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Innenpolitik

Was ist die Arbeiter­Innenklasse?

Von W. Walrave | 21.03.2012

In der Mainstream-Diskussion der spätkapitalistischen bürgerlichen Gesellschaft wird immer wieder behauptet, große, klar zu unterscheidende „Klassen“ gebe es seit der Entwicklung der kapitalistischen „Wohlstandsgesellschaften“ nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht mehr.

In der Mainstream-Diskussion der spätkapitalistischen bürgerlichen Gesellschaft wird immer wieder behauptet, große, klar zu unterscheidende „Klassen“ gebe es seit der Entwicklung der kapitalistischen „Wohlstandsgesellschaften“ nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht mehr.

Im gesellschaftlichen und soziologischen Diskurs wird stattdessen lieber verschleiernd von „Mittelschichten“ und deren Interesse, an einer prosperierenden „Marktwirtschaft“ beteiligt zu sein, gesprochen.

Der Begriff einer gesellschaftlichen Klasse geht davon aus, dass es innerhalb einer gegebenen Gesellschaftsformation Gruppen von Menschen gibt, die unterschiedliche ökonomisch-soziologische und politische Stellungen und damit unterschiedliche Interessen in dieser Gesellschaft haben. Die genannten Unterschiede sind mitunter so scharf, dass sie als grundsätzlich entgegengestellt (antagonistisch) verstanden werden müssen. Dies trifft insbesondere auf die zwei sich in ihren Interessen entgegengesetzten „Hauptklassen“ zu: das Großbürgertum bzw. „die Bourgeoisie“ und die Arbeiter_innen bzw. das „Proletariat“. Bei den „Nebenklassen“, dem Kleinbürger_innentum und der bäuerlichen Klasse, sind diese Unterschiede im Allgemeinen nicht antagonistisch. Generell bestimmen Marxistinnen die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Klasse über die Stellung im- und Stellung zum- Produktionsprozess.

Wer gehört heute zur Arbeiter_innenklasse? Klassischerweise wird in der marxistischen Definition von folgenden Bestimmungskriterien ausgegangen: Diese Menschen verfügen über keinen nennenswerten (entscheidenden) Besitz an Produktionsmitteln oder sonstigem Kapital, und damit über keine Verfügungs- und Entscheidungsgewalt darüber, was mit den Produktionsmitteln (oder dem sonstigen Kapital, etwa Handelskapital) geschehen soll.

Sie sind gezwungen, durch Verkauf ihrer Arbeitskraft („Stellung im Produktionsprozess“) oder aus den Früchten des früheren Verkaufs dieser Arbeitskraft (also mit der Rente) ihre Existenz zu bestreiten. Können sie ihre Arbeitskraft nicht verkaufen, sind sie auf Transferzahlungen (Arbeitslosengeld, Hartz IV usw.) angewiesen (Stellung zum Produktionsprozess). Inzwischen gehen auch ernsthafte bürgerliche Gesellschaftswissenschaftler_innen davon aus (im Gegensatz zur bürgerlichen Propaganda), dass etwa die Hälfte der Weltbevölkerung zur gesellschaftlichen Gruppe (Klasse) gehört, die diesen zwei Kriterien entspricht. Laut ILO (Internationale Arbeitsorganisation) gibt es heute etwa 2,95 Milliarden abhängig Beschäftigte. Die anderen sind entweder Bauern/Bäuerinnen (zumeist sehr arm) oder Kleinbürger_innen (Handwerker_innen, Händler_innen usw.).

In den Industrieländern sind die Mehrheitsverhältnisse noch viel deutlicher. In Deutschland etwa sind knapp 90 % der erwerbstätigen Bevölkerung auf den Verkauf ihrer Ware Arbeitskraft angewiesen. Sie sind also nach diesen grundlegenden Bedingungen Arbeiter_innen, ganz gleich, ob sie nun an der Werkbank stehen oder in einem Büro arbeiten. Das Selbstverständnis der „Occupy-Bewegung“, sie repräsentiere 99 % der Bevölkerung, drückt zwar der Tendenz nach etwas politisch Korrektes aus, die konkrete Zahl ist aber nicht wirklich fundiert.

Zur Bestimmung der Klassenzugehörigkeit kann das jeweilige subjektive Bewusstsein keine Rolle spielen, denn ob ich mir bewusst bin, ausgebeutet zu werden und zu einer bestimmten Gruppe von Menschen zu gehören, oder ob ich statt dessen glaube, durch Beschäftigung als Scheinselbstständige_r irgendwie zu den „Besseren“ der Gesellschaft zu gehören, ändert nichts an der Tatsache, faktisch meine Arbeitskraft verkaufen zu müssen und darüber zur Profitrealisierung beizutragen.

Auch wenn ein_e abhängig Beschäftigte_r einige Aktien oder ein Haus besitzt oder zu den besser verdienenden Entgeltempfänger_innen zählen kann, ändert das nichts an der Tatsache, dass der/die Betreffende damit noch lange keine wirkliche Verfügungsgewalt über Produktionsmittel und Kapital hat. Erst wenn solcherlei Einkünfte den Betreffenden vom  Zwang des Verkaufs der eigenen Arbeitskraft enthebt und er/sie anfängt, sich an Strukturen und Prozessen der Entscheidungsfindung der „nächst höheren“ gesellschaftlichen Klasse real zu beteiligen, kann von einem Wechsel der Klassenzugehörigkeit – von der Arbeiter_innenklasse zum Kleinbürger_innen- oder (noch seltener) zum Großbürger_innentum – gesprochen werden.

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