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Innenpolitik

Wikileaks und der Kampf um die Meinungshoheit

Von Dimitri Tolov | 01.01.2011

Ende November stellte die Enthüllungsplattform Wikileaks über 250 000 Dokumente des Washingtoner Außenministeriums ins Netz. In den Monaten davor hatte Wikileaks diese Dokumente u. a. der Zeitschrift Spiegel zur Begutachtung und redaktionellen Auswertung zur Verfügung gestellt.

Ende November stellte die Enthüllungsplattform Wikileaks über 250 000 Dokumente des Washingtoner Außenministeriums ins Netz. In den Monaten davor hatte Wikileaks diese Dokumente u. a. der Zeitschrift Spiegel zur Begutachtung und redaktionellen Auswertung zur Verfügung gestellt.

Diese Bereitstellung erfolgte mit einer doppelten Zielsetzung: Zum einen sollten die Schriftstücke zusätzlich von politischen BeobachterInnen außerhalb des Wikileaks-Teams auf ihre Echtheit überprüft werden, zum anderen diente das der größeren Verbreitung, aber auch – in begrenztem Umfang – dem Schutz des Teams.

So viel ist doch eigentlich gar nicht passiert. Letztendlich hat Wikileaks nichts getan, was nicht auch schon vorher getan worden wäre. Doch woher diese Wut mit der die USA, große Unternehmen und die bürgerliche Presse Wikileaks nun angreifen? Sehr einfach: Sie alle haben begriffen, dass die Bedeutung der Veröffentlichungen ihren eigentlichen Inhalt weit übersteigt. Nicht gegen Wikileaks wird gekämpft, sondern gegen das Internet und wie es funktioniert. Nicht die Veröffentlichung an sich ist das Problem, sondern die Machtlosigkeit der Mächtigen gegenüber dieser und sicherlich auch zukünftigen Veröffentlichungen.

Spektakuläre Veröffentlichungen von Regierungsinterna gab es schon früher, doch zogen sie nie derartige Reaktionen nach sich, wie diese, obwohl die Veröffentlichungen zwar umfangreich aber letztendlich nicht allzu spektakulär sind. Es handelt sich nur um Dokumente mittelmäßiger Sicherheitsstufe, die auch mit Ausnahmen nicht allzu viel Neues enthalten. Um die Bedeutung von Wikileaks zu verstehen, muss mensch zunächst verstehen, wie Wikileaks funktioniert.
Eine neue Hoffnung
Der entscheidende Unterschied zwischen Wikileaks und früheren Veröffentlichungen von Geheiminformationen liegt in der Unkontrollierbarkeit bedingt durch die Natur des Internets. Wollte im Jahr 1960 jemand geheime Dokumente an die Öffentlichkeit bringen, brauchte mensch dazu zunächst ein Publikationsmedium, eine Plattform. Hatte mensch nicht gerade einige Millionen zu Verfügung, war er auf die bestehenden Medien angewiesen. Diese Medien (Zeitungen, Fernsehen und Radio) wurden jedoch ausnahmslos von kapitalistischen Unternehmen oder dem kapitalistischen Staat kontrolliert und hatten so ein denkbar geringes Interesse an der Veröffentlichung von Dokumenten, die ihren eigenen Interessen schaden würden. Die Plattform würde selektieren, betrachtet unter Gesichtspunkten kapitalistischer Interessen.

Mochte ein Dokument über den Missbrauch von Steuergeldern noch Chancen haben, zumindest in gekürzter Form publiziert zu werden, wäre ein Dokument über die Machenschaften innerhalb von Großbanken (wie von Wikileaks angekündigt) wohl chancenlos. Genau das hat sich fundamental geändert. Das Internet kennt faktisch keine Beschränkung, weder von Material noch von Konsument­Innen. Eine Internetplattform für Hunderttausende anzubieten, ist für einige Hundert Euro im Monat möglich. Methoden wie BitTorrent (engl.: Bit = kleinste Dateneinheit, Grundlage aller elektronischen Datenverarbeitung: Torrent = Kaskade, Wasserfall), in der alle EmpfängerInnen die Daten zugleich weitersenden, machen eine Weiterverbreitung praktisch unaufhaltsam. Sind die Daten erst einmal im Internet, ist es unmöglich, ihre Verbreitung zu stoppen. Diese Erfahrung macht gerade die US-Regierung und mit ihr ihre UnterstützerInnen.
Das Imperium schlägt zurück
Mit aller Härte gehen derzeit Regierungen und Unternehmen gegen Wikileaks vor, flankiert vom Sperrfeuer der bürgerlichen Medien, zumindest jener, die beim Vorabverteilen der Botschaftsdepeschen übergangen wurden. Seiten werden gesperrt, Geldflüsse ausgetrocknet. Die beiden weltgrößten Kreditkartenunternehmen, Visa und Mastercard lassen keine Spenden mehr für Wikileaks über ihre Karten zu, angeblich weil Wikileaks das „Begehen einer Straftat“ ermögliche. Das direkte und unmittelbare Morden des Ku Klux Klan stört beide Unternehmen weniger. Nach wie vor prangt auf dessen Internetseite der Spendenbutton beider Firmen. Und auch die Schweizer Banken, die noch dem blutigsten Diktator und dem mörderischsten Kriegsverbrecher als sicherer Hafen für seine Altersvorsorge dienten, entdecken plötzlich einen Verstoß Assanges, des Gründers von Wikileaks, gegen ihre „Geschäftsbedingungen“. Die USA reagierten derweil auf ihre ganz eigene Art: Gefragt nach Plänen zur Ermordung Assanges, antwortete die CIA, sie könne derartige Pläne weder bestätigen noch verneinen, da dies geheimdienstliche Arbeit erschwere (Quelle: http://www.scribd.com/doc/41076931/CIA-Response-to-Assange-Assassination-FOIA).

Auch der mutmaßliche Wiki­leaks-Informant, der Soldat Bradley Manning, sitzt seit über einem halben Jahr in Isolationshaft, seine Freunde sagen aus, er sei gefoltert worden. Indes, die Erfolge sind überschaubar. Nach wie vor sind die Wikileaks-Dokumente im Internet frei verfügbar. Statt seine Arbeit einzustellen, kündigte die Website weitere Veröffentlichungen an. Das Bemühen, die Informationen zu unterdrücken, scheitert vor allem an der Breite der Unterstützung für Wikileaks.
Eine Massenbewegung
Die Depeschen der US-Botschaften können zur Stunde auf mehr als 1 500 Seiten heruntergeladen werden. In einer ersten Reaktion auf die Ankündigung von Visa und Mastercard, keine Spenden mehr für Wikileaks entgegen zu nehmen, griffen mehrere Tausend Aktivisten die Webseiten der beiden Unternehmen an und machten mehrere Stunden lang Onlinezahlungen unmöglich. Da die Bewegung so breit getragen wird, ist es auch egal, ob Julian Assange frei, gefangen oder tot ist, die Veröffentlichungen werden nicht aufhören. Selbst wenn es tatsächlich gelänge, Wikileaks auszuschalten, würde das nichts ändern. Nun, da die Idee bekannt, populär ist, ist sie nicht mehr aufzuhalten. Bereits zwei weitere Projekte befinden sich in der konkreten Planung. Eines, genannt „Openleaks“, steht kurz davor, seine Arbeit aufzunehmen. Diese neue Machtlosigkeit der Mächtigen erklärt auch den Hass, der Wikileaks von allen Seiten entgegenschlägt. Staat und bürgerliche Medien begreifen dass die Zeiten ihres Meinungsmonopols sich langsam dem Ende entgegen neigen.
Was bleibt
Wikileaks hinterlässt bereits heute einen gewaltigen Schaden am Ansehen des bürgerlichen Staates und seiner Medien. Die zahlreichen weniger spektakulären Veröffentlichungen, etwa zur Deutschen Bahn oder zur Love-Parade-Katas­trophe werden nun, da Wikileaks weltweite Bekanntheit erlangt hat, ein weit größeres Publikum erreichen
. Es steht auch zu hoffen, dass potenzielle Informant­­Innen durch die Möglichkeit der recht sicheren und anonymen Veröffentlichung ermutigt werden. Selbstverständlich können weder Wikileaks noch das Internet im Allgemeinen eine revolutionäre oder auch nur linke Massenbewegung schaffen. Aber sie geben uns mächtige Waffen an die Hand, mit der wir diese Bewegung schaffen können. Wir sollten sie nutzen.

 

Die Internetseite Wikileaks
Die Internetseite Wikileaks wurde im Jahr 2006 gegründet und hat es sich laut eigenen Angaben zur Aufgabe gemacht, „Regierungen transparent zu machen“, indem sie geheim gehaltene Dokumente zugänglich macht. Nach eigener Aussage arbeiten etwa 1 000 Menschen weltweit regelmäßig für Wikileaks, davon etwa 6 Hauptberuflich.

  • Julian Assange ist das bekanntestes Gesicht und der Sprecher von Wikileaks. Er ist wegen Vorwürfen des sexuellen Missbrauchs angeklagt und zur Zeit in Großbritannien auf Kaution „frei“. Er selbst bestreitet die Vorwürfe und spricht von einer Kampagne gegen ihn.
  • Die spektakulärsten Veröffentlichungen bisher waren das „Colleteral Murder“-Video, in dem zu sehen ist, wie im Irak US-Soldaten unbewaffnete Zivilisten erschießen, sowie die Veröffentlichung von hundertausenden Dokumenten zu Irak- und Afghanistankrieg. 
  • Auch weniger bekannte, aber sehr interessante Dokumente bietet das Archiv, so zum Beispiel die geheim gehaltenen Tollkollekt-Verträge, amtliche Untersuchungsergebnisse  zur Loveparade-Katastrophe oder FDP-Interne Argumentationshilfen gegen Lohnerhöhungen.
D.T.

 

 

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