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Innenpolitik

„Wenn wir alle Engel wären…“

Von Helmut Dahmer | 01.05.2010

Christliche Theologen wähnten, der Mensch sei zur einen Hälfte den Engeln gleich, seine andere Hälfte aber sei des Teufels. Im 18. Jahrhundert schrieben die Philosophen, der Mensch sei „der erste Freigelassene der Natur“ (Herder), und im 19. hieß es, er sei „das nicht festgestellte Tier“ (Nietzsche). „Frei“ oder „nicht festgestellt“ sein heißt, über ein reiches Potenzial von (erotischen und destruktiven) Antriebsenergien zu verfügen, die nicht von vornherein an bestimmte Befriedigungshandlungen gebunden und auf bestimmte Objekte fixiert sind.

Christliche Theologen wähnten, der Mensch sei zur einen Hälfte den Engeln gleich, seine andere Hälfte aber sei des Teufels. Im 18. Jahrhundert schrieben die Philosophen, der Mensch sei „der erste Freigelassene der Natur“ (Herder), und im 19. hieß es, er sei „das nicht festgestellte Tier“ (Nietzsche). „Frei“ oder „nicht festgestellt“ sein heißt, über ein reiches Potenzial von (erotischen und destruktiven) Antriebsenergien zu verfügen, die nicht von vornherein an bestimmte Befriedigungshandlungen gebunden und auf bestimmte Objekte fixiert sind.

Dass die menschlichen Triebe „luxurieren“, besagt, dass Menschen „unermüdliche Lustsucher“ (Freud) sind und darum „zu allem fähig“. Triebe bedürfen der Bewusstmachung und der Sinndeutung, die gedeuteten Triebe aber sind unsere Wünsche. Eine jede der Kulturen, von denen wir Kenntnis haben, hat die überbordenden Wünsche der ihr zugehörigen Menschen auf eigene Weise kanalisiert und formiert; was der einen als „Brauch“ (oder Sitte) galt, war in der anderen als „Missbrauch“ (eben als „unsittlich“) verpönt. Keine dieser Kulturen hatte Bestand. Benachteiligte Mehrheiten, die sich am relativen Glück privilegierter Minderheiten orientierten, haben stets wieder auf die Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse, also auf eine Reform der jeweils bestehenden Ungleichverteilung von Mangel und Überfluss (oder von Lasten und Lüsten) gedrängt.

Der Untergang der griechisch-römischen Antike ermöglichte den Aufstieg des (kirchlich verfassten) Christentums. Dessen Programm war (und ist) die Abwertung des irdischen Lebens zugunsten eines imaginären jenseitigen, die Verteufelung des Leibes und seiner Begierden und die Idealisierung einer asketischen Lebensform. Heiligenlegenden schildern den lebenslangen Kampf der Frommen gegen „Versuchungen“, einen Kampf, der erst mit dem Tode, mit dem Verlassen des irdischen Jammertals endet. Wer seinen Körper, den Kerker der Seele, nicht kasteit, dem droht ewige Verdammnis. Das asketische Ideal überfordert nicht nur gewöhnliche Sterbliche, Laien, sondern auch die religiösen Virtuosen – Priester und Mönche.

Die Macht, die die katholische Kirche bis zum heutigen Tage über Hunderte von Millionen Menschen ausübt, resultiert vor allem aus der Verwaltung dieser Überforderung, aus dem Versprechen, den sündigen Schäfchen mit Hilfe von Beichte und Sakrament periodisch einen Teil ihrer Schuld zu erlassen. Die Seelenhirten wissen natürlich, dass weder ihre Schutzbefohlenen noch sie selbst der „Versuchung“, ihre leiblichen Bedürfnisse zu befriedigen, widerstehen können. Und weil sie um diesen unauslöschlichen Makel wissen, glauben sie zum einen an den Teufel und neigen zum anderen zu einer gewissen Laxheit im Umgang mit den Sündern, vor allem mit denen in ihren eigenen Reihen.

Dass die jetzt gehäuft in verschiedenen Ländern publik gemachten, zahlreichen Pädophilie-Skandale vor allem katholische Organisationen betreffen, hängt damit zusammen, dass die Kirche das letzte Bollwerk sexualfeindlicher Moral inmitten einer zunehmend hedonistischen Kultur ist. Im Sinne der Moraltheologie gilt eigentlich jede „Lustgewinnung aus Körperzonen“ (Freud) als Frevel oder Missbrauch. Der vergebliche Kampf der Asketen gegen die Libido nährt ihre Neigung zum Exzess, und ihre „Übergriffe“ werden in der Folge bereut und bußfertig beschwiegen. Dergleichen Missbräuche gibt es seit Jahrhunderten, nicht nur in der „Alleinseligmachenden“, sondern auch in den Derivat-Kirchen. (Schließlich haben die Reformatoren verlangt, dass künftig jedermann wie ein Mönch leben solle…) Zum Skandal wird der „Missbrauch“ erst dann, wenn die säkularisierte Gesellschaft das Privileg der Kirche(n), für das Seelenheil zu sorgen und im Stillen Unheil auszubrüten, nicht mehr toleriert. Die Bereitschaft, über die diversen Missbräuche der Kirche(n) wegen ihrer Leistungen für das Seelenheil der Gläubigen hinwegzusehen, schwindet. Warum? Weil sich die „zivilisatorische Mission“ der Kirche – ihr Kampf gegen das „barbarische“ Heidentum, der häufig mit barbarischen Mitteln geführt wurde, die jahrhundertelange Disziplinierung von Sklaven, Leibeigenen und „freien Lohnarbeitern“ – allmählich erschöpft. Die „sexuelle Revolution“ der sechziger Jahre, also die Liberalisierung der Sexualmoral (und des Sexualstrafrechts), indizierte, dass das asketische Ideal und einige der daran geknüpften sexuellen Tabus in den höchstentwickelten kapitalistischen Staaten an Bedeutung verloren haben.

In der aktuellen „Missbrauchs“-Debatte werden die Grenzen der bisherigen Liberalisierung der Sexualmoral deutlich. Das naive oder geheuchelte Erstaunen über die verbreitete „Unzucht mit Abhängigen“ (also mit Schülern, Waisen, Behinderten, Ministranten, Sängerknaben…) – nicht nur in religiös geprägten, sondern auch in weltlichen, reformpädagogisch orientierten Internaten (vom Typus Salem oder der Odenwaldschule) – zeigt, dass die mehr als hundert Jahre alten Erkenntnisse Freuds und anderer Sexualforscher für die große Mehrheit noch immer nicht akzeptabel sind. Die Debatte wird so geführt, als hätten die Beteiligten noch nie etwas davon gehört, dass es sich bei der „normalen“ Sexualität um ein Bündel von vielgestaltig „perversen“ Strebungen handelt (und dass sie ebenso wohl homo- wie heterosexuell ausgelebt werden kann). Die meisten Diskussionsteilnehmer scheinen Schulen, Heime und Internate für glückliche Inseln zu halten, auf denen nicht Menschen aus Fleisch und Blut, sondern Engel und Heilige Regie führen.
Verwundert werfen Journalisten die Frage auf, warum Missbrauchs-Opfer und Täterkollegen die Misere so lange beschwiegen. Auch diese Frage lässt sich beantworten. Der ubiquitären [allgegenwärtigen] Pornografie zum Trotz ist das Verhältnis von Eltern und Kindern, Lehrern und Schülern zur eigenen Sexualität noch immer ein überaus heikles. Nach wie vor gilt alles Sexuelle insgeheim als verrucht und bleibt darum unaussprechlich. Warum bilden Eltern sich ein, die Institutionen, an die sie die Erziehung ihrer Kinder delegieren, seien geschützte Paradiese? Weil es für sie bequem ist, weil sie nicht wahrhaben wollen, dass die Gesellschaft, in der sie leben, eine der Ausbeutung und des Missbrauchs ist, in der es keine Reservate gibt. (Auch die Familie ist kein Reservat.) Wer sein Leben lang peinlichen Fragen auswich, schweigsam und fügsam war, wird sich hüten, seine Kinder so zu erziehen, dass sie mit Missbrauch rechnen und sich gegen Mi
ssbrauch wehren – wohlgemerkt: gegen jederlei Missbrauch, den sexuellen wie den politischen, den ökonomischen wie den kulturellen.

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