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Worum geht es in der Diskussion über Griechenland?

Von Andreas Kloke, Athen | 22.07.2012

Tariq Ali, ein renommierter Linksintellektueller und Schriftsteller, in seiner Jugend ein revolutionärer Linker, hat erklärt, dass Antarsya „vom Sektierertum der KPG (KKE) beeinflusst wird“ und „den Vorschlag verweigert, mit Syriza zusammenzuarbeiten.“

Tariq Ali, ein renommierter Linksintellektueller und Schriftsteller, in seiner Jugend ein revolutionärer Linker, hat erklärt, dass Antarsya „vom Sektierertum der KPG (KKE) beeinflusst wird“ und „den Vorschlag verweigert, mit Syriza zusammenzuarbeiten.“

Wir wussten nicht, dass Tariq Ali über die Situation der griechischen Linken so „gut informiert“ ist, aber seine Äußerungen machen es offensichtlich sehr dringend, dass wir, die Mitglieder von Antarsya, uns fragen, was in dieser Diskussion über den Wahlausgang in Griechenland und die Aussichten auf der griechischen Linken insgesamt abläuft. ­Diese Aufgabe wird angesichts anderer Stellungnahmen, die wir aus dem Ausland erhalten haben, unter ihnen von Socialist Resistance (SR, der britischen Sektion der Vierten Internationale) und dem Büro der IV. Internationale selbst, die uns – OKDE-Spartakos, die griechische Sektion der IV – dazu aufrufen, die „5 Punkte“ der Syriza-Führung zu unterstützen, noch dringlicher. Die „5 Punkte“ sind ein Vorschlag an Dimar, die sehr rechte „Linkspartei“ (eine Abspaltung von Syriza), und indirekt auch an Pasok und die rechtsnationalistischen „Unabhängigen Griechen“, also eine Art programmatische Plattform für eine Koalitionsregierung nach dem 17. Juni.

Wenn wir diese „5 Punkte“ ernst zu nehmen haben, ist klar, dass wir es mit einer sehr rechten Variante einer links-bürgerlichen Regierunge zu tun haben, wie sie jahrzehntelang nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg üblich waren, als sozialdemokratische und stalinistische Parteien an „Links-Regierungen“ in Europa und auf anderen Kontinenten teilgenommen haben. In allen Fällen haben solche „linken“ Regierungen – die öfters mit „Arbeiter-Regierungen“ verwechselt werden, einer Formel, die heute wieder von einigen in unserer heutigen Diskussion verwendet wird – zu katastrophalen Folgen für die Arbeiterklasse, die Unterdrückten und Ausgebeuteten sowie für die Arbeiterbewegung geführt. Dies sind die historischen Erfahrungen, beginnend mit der sozialdemokratischen Regierung in Deutschland nach der Revolution vom November 1918, danach mit den Volksfront-Regierungen in Frankreich und Spanien in den 30er Jahren, dem indonesischen Putsch von 1965, der Volksfront-Regierung in Chile, der Regierung Mitterrand in Frankreich mit der Teilnahme der KPF (1981-1984), Premierminister Jospin (1997-2002) sowie mit den verschiedenen sozialdemokratisch geführten Regierungen in Spanien, Portugal, Italien, Deutschland, Großbritannien und anderen Ländern. Niemand sollte die Lehren aus der Arbeiterbewegung von fast 100 Jahren so leicht vergessen.
Die Bedeutung von Syrizas Erfolg
Dies ist der erste entscheidende Punkt dieser Diskussion: Ist Syriza eine „linkszentristische“ Formation (worunter wir „beinahe revolutionär“ verstehen), wie einige Kommentatoren dieser Tage anzunehmen scheinen, zum Beispiel aufgrund der Beteiligung von Organisationen (mao-) stalinistischen oder trotzkistischen Ursprungs? Oder ist es einfach eine linksreformistische Partei wie die anderen Parteien der „Europäischen Linken“, etwa Mélenchons Linkspartei (bzw. die von ihr geführte Linke Front) oder die deutsche Partei Die Linke? Nach aller Propaganda, die wir aus dem Ausland von Genoss/innen und Organisationen hören, die aus eurokommunistischem, maoistischem oder (halb-) trotzkistischem Hintergrund über Syrizas „Standhaftigkeit“ gegenüber der Memoranden-Politik schreiben, sind wir verpflichtet, einfach festzustellen, dass Syriza nichts von allen anderen Parteien der „Europäischen Linken“ qualitativ Verschiedenes ist. Sie ist also linksreformistisch. Es ist keine politische Formation, die die Entwicklungen in Richtung einer sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft zu lenken beabsichtigt, noch wird ihre Regierungsübernahme die Verhältnisse „objektiv“ in diese Richtung verändern.

Ganz das Gegenteil ist tatsächlich der Fall. Syriza wird alles versuchen, um die Wut der Arbeitenden und der breiten Volksschichten in den Grenzen der kapitalistischen Gesellschaft und des bürgerlichen Staates zu halten. Die wenigen Organisationen trotzkistischen oder maoistischen Ursprungs in Syriza verfügen über kein beträchtliches Gewicht und sind gezwungen, sich an jede Entscheidung der Syriza-Führung, die im Wesentlichen von der Synaspismos-Führung (SYN)1 dominiert wird, anzupassen. Dies ist eine sehr schwere Last, wahrscheinlich zu schwer für diese kleinen Organisationen, die einen revolutionären Anspruch haben.

Es stimmt, dass die SYN-Partei, vor allem ihre Jugendorganisation, wie auch die anderen Organisationen von Syriza, mehr oder weniger an allen Aktionen der Widerstandsbewegung seit 2004 beteiligt sind. Aber die Führung hält die Kräfte zurück, immer gibt es Vorbehalte. So war es keine Überraschung, dass z. B. die Hauptforderung von Syriza in der heißen Phase des Oktoberstreiks 2011 „Neuwahlen jetzt“ war, eine Forderung, die sie mit der anderen großen reformistischen Partei, der KPG (KKE) teilte. Dies ist sehr charakteristisch für die Haltung und die Mentalität der beiden reformistischen Parteien.

In sozialer oder politischer Hinsicht ist der plötzliche Anstieg der Syriza-Stimmen bei den Mai-Wahlen, dem wohl ein noch größerer Erfolg am 17. Juni folgen wird, ein instinktiver (ein linker, aber auch konservativer) Reflex, das System zu „verbessern“ und den Zorn und den Protest in den Grenzen der bestehenden (kapitalistischen) Ordnung zu halten. Breite Schichten sind vom Wunsch beseelt, die Memoranden-Politik zu stoppen und vielleicht sogar umzukehren, aber gleichzeitig den Euro zu behalten. Dies bedeutet, in einen nicht allzu scharfen Konflikt mit der derzeitigen EU-Führung zu geraten. Um Missverständnisse zu vermeiden, sei hinzugefügt: Natürlich wollen weder die griechische Bourgeoisie noch die Troika eine Syriza-Regierung oder eine Syriza-geführte Regierung. Das System der bürgerlichen Herrschaft ist in eine Sackgasse geraten, welche Regierung auch immer aus den Wahlen vom 17. Juni hervorgeht. Sicher: Eine Syriza- oder auch eine Syriza-geführte Regierung wird für die harten Kämpfe, die nach der Wahl bevorstehen, besser sein – in gewisser Weise Kämpfe auf Leben und Tod. Ebenso sollten alle politischen Kräfte der Linken, einschließlich von KKE und Antarsya, jede Maßnahme einer Syriza-geführten Regierung, die sich tatsächlich gegen die Memoranden-Politik und die Kreditverträge richtet, unterstützen. Antarsya sollte auch versuchen, Syriza als Ganzes nach links zu schieben.
Die Notwendigkeit der Einheitsfront
Ein wesentliches Element eines solchen Ansatzes ist das Konzept der Einheitsfront, sie ist eine Frage auf Leben und Tod für die griechische Arbeiter­Innen- und andere Bewegungen in dieser schrecklichen Situation. Tatsächlich ist die Einheitsfront ei
ne Frage des Überlebens für die gesamte Gesellschaft. Sie bedeutet die Zusammenarbeit aller Parteien, Organisationen, Bündnisse, Gewerkschaften, von Verbänden wie den „Volksversammlungen“ und so vielen anderen Initiativen und selbstorganisierten Gruppen, die während der letzten zwei Jahre entstanden sind, insbesondere nach den Platzbesetzungen (Syntagma) im Juni des vergangenen Jahres, einer der bisher heroischsten Phasen des Widerstands. Einheitsfront bedeutet einheitliches und entschlossenes Vorgehen gegen den gemeinsamen Feind, wo immer es nötig ist: gegen alle Formen der Memoranden-Politik, gegen die Rassismus-Welle und den äußerst gefährlichen Aufstieg der Nazi-Bande Chrisi Avgi (der von den Führungen sowohl von KKE als auch von Syriza immer noch völlig unterschätzt wird). Sie bedeutet einheitliche Kämpfe gegen den Terror der Entlassungen, der Arbeitslosigkeit, der unerträglichen Kopfsteuern, für die Ernährung der Ärmsten und die Versorgung der Obdachlosen, für die Verteidigung des öffentlichen Gesundheits- und Bildungssystems, für den Schutz der Umwelt durch einen Plan öffentlicher Investitionen. Es besteht kein Zweifel, dass diese Kämpfe von unten, durch die Basis-Bewegungen, organisiert und von allen Parteien und Organisationen der Linken zusammen mit allen anderen unterstützt werden sollten.

Zweifellos ist die systematische und hartnäckige Verweigerung einer solchen absolut notwendigen Einheitsfront durch die KKE-Führung kriminell. Es gibt keine andere Charakterisierung für diese Haltung. Antarsya hat immer (oder zumindest meistens) das Einheitsfront-Konzept sowohl in Erklärungen als auch in der Praxis unterstützt. Aber gleichzeitig ist es nötig, das Einheitsfront-Konzept, das „getrennt marschieren, aber vereint schlagen“ bedeutet, nicht mit der Frage der Teilnahme an einer links-bürgerlichen Regierung, auch wenn ­diese Regierung von einer links-reformistischen Partei wie Syriza geführt wird, zu verwechseln. Die Regierungsfrage ist in diesem Fall sicherlich eine Frage der Macht, aber nur in einem sehr begrenzten Sinn, denn selbst bei einer Syriza- oder einer Syriza-geführten Regierung bleibt die wirkliche Macht in den Händen der Kapitalisten-Klasse, der Troika und des bürgerlichen Staats, dessen Repressionsapparat völlig intakt bleibt.

Es ist einfach eine Illusion zu glauben, dass es irgendeine Form einer „Arbeiter­­Innen­regierung“ oder Arbeiter­­Innen­macht ohne eine entscheidende Auseinandersetzung mit diesen realen Machtstrukturen der kapitalistischen Gesellschaft geben wird. Wie ist es möglich, diese einfache, aber entscheidende Wahrheit zu „vergessen“? Es wird unmöglich sein, diese reale Machtstruktur ohne die Einheitsfront-Formationen der selbstorganisierten Ausgebeuteten und Unterdrückten, ohne das Auftreten von Doppelmachtorganen von unten – zentralisiert auf nationaler Ebene – loszuwerden.

Was können wir – von diesem letztlich entscheidenden Gesichtspunkt aus – über die Haltung der Syriza-Führung sagen? Leider ist während der letzten beiden Monate die Wahlpolitik über das öffentliche Leben hinweggefegt. Auf den Straßen ist es jetzt ruhig. Syriza hat sich von den Straßen zurückgezogen, um die herrschende Klasse davon zu überzeugen, dass sie keine Bedrohung für den sozialen Frieden und die Stabilität darstellt. Antarsya und einige Gruppen von Anarchist_innen versuchen mit ihren Kämpfen gegen die Nazis auf der Straße, den Geist des Widerstands am Leben zu erhalten. Die derzeitige öffentliche Wahldebatte in Griechenland spiegelt nicht die tatsächlichen Kräfteverhältnisse zwischen den streitenden sozialen Klassen wider, sondern deformiert dieses Gleichgewicht und verschiebt es nach rechts. Syriza hat beispielsweise bereits durch ihre unbeholfenen und ängstlichen Reaktionen auf die dringenden Forderungen nach einer „Regierung der nationalen Einheit“ eine beträchtliche Strecke nach rechts zurückgelegt. Sie wird dadurch schnell ein Ersatz für die „mutierte“ Sozialdemokratie von Pasok. Während des letzten Wahlkampfes sind mehrere frühere führende Pasok-Mitglieder zu Syriza übergetreten.

Kann es irgendeinen Zweifel daran geben, dass Syriza eine solche reformistische Partei ist und dass sie sich in eine sozialdemokratische Richtung bewegt? Fragt die Menschen in Griechenland selbst. Niemand wird daran zweifeln. Tatsächlich war Syrizas Propaganda für eine „linke Regierung“ in Kombination mit dem „Verbleib in der Euro-Zone“ das Geheimnis von Syrizas Wahlerfolg am 6. Mai. Es bedeutet nämlich, einen „guten Kompromiss“ mit dem griechischen Großkapital und der Troika zu finden. Viele Menschen hoffen natürlich, eine solche „linke Regierung“ könne die „Quadratur des Kreises“ erreichen, d. h. sowohl die Bedürfnisse der herrschenden Klassen als auch der Ausgebeuteten und Unterdrückten erfüllen. Das Problem ist, dass dies nicht möglich sein wird. Wir nennen solche Hoffnungen „parlamentarische Illusionen.“
Die Syriza-Führung selbst verbirgt ihren sehr moderaten Ansatz nicht. Um Missverständnisse zu vermeiden, sollte hinzugefügt werden, dass Syrizas Erfolg dennoch die Radikalisierung auf Massenebene widerspiegelt, wenn auch auf eine vorläufig begrenzte Weise – was für den Beginn eines revolutionären Prozesses nicht untypisch ist. Aber es scheint klar, dass diese Phase – das Erwachen des Klassenbewusstseins einer (begrenzten) antikapitalistischen Haltung – unvermeidlich ist.
Für einen dritten Pol der griechischen Linken
Gleichzeitig sollte man bedenken, dass die Entwicklung des antikapitalistischen und schließlich revolutionären Klassenbewusstseins auf Massenebene nicht die „automatische“ Folge der Entwicklungen, sondern mit dem Anstieg der Massenkämpfe und der politischen, programmatischen und ideologischen Konfrontationen verknüpft sein wird, die zwangsläufig in den Auseinandersetzungen der unterschiedlichen und entgegengesetzten politischen Parteien und Formationen der Linken zum Ausdruck kommen. Von diesem Standpunkt aus wird es entscheidend sein, den Kern der antikapitalistischen, revolutionären Linken, d. h. hauptsächlich von Antarsya zu entwickeln, damit er sich in den „dritten Pol“ der griechischen Linken verwandelt. Es ist daher eine der wichtigsten Aufgaben der revolutionär-marxistischen Kräfte in Griechenland, sich an diesem Prozess zu beteiligen, gerade weil die Führungen sowohl von KKE als auch von Syriza tief reformistisch sind, womit gemeint ist, dass sie eng mit dem gesellschaftlichen und politischen System der bürgerlichen Klassenherrschaft verbunden sind und daher unvermeidlich Hindernisse für jeden revolutionären Prozess darstellen werden. Dieser (unvermeidliche) Kampf um die Hegemonie innerhalb der Linken, zwischen Reformismus und einer antikapitalistischen, revolutionären Orientierung, wird entscheidend sein, wenn es unser Ziel ist, dass die Arbeiter_innen und Unterdrückten die Klassenhegemonie in der Gesellschaft (im Sinne Gramscis) erobern. Das bedeutet, die Herausbildung der Doppelmacht zu entwickeln und eine Arbeiterregierung auf der Grundlage der Selbst-Organisation der Massenbewegung im Verlauf einer revolutionären Krise zu errichten.

Daher ist es auch notwendig, dass die Arbeiter_innen und Unterdrückten sich um e
chte Übergangsforderungen und für ein alternatives demokratisches System, für eine „wahre Demokratie“, wie es die Platzbesetzungsbewegung im Juni letzten Jahres forderte, organisieren, eine Demokratie, die das verfaulte und korrupte System der bürgerlichen Demokratie, das sich in aller Deutlichkeit als die Diktatur der Gläubiger, des Großkapitals und der Troika erwiesen hat, ersetzen muss. Letztes Jahr haben wir erlebt, wie eindeutige Übergangsforderungen von breiten Volksschichten aufgenommen wurden, als Hunderttausende den Slogan „Wir schulden nichts, wir zahlen nicht, wir verkaufen nicht!“ auf dem Syntagma-Platz und überall in Griechenland unterstützten. Dies bedeutete, dass die Forderung nach Schuldenstreichung, die im Jahr 2010 nur von Antarsya erhoben wurde, plötzlich auch von der KKE akzeptiert wurde und – wenn auch nur teilweise (wie wir jetzt sehen können) – von Syriza mit ihrer Forderung nach einem „Moratorium“" und „Nachverhandlungen“ mit der Troika.

Die Forderung nach „wahrer Demokratie“ brachte zweifellos, wenn auch auf eine nicht vollständig entwickelte oder klare Weise, die Notwendigkeit zum Ausdruck, die bürgerliche „demokratische“ Diktatur durch die Demokratie der selbst organisierten Arbeitenden und der Bevölkerung zu ersetzen. Dies wird nur durch den Sturz der kapitalistischen Klassenherrschaft zu erreichen sein. Dies ist der Weg zu einer echten Arbeiterregierung, zur Revolution und zum Sozialismus.

All dies bedeutet nicht, dass wir den Wahlergebnissen vom 17. Juni gegenüber gleichgültig sind. Natürlich wollen wir die Niederlage der rechten Parteien, der Faschisten und von Pasok auch bei den Parlamentswahlen sehen. Aber so wie die Dinge liegen, wird es am 17. Juni keine „Mehrheit für die Linke“ geben. Die linken Parteien, Bündnisse und Organisationen (darunter auch die zweifelhaften Fälle von Dimar und den Grünen Ökologen) erreichten am 6. Mai rund 37 %, während die hardcore-rechten und neoliberalen Parteien und Bündnisse es auf mehr als 46 % brachten, und Pasok, eine miserable neue Rechtspartei, auf mehr als 13 %. Am 17. Juni wird es eine weitere Verschiebung nach links geben, aber es wird nicht für eine „linke Mehrheit“ reichen. Deshalb ist das ganze Gerede von einer „Arbeiter_innenregierung“, das von einigen linken Organisationen, vor allem im Ausland, zu hören ist, ohne wirkliche Substanz.
Eine taktische oder strategische Frage?
In jedem Fall ist ein linker Sieg bei den Wahlen kein Selbstzweck, sondern sollte ein Schritt sein, das Klassenbewusstsein und den Kampfgeist der Arbeitenden und Unterdrückten zu fördern. Dazu gehört auch, ihr Verständnis dafür zu fördern, dass der Kampf für grundlegende Übergangsforderungen – wie die bedingungslose Streichung der Schulden und die Nationalisierung der Banken und des Großkapitals unter Arbeiterkontrolle – nicht im Rahmen des imperialistischen Projekts mit Namen „Europäische Union“ gewonnen werden kann. Es ist aber offensichtlich, dass eine solcherart geförderte Hebung des Bewusstseins für die Herangehensweise der Syriza-Führung keine Rolle spielt. Deshalb könnte mensch sagen, dass der autonome Aufbau eines alternativen antikapitalistisch-revolutionären Pols, vor allem von Antarsya, Vorrang vor dem hat, was viele als das „richtige taktische Verhalten“ gegenüber Syriza und ihren Unterstützer_innen betrachten. Dies wäre eine Taktik, die die Notwendigkeit der „kritischen“ Unterstützung von Syriza bei den Wahlen am 17. Juni betonen und auf der Idee beruhen würde, dass dies das entscheidende Element wäre, das es uns ermöglichen würde, unter dem Banner der „Einheit“ breitere Schichten einschließlich der Syriza-Wähler_innen zu gewinnen, um zu einem radikaleren Angriff auf die Grundlagen der kapitalistischen Klassenherrschaft in Griechenland überzugehen.

Auch wenn eine solche Taktik von OKDE und Antarsya nicht befürwortet wird, müssen wir zugeben, dass es legitim und vernünftig ist, die Frage auf diese Weise zu stellen. Minderheiten in OKDE und anderen Organisationen, die an Antarsya beteiligt sind, glauben, dass dies unter den gegenwärtigen Umständen einer überwältigenden Welle der Arbeiter- und öffentlichen Unterstützung für Syriza die richtige Taktik ist. Es scheint logisch zu sein, dass jede_r an der antikapitalistischen Linken Beteiligte die Notwendigkeit der Stärkung unseres eigenen Pols gegen eine richtige und geeignete Taktik gegenüber Syriza, KKE und ihren Anhänger_innen abzuwägen hat. Dies sollte auch die Unterstützung für jede Maßnahme, die eine Syriza-Regierung gegen die Memoranden-Politik und in allen möglichen Konflikten mit dem Großkapital und der Troika ergreifen könnte, mit einschließen.

Es ist wahr, was Genosse J.-Ph. Dives (von der französischen NPA) in einem kürzlich erschienenen Artikel in Bezug auf eine Bemerkung Trotzkis im „Übergangsprogramm“ (1938) schreibt, wo es heißt: „Ist die Errichtung einer solchen Regierung [einer wirklichen Arbeiter-Regierung] durch die traditionellen Arbeiterorganisationen möglich? Die bisherige Erfahrung zeigt uns, wie gesagt, dass dies zumindest unwahrscheinlich ist. Man kann jedoch nicht von vorn­herein kategorisch die theoretische Möglichkeit ausschließen, dass unter dem Einfluss eines außergewöhnlichen Zusammentreffens bestimmter Umstände (Krieg, Niederlage, Finanzkrach, revolutionäre Offensive der Massen usw.) kleinbürgerliche Parteien – die Stalinisten eingeschlossen – auf dem Weg des Bruchs mit der Bourgeoisie weiter gehen können, als ihnen selbst lieb ist.“

Man sollte hinzufügen, dass keine parlamentarische gewählte Linksregierung jemals so weit gegangen ist, seit diese Worte im Jahr 1938 geschrieben wurden. Dennoch lässt Dives die Möglichkeit offen, dass eine Syriza-Regierung sich nach links wenden und in einen offenen Konflikt mit dem Kapital und der Troika kommen könnte. Aber selbst in diesem „höchst unwahrscheinlichen“ Fall wird es ein enormer Vorteil sein, wenn sich der antikapitalistisch-revolutionäre Pol der griechischen Linken entwickelt und eine solche Regierung nach links schiebt.
Festzustellen haben wir auch, dass die Idee der „kritischen Unterstützung“, um einen alternativen antikapitalistischen-revolutionären Pol aufzubauen, nicht die Haltung ist, die von der SR und dem Büro der IV. Internationale vorgeschlagen wird, deren Stellungnahmen sich einfach für eine unkritische Anpassung an das „5-Punkte-Programm“ ausspricht, das von der Syriza-Führung als Basis für eine Koalitionsregierung angeboten wird. Ein derartiger Aufruf für eine unkritische Unterstützung von Syriza hat nichts mehr mit einer Diskussion über die „richtige Taktik“ der revolutionären Marxist_innen reformistischen Parteien gegenüber zu tun, da in diesem Vorschlag die Kluft, die zwischen einer revolutionären und einer reformistischen Orientierung besteht, nicht zu existieren scheint. Er tendiert dazu, das Konzept des Aufbaus revolutionär-marxistischer Organisationen und Parteien als Sektionen der Vierten Internationale durch ein Konzept des Aufbaus „breiter linker Parteien“ zu ersetzen. Für die programmatischen, politischen und ideologischen Norme
n der IV. Internationale ist dies in der Tat etwas Neues, das von der Internationale und allen ihren Sektionen selbst abgelehnt werden sollte.

1    Die SYN (Koalition der Linken, der Bewegungen und der Ökologie) ist 1992 aus der eurokommunistischen Abspaltung von der KP Griechenlands (KKE) entstanden. Anm. d. Red.

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