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Innenpolitik

Warum wir beschleunigt werden (wollen)

Von Klaus Engert | 07.04.2012

Citius, altius, fortius – schneller, höher, stärker (nicht, wie häufig falsch übersetzt: weiter), das ist das Motto der Olympischen Spiele und es stammt nicht von Pierre de Coubertin, sondern von einem französischen Dominikanerpater, der es bei einem Schulsportfest erstmals verwendete. Diese Devise ist im Grunde genommen eine der Grundkonstanten unserer Gesellschaftsordnung, insbesondere das erste Wort: Geschwindigkeit, besser: Beschleunigung ist Trumpf. Aber warum eigentlich?

Citius, altius, fortius – schneller, höher, stärker (nicht, wie häufig falsch übersetzt: weiter), das ist das Motto der Olympischen Spiele und es stammt nicht von Pierre de Coubertin, sondern von einem französischen Dominikanerpater, der es bei einem Schulsportfest erstmals verwendete. Diese Devise ist im Grunde genommen eine der Grundkonstanten unserer Gesellschaftsordnung, insbesondere das erste Wort: Geschwindigkeit, besser: Beschleunigung ist Trumpf. Aber warum eigentlich?

Es kam nicht von ungefähr, dass die genannte lateinische Redewendung im 19. Jahrhundert formuliert wurde. Das war das Jahrhundert des rasanten Aufstiegs des Industriekapitalismus, der Entwicklung von Eisenbahn und Automobil und der Anfänge der Luftfahrt – wenn man so will, der beginnenden Globalisierung. Und die seither stattfindende Rekordjagd im Sport, gemessen inzwischen in hundertstel Sekunden, hat ihre Entsprechung in der Jagd nach immer schnelleren Transport- und Produktionsmitteln.
Zeitwahrnehmung …
Man könnte – und das tun die einfacheren Gemüter – zu der Ansicht kommen, dass die unbestreitbar zu beobachtende Beschleunigung aller Lebensbereiche, seien es der Transport oder die Kommunikation, ein dem Menschen innewohnender, blinder Trieb sei. Die meisten Menschen akzeptieren heutzutage unhinterfragt, dass schneller gleichzeitig auch besser sei. Fragt man sie, warum, dann wissen sie in der Regel die Antwort nicht.

Aber es gibt eine Logik hinter dieser Entwicklung, allerdings hat die nichts mit einem „Trieb“ zu tun. Zunächst einmal muss man sich von dem Gedanken verabschieden, dass es von jeher in der menschlichen Geschichte den Wunsch nach Beschleunigung gegeben habe. Die heutige Vorstellung und Wahrnehmung von Zeit als einer sozusagen wie ein Pfeil nach vorne gerichteten Bewegung hat es nicht immer gegeben. In den agrarisch geprägten frühen Gesellschaften war es (und ist es in den Überresten dieser Gemeinschaften immer noch teilweise) eher die Vorstellung von sich immer wiederholenden, kreisförmigen Abläufen, die das Bewusstsein prägte. Und das hatte einen Grund oder, besser, eine materielle Basis: Die einzige Zeitbestimmung, die in den frühen Agrargesellschaften notwendig war, war die der Zeitpunkte für Aussaat und Ernte. Beschleunigen konnte man weder den Wachstumszyklus, noch brauchte man bei lokaler kleinräumiger Subsistenzproduktion eine Beschleunigung des Transports. So herrschte das Bewusstsein einer Gleichförmigkeit und eines sozusagen kreisförmig sich ständig wiederholenden Lebenszyklus vor. (Das fand dann auch seinen Niederschlag in entsprechenden religiösen Vorstellungen: Nach der buddhistischen Lehre z. B. ist jedes Lebewesen einem endlosen Kreislauf von Geburt und Wiedergeburt unterworfen.)
… und Produktionsverhältnisse
Erst der Übergang zu einer über die unmittelbare Subsistenz hinausgehenden Produktionsweise änderte die Sachlage allmählich. Der produzierte Überschuss wurde gehandelt und musste gerade bei Agrarprodukten aus naheliegenden Gründen möglichst schnell zum Endverbraucher, also auf den Markt. Aber auch das waren zunächst eher jahreszeitlich beschränkte Phänomene, die noch in den genannten Kreislauf integriert werden konnten.

Ein regelrechter Zwang zur Beschleunigung entstand erst mit der Herausbildung des Handelskapitals und des Privateigentums an Produktionsmitteln. Die wesentliche Triebfeder dabei stellt das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate1  und das daraus folgende Bestreben zur Erhöhung der Umschlaggeschwindigkeit des Kapitals dar. Dabei handelt es sich um im Rahmen dieser Produktionsweise objektive Zwänge, die nicht mehr der individuellen oder kollektiven Entscheidungsfreiheit unterworfen sind.

Das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate besagt grob gesagt, dass bei beständig anwachsendem fixen Kapital (Werkzeuge, Gebäude etc.) wegen der zu tätigenden Erhaltungsmaßnahmen/Ersatzbeschaffungen etc. und aufgrund der Tatsache, dass durch die Mechanisierung der Anteil der allein wertschöpfenden menschlichen Arbeit sinkt, auch die Profitrate tendenziell sinkt. Das hat zur Folge, dass von den entsprechenden Kapitaleignern versucht wird, dem durch verschiedene Maßnahmen entgegenzuwirken. Neben anderen Mitteln wie z. B. der Minimierung der Arbeitskosten (vulgo: Lohndrückerei) ist das für die Frage der Beschleunigung wesentliche Instrument die Verkürzung der Zeit zwischen der Kapitalinvestition und der Realisierung des Profits. Ein Teil dieses Prozesses ist die Zeit zwischen der Produktion der entsprechenden Güter und dem Verkauf derselben. Damit verkürzt sich die Zeit, in der der Kapitalist nicht über das – in dieser Phase für ihn „tote“ – Kapital in Form der bereits produzierten, aber noch nicht verkauften Waren verfügen kann.

Der Unternehmer, der etwa heute noch seine Produkte mit dem Segelschiff oder dem Ochsenkarren zum Markt befördern würde, geriete gegenüber dem entsprechenden, mit Flugzeug oder Truck arbeitenden Konkurrenten in einen entscheidenden Konkurrenznachteil, denn er würde sein für die Produktion der entsprechenden Waren eingesetztes Kapital erst mit einer um ein Mehrfaches größeren Zeitverzögerung über den Verkauf wiederbekommen und in der Zwischenzeit weder den erzeugten Mehrwert realisieren können, noch „Zinsen“, also Gewinn für das eingesetzte Kapital erhalten (bzw. u. U. in der Zwischenzeit im Gegenteil Zinsen für einen eventuellen Kredit bezahlen müssen).
Wie erheblich seit den Handelsimperien des Mittelalters, z. B. Venedigs, die entsprechende Umschlaggeschwindigkeit gesteigert wurde, lässt sich ermessen, wenn man sich vor Augen hält, dass seinerzeit die venezianischen Kaufleute, die ein Schiff ausrüsteten, je nach anzusteuernder Region bis zu zwei Jahre (und länger) warten mussten, bis sie ihre Gewinne realisieren bzw. das eingesetzte Kapital zurückbekommen konnten, von den damaligen Transportrisiken einmal ganz abgesehen.2 

Darauf hat auch Marx bereits hingewiesen: „Das Hauptmittel zur Verkürzung der Zirkulationszeit sind verbesserte Kommunikationen. Und hierin haben die letzten fünfzig Jahre eine Revolution gebracht, die sich nur mit der industriellen Revolution der letzten Hälfte des vorigen Jahrhunderts vergleichen läßt. Auf dem Lande ist die makadamisierte Straße durch die Eisenbahn, auf der See das langsame und unregelmäßige Segelschiff durch die rasche und regelmäßige Dampferlinie in den Hintergrund gedrängt worden, und der ganze Erdball wird umspannt von Telegraphendrähten. Der Suezkanal hat Ostasien und Australien dem Dampferverkehr erst eigentlich erschlossen. Die Zirkulationszeit einer Warensendung nach Ostasien, 1847 no
ch mindestens zwölf Monate, ist jetzt ungefähr auf ungefähr ebensoviel Wochen reduzierbar geworden.“3

Hinzukommt natürlich auch noch bei bestimmten leicht verderblichen Gütern der Zwang, diese rechtzeitig auf den Markt zu bringen. Das ist ein Aspekt, der insbesondere heute bei der globalisierten Produktion und Distribution von Lebensmitteln ins Gewicht fällt.
Alles neuer, schneller, besser?

Ein weiterer Punkt, der den Zwang zur höheren Umschlaggeschwindigkeit mitbestimmt, ist die Beschleunigung der Innovationszyklen. Nimmt man das genannte Beispiel eines Produzenten, der seine Produkte, sagen wir einmal modische Kleidung, heute mit einem Segelschiff um das Kap der Guten Hoffnung nach Asien beförderte, würde dieser sich nicht nur den oben genannten Nachteil der niedrigen Umschlaggeschwindigkeit in Form „toten Kapitals“ einhandeln, sondern unter Umständen feststellen, dass sich in der Zwischenzeit längst die Mode geändert hat und er einen Totalverlust seines eingesetzten Kapitals gewärtigen muss – er kann dann höchstens noch einen „Schlussverkauf“ machen …..
Auch die Beschleunigung im Bereich der Kommunikationsmittel ist eine direkte Folge dieses grundlegenden Zwanges, der aus den bewusstlosen Zwangsläufigkeiten der Entwicklung der Produktionsmittel und der entsprechenden Produktionsweise folgt. Der Beginn der Informationsübermittlung mittels Artefakten (vom Rauchzeichen über die Postkutsche bis zum Satellitentelefon und Internet) war nicht durch den Wunsch nach privater Kommunikation, sondern in erster Linie durch gesellschaftliche Aktivitäten wie Handel, aber auch Krieg, gesetzt.4  Jüngstes Beispiel ist der computergesteuerte Börsenhandel, bei dem heute innerhalb von Bruchteilen von Sekunden Milliardensummen über den Globus verschoben werden – wer zu spät kommt, den bestraft die Börse.5
Der subjektive Faktor
Dass nun diese Entwicklung dazu führte, dass die meisten Menschen denken, dass schneller auch besser sei, hat drei wesentliche Gründe:
Zum einen haben die genannten Beschleunigungsprozesse ihre Rückwirkungen auf das Bewusstsein derer, die ihnen ausgesetzt sind, vom reisenden Handelsvertreter bis zum Akkordarbeiter.6 In einer Gesellschaft, in der eine Zunahme an Geschwindigkeit sich mehr oder weniger unmittelbar in materielle Vorteile umsetzen lässt, und in der dieser materielle Vorteil die Messlatte für gesellschaftliche Anerkennung ist, werden „Zeit“, Geschwindigkeit und Beschleunigung zu (mehr oder weniger unhinterfragten) Werten an sich. Und so kommt es zu einer klassischen Wechselwirkung zwischen den aus den geschilderten objektiven Zwängen folgenden Beschleunigungsprozessen und dem daraus folgenden Bewusstsein, das wiederum auf die materielle Sphäre zurückwirkt.7

Zum Zweiten folgt die Ausbreitung der für die allgemeine Beschleunigung sorgenden Produkte, vom Auto bis zum Smartphone, über die ursprünglich beabsichtigte Nutzanwendung hin­aus in die Gesamtbevölkerung dem Prinzip, dass für eine Beschleunigung der Umschlaggeschwindigkeit des Kapitals auch derjenige, der für die Mehrwertrealisierung unabdingbar ist, nämlich der „Kunde“, ebenfalls „beschleunigt“ werden muss, und zwar auf mehrerlei Ebenen. Zum einen ganz real dadurch, dass man ihm zum Beispiel die Transportmittel, seien es öffentliche oder individuelle, anbietet, um ihm in möglichst kurzer Zeit die Möglichkeit zum Erwerb der entsprechenden Produkte zu verschaffen.8  Zum anderen, indem man ihm durch entsprechende Manipulationsmechanismen, im allgemeinen Sprachgebrauch als Werbung bezeichnet, vorspiegelt, dass schneller auch besser sei (als Beispiel sei hier die Entwicklung im Bereich der Informationstechnologie genannt, wo mit der jeweils höheren Geschwindigkeit von Mikroprozessoren geworben wird, die 90 % der Nutzer wahrscheinlich nicht einmal wahrnehmen).

Der dritte Punkt ist das Bestreben des Kapitals, für nun einmal mit nicht unerheblichem Aufwand entwickelte (Beschleunigungs)produkte einen möglichst großen Markt zu öffnen. (Das ist ein Phänomen, das sich selbstverständlich nicht nur im Bereich der Beschleunigungstechnologien findet, aber dort besonders verheerende Auswirkungen zeitigt.) Dafür werden, wiederum unter Ausnutzung des genannten Bewusstseins, die entsprechenden Produkte für einen Massenmarkt zugerichtet.9

Wir können also zusammenfassend konstatieren, dass es sich bei der allgemein festzustellenden und da und dort beklagten Beschleunigung aller Lebensbereiche unter den Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise nicht um einen willentlich gesteuerten Prozess, sondern um der Struktur dieses Produktionssystems innewohnende Zwänge handelt, denen der diesem Sys­tem Ausgelieferte sozusagen bei Strafe des Unterganges gehorchen muss. Und das hat sukzessive in den Köpfen der Menschen den Geschwindigkeits- und Beschleunigungswahn hervorgerufen, an dem der Globus heute krankt.
Die Folgen
Die Beschleunigung aller Lebensbereiche in den letzten 150 – 200 Jahren, also in der Phase des Industriekapitalismus, hat inzwischen ein nachgerade lebensbedrohliches Ausmaß erreicht, und zwar sowohl auf der individuellen wie auf der gesellschaftlichen Ebene. Auf der individuellen, sprich gesundheitlichen Ebene nehmen die psychischen und physischen Folgen des „Zeitdrucks“, z. B. die sogenannten „Stresserkrankungen“, exponentiell zu, auf der gesellschaftlichen droht der Geschwindigkeitswahn unsere Lebensgrundlagen zu zerstören. Im Zentrum steht dabei der Klimawandel.

Ins Auge springt natürlich die Entwicklung und exponentielle Zunahme des modernen Individualverkehrs. So machten im Jahr 2000 die CO2-Emissionen des Verkehrs etwa 14 % des Gesamtausstoßes aus, davon entfielen 76 % auf den Straßenverkehr, davon wiederum war weit über die Hälfte auf den Individualverkehr zurückzuführen.10  In der Zwischenzeit ist durch die Zunahme des Autoverkehrs in den sogenannten Schwellenländern der Anteil weiter gestiegen.

Aber auch die irrationale Art der weltweiten Produktion und Distribution hat einen großen Anteil an der Zunahme des Nah- wie Fernverkehrs mit der entsprechenden Treibhausgasemissionen.11 (Im Übrigen weniger bekannt ist die Tatsache, dass von der Energie- und Umweltbilanz her das mit Abstand „schmutzigste“ Verkehrsmittel derzeit das Schiff ist. Der Schiffsverkehr machte im Jahr 2000 10 % der verkehrsbedingten Emissionen aus.)
Schlussbemerkung
Wenn wir diesen Globus nicht endgültig ruinieren wollen, müssen wir erheblich langsamer werden. Und auch hier gilt das Prinzip der Wechselwirkung: Sich persönlich vorzunehmen, „langsamer“ zu werden, ist ein guter Anfang. Aber es reicht nicht. Der Akkordarbeiter am Band zum Beispiel hat diese Entscheidungsfreiheit nicht. Die Einsicht in die Notwendigkeit der „Entschleunigung“ ist die Einsicht, dass es die Verhältnisse umzuwerfen gilt, die uns zum Sklaven der Stopp- und Stechuhr, der just-in-time- Produktion und damit des „citius, altius, fortius“ gemacht haben.

Erst da
nn werden wir (wieder) in die Lage versetzt, nicht nur ohne „Zeitdruck“ genießen zu können, sondern auch, uns die Zeit zu nehmen, die notwendig ist, um die Konsequenzen zukünftigen Handelns vorher in Ruhe zu durchdenken.
Schneller ist nicht besser, es ist lediglich – profitträchtiger.

1     Vgl. hierzu: Mandel, E.; Der Spätkapitalismus, Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1972, insbes. S. 459 ff.
     2 s. u. a. W. Shakespeare; Der Kaufmann von Venedig. Im Übrigen gab es seinerzeit auch schon Banken, die gegen eine Gewinnbeteiligung Risikokapital zur Verfügung stellten, was auch gelegentlich zu Bankenpleiten führte – Spekulation zahlte sich nicht nur heute nicht immer aus….
    3 Karl Marx – Friedrich Engels – Werke, Band 25, „Das Kapital“, Bd. III; Dietz Verlag, Berlin/DDR 1983; S.81
     4 Das World Wide Web beispielsweise hat seinen Ursprung ja schließlich nicht zufällig im amerikanischen Verteidigungsministerium.
5     Das Internet ist in erster Linie schlicht eine Technologie, mit der noch schneller Geld verdient und verschoben werden kann. Der Rest ist schlicht „Abfallprodukt“.
6     Ausgedrückt wird das bildlich von einer Reihe von Autoren wie Mc Luhan, aber auch Virilio oder Postman als „Schrumpfung des Raumes“.
7     Welch irrationale Züge der Geschwindigkeitswahn in der Individualsphäre inzwischen erreicht hat, zeigt sich zum Beispiel an der Produktion von Pkw wie des 1000-PS-Bugatti der Firma Volks(!)wagen.
8     Das kann durch den Verkauf von Autos geschehen oder aber auch durch die Online-Bestellung im Internet, wobei dann auch noch ein 24-Stunden-Kurierdienst angeboten wird.
9     Die Produktion von realen Mini(renn)autos für Kinder ist sowohl ein Beispiel für die Art und Weise, wie zusätzliche Märkte erschlossen werden wie auch dafür, wie schon in frühem Alter Geschwindigkeit und Beschleunigung als „Werte an sich“ im Bewusstsein verankert werden.
10     Quelle: IPCC-Bericht
11     Ein kleines Beispiel ist der Verkauf von südafrikanischen, australischen und amerikanischen Weinen in Europa, während umgekehrt wiederum französische und italienische exportiert werden, obwohl anerkanntermaßen die Qualität sich nicht wesentlich unterscheidet.
 

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