergebnissen der „Unabhängigen Historikerkommission“ – Deutsche Legendenbildung

Von Philipp Xanthos | 01.12.2010

Die BRD ist der Nachfolgestaat des nationalsozialistischen Deutschen Reiches. Wenn sich heute herausstellt, dass auch das Auswärtige Amt diese historische Kontinuität verkörpert, kann das nur für die überraschend sein, die an die Legende vom „antifaschistischen Widerstand“ glauben, die das deutsche Bürgertum über sich selbst erzählt. Wie diese Legendenbildung funktioniert, lässt sich beim Auswärtigen Amt allerdings in einmaliger Weise nachvollziehen.

Die BRD ist der Nachfolgestaat des nationalsozialistischen Deutschen Reiches. Wenn sich heute herausstellt, dass auch das Auswärtige Amt diese historische Kontinuität verkörpert, kann das nur für die überraschend sein, die an die Legende vom „antifaschistischen Widerstand“ glauben, die das deutsche Bürgertum über sich selbst erzählt. Wie diese Legendenbildung funktioniert, lässt sich beim Auswärtigen Amt allerdings in einmaliger Weise nachvollziehen.

Bereits der Übergang von „Weimarer Republik“ zu „Drittem Reich“ 1933 war weniger epochal, als viele sich das vorstellen. Die Reichskanzlerschaft Hitlers wurde weder mittels eines Staatsstreichs ermöglicht noch ist sie aus einer parlamentarischen Mehrheit hervorgegangen. Sie wurde am 4. Januar 1933 in der Kölner Villa des Bankiers Freiherr von Schröder ausgehandelt: zwischen Franz von Papen, der selbst Diktator sein wollte, und Hitler, der es wurde. Angebahnt worden war das entscheidende Treffen von einflussreichen Vertretern des Großkapitals. Die Diktatur Hitlers löste dabei nur die Diktatur des Generalfeldmarschalls Hindenburg ab, der seit 1930 mittels Notverordnungen und Präsidialkabinetten regiert hatte. Dies relativiert nicht die Unterschiede zwischen „faschistischem Regime“, „freiheitlicher Demokratie“ und Zwischenformen; z. B. wurden erst im Faschismus die Organisationen der Arbeiter­Innenbewegung vernichtet. Es macht aber deutlich, dass zwischen demokratischem und faschistischem Staat kein revolutionärer Einschnitt liegt, sondern ein fließender Übergang. Beides sind Formen derselben bürgerlichen Herrschaft. Die Institutionen des bürgerlichen Staates bestanden während des Nationalsozialismus selbstredend fort und nach dem Krieg wurden sie – zumindest im Westen – nicht „aus dem Nichts“ neu aufgebaut.
Die Legende
Nach Kriegsende etablierte sich ein Kartell des Schweigens, in dem sich die Nazis gegenseitig deckten, Akten übereinander verschwinden ließen, sich gegenseitig freisprachen usw. Hierbei haben westliche Alliierte fleißig geholfen, Biografien auch des Auswärtigen Amtes reinzuwaschen. Entscheidend dafür war der Antikommunismus als übergreifende Integrations-Ideologie. So wurde etwa Ribbentrops Pressechef Paul Karl Schmidt Autor bei der Zeit. Doch um eine ausreichende Zahl an Nazis wieder in Amt und Würden zu bringen, bedurfte es mehr. Es bedurfte einer Legende. Und die Legende, die man ersann, war beispiellos.
Bereits 1971 berichtete der Spiegel über ein internes Dokument des Ministeriums, in dem es heißt: „Kein anderer Zweig der Reichsverwaltung hat der Gleichschaltung durch den Nationalsozialismus so zähen Widerstand entgegengesetzt wie der Auswärtige Dienst.“ Denn die, die dort arbeiteten, sahen „in ihrer überwiegenden Mehrheit frühzeitig die Gefahren des nationalsozialistischen Machtanspruchs, waren gegenüber dem neuen Regime von Beginn an von Misstrauen erfüllt, und ihr innerer Widerstand war wahrhaftig instinktiv“ (Der Spiegel, 14/1971).

Die Legende, die damals noch als grüner Spross den Schutz der Geheimdiplomatie brauchte, ist inzwischen zu einem stolzen Stamm herangewachsen, in dessen Schatten selbst ein „Alt-68er“, der grüne Außenminister Joseph Fischer, Platz hatte. Erst vor diesem Hintergrund lässt sich nachvollziehen, weshalb ein Historiker wie Norbert Frei heute so viel Aufsehen auf sich zieht mit der an sich völlig banalen These: „Das Auswärtige Amt im Dritten Reich war das Auswärtige Amt des Dritten Reiches“ (Frankfurter Rundschau, 27.10.2010).

Doch eingepflanzt worden war die Legende schon Jahrzehnte früher. Wie der SPD-Abgeordnete Fritz Erler 1952 einem nicht öffentlichen Ausschuss des Bundestags berichtete, waren damals von 75 Ministerialdirektoren, -dirigenten und Referatsleitern des Auswärtigen Amts 49 frühere NSDAP-Mitglieder – rund zwei Drittel also. Zur Amtszeit des Außenministers Ribbentrop (1938-45) lag dieser Anteil nur bei einem Drittel. Der logische Schluss hieraus musste klarerweise lauten: Zur Zeit des Nationalsozialismus war das Auswärtige Amt das reinste Widerstandsnest.

Dennoch hat es ausreichende Dienste geleistet, die deutschen Eroberungskriege diplomatisch vor- und nachzubereiten und ganz Europa mit dem Netz der Judenverfolgung zu überziehen. Als ihm in Jerusalem der Prozess gemacht wurde, sagte Karl Adolf Eichmann, organisatorischer Leiter des Holocaust, aus: „Ich musste stets die Bedenkenlosigkeit des Auswärtigen Amtes einholen, wenn wir ausländische Juden deportieren wollten.“ Allein um die für „jüdisch“ geltenden Menschen aus den besetzten Gebieten und den verbündeten Staaten zu deportieren, bedurfte es der Verhandlungen des Auswärtigen Amts.
„Schmutziges Wasser“
Nach der deutschen Niederlage im Zweiten Weltkrieg, die einen tiefen Einschnitt für das Machtstreben des deutschen Kapitals bedeutete, wurde das Auswärtige Amt 1951 unter Bundeskanzler Adenauer neu aufgebaut. Sein erster Außenminister war er selbst, doch darauf bezog er sich nicht mit dem Satz: „Man schüttet kein schmutziges Wasser aus, wenn man kein sauberes hat.“ Hiermit sollte vielmehr gerechtfertigt werden, dass mit dem Offizier Herbert Blankenhorn ein alter Mitarbeiter des Amtes als sein Stellvertreter eingesetzt wurde, der u. a. 1935-39 Botschaftsattaché in Washington war1. Jedoch: „In der Kloake des AA durfte keiner mitschwimmen, der auch nur in den Verdacht geriet, nicht dreckig genug zu sein“ (junge Welt, 30./31.10.2010). Das bedeutet nichts anderes, als dass Kriegsverbrecher vom Auswärtigen Amt gezielt einbezogen wurden, während man die, die tatsächlich Widerstand geleistet hatten oder dessen auch nur „verdächtig“ waren, aussonderte. Einziges Bedenken zu dieser Zeit war, dass das Ausland nicht durch Nazis an repräsentativen Positionen verschreckt werden sollte. Eine innere Opposition fürchtete man kaum, denn z. B. der KPD hatte man sich 1956 entledigt.

Das schmutzige Wasser wurde auch weiter verwendet, als Willy Brandt (SPD) 1966 Außenminister wurde, allein schon, weil dessen Chef Kiesinger selbst ehemaliges NSDAP-Mitglied war, und zwar von Februar 1933 bis Kriegsende und – seit 1940 – hochrangiger Mitarbeiter im Auswärtigen Amt. Brandt, der später als Bundeskanzler mittels Berufsverboten Kommunist­Innen aus dem öffentlichen Dienst entfernte, gewährte den alten Nazis weiterhin Schutz.
Fischers Kommission
Dass nun Außenminister Fischer (Grüne) 2005 die „Unabhängige Historikerkommission“ damit beauftragte, das
alles „herauszufinden“ (– in Wahrheit, etwa in der DDR, waren diese Zusammenhänge immer bekannt –), war nicht dem hehren Wunsch nach Aufklärung geschuldet, sondern vielmehr eine Reaktion darauf, dass er in seinem Amt auf den erbitterten Widerstand der alten Garde gestoßen war, als er eine kosmetische Korrektur vornehmen wollte. Auslösender Fall war der des verstorbenen Botschafters Franz Krapp. Krapp, seit 1933 in der SS, wurde später Vertreter des deutschen Botschafters bei der NATO, Gesandter in Washington und Botschafter in Tokio. Fischer hatte nun Krapp das „ehrende Gedenken“, wie es üblich gewesen wäre, verweigert, woraufhin 128 Diplomaten eine privat bezahlte Anzeige in der FAZ schalteten. Das allein dürfte deutlich machen, welches Ausmaß die alten Seilschaften bis heute einnehmen.

Der Zusammenprall Fischers mit seinen Untergebenen markiert aber auch einen Wendepunkt. Denn dieser Schritt der Reinwaschung war notwendig dafür, dass nun deutsche Angriffskriege als „Frieden schaffende Maßnahmen“, gemeinhin als „antifaschistisch“ verkauft werden konnten. So wurde unter Fischer nicht nur Belgrad bombardiert, was wie 1941 ohne Kriegserklärung geschah und wie 1941 die Zivilbevölkerung treffen sollte, sondern auch die Verbindung hergestellt zu den kosovo-albanischen Paramilitärs der UÇK, mit deren Hilfe der Staat Jugoslawien zerstört wurde. Das Gleiche gilt für die islamistische afghanische Nordallianz, die als Bodentruppen für den NATO-Krieg in Afghanistan dienten. Erst die völlige ideologische Reinwaschung der BRD vom faschistischen Erbe beendete die postfaschistische Periode und bereitete gleichzeitig den ideologischen Boden für neue deutsche Kriegseinsätze. Nicht zufällig erlebt das Interesse am Zweiten Weltkrieg zurzeit einen Boom, werden Episoden zu Epen ausgebaut, wie das „Attentat vom 20. Juli 1944“.

Dass heute selbst in der Linkspartei die Ersten dem bunten Kriegstreiben nicht mehr ganz abgeneigt sind, zeigt, dass die 60 Jahre zuvor eingepflanzte Legende nun Früchte trägt. Je mehr Kriege die Bundesrepublik führt und je mehr die Repression im Innern zunimmt, desto mehr gewinnt die Legende vom „guten Deutschland“, dessen Abstand zur faschistischen Diktatur immer größer wird, an Bedeutung. Diese Legende zu unterschreiben ist deshalb unverzichtbare Voraussetzung für die, die mitmischen wollen in der großen Politik.

1    Schließlich wurde er 1970 in den Exekutivrat der UNESCO gewählt.

 

Bundesnachrichtendienst
Nicht nur das Auswärtige Amt hat eine dunkle Vergangenheit. Zu nennen wäre da auch der Bundesnachrichtendienst (BND), der seinerzeit von Reinhard Gehlen, Ex-Generalmajor der Wehrmacht, als Nachfolgeorganisation der Abteilung Fremde Heere Ost gegründet wurde. Den Auftrag dazu hatte er von der amerikanischen Besatzungsbehörde erhalten, und unter den neuen Mitarbeitern waren auch viele alte Parteifreunde. Hier zogen zusätzlich viele ehemalige SS-, SD- und Gestapo-Leute ein, die teilweise mit einer neuen Identität versehen wurden. Der 1956 offiziell gegründete Geheimdienst hatte bis 1990 nicht einmal eine gesetzliche Grundlage.

 

 

Artikel teilen
Kommentare auf Facebook
Zur Startseite