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Innenpolitik

Von den Anti-Krisen-Protesten zur neuen Bewegung?

Von B. B. | 01.05.2012

Radikalere Aktionsformen, radikale Inhalte und eine neue Generation, die die Aktionen trägt – die Antikrisenproteste unterscheiden sich erheblich von der früheren Bewegung gegen sozialen Kahlschlag. Werden sie sich zu einer neuen Bewegung verstetigen können?

Radikalere Aktionsformen, radikale Inhalte und eine neue Generation, die die Aktionen trägt – die Antikrisenproteste unterscheiden sich erheblich von der früheren Bewegung gegen sozialen Kahlschlag. Werden sie sich zu einer neuen Bewegung verstetigen können?

Die Linkspartei geht mittlerweile in ihrem Programm vom Klassengegensatz aus und die post-autonome Linke verschärft ihre Systemkritik. Neben der bekannten Kritik am Rassismus, Nationalismus und am Patriarchat wird in Flyern und Erklärungen die Krise als Eigenheit der kapitalistischen Produktionsweise beschrieben und einer personalisierenden Kapitalismuskritik die Position des „strukturellen Antikapitalismus“ entgegengesetzt. So lehnt die Interventionistische Linke in ihrem Aufruf für die Frankfurter Bankenblockade eine „Scheinkritik“ ab, die „die Ursache der Krise in falscher Wirtschaftspolitik, in der nackten Gier von Spekulanten oder in den bösen Machenschaften amerikanischer Rating-Agenturen“ sieht oder auf eine „normale Krise kapitalistischer Verwertung“ reduziert.
Von der Krisenkritik …
Die post-autonome Kapitalismuskritik geht erheblich weiter als etwa die der Linkspartei. Auch wenn sie häufig beschreibend bleibt – Sprache und Formulierungen haben einen besonderen Stellenwert – so nähert sie sich in der tiefsten Krise des Spätkapitalismus der marxistischen Kapitalismuskritik, bleibt allerdings oft abstrakt. So fehlen konkrete Forderungen, die ein Dringlichkeitsprogramm gegen die Krise ergeben. Immerhin tritt die Interventionistische Linke für die Vergesellschaftung der Energieproduktion, des Gesundheitssystems, des ÖPNV und der gesamten Güterproduktion unter gesellschaftlicher Kontrolle ein, womit – diesmal ganz gemäßigt-reformistisch formuliert – „die kapitalistische Marktlogik aus allen Lebensbereichen verdrängt werden muss“. Wer die Vergesellschaftung durchsetzen soll, bleibt unklar. Da die Arbeiter­Innenklasse kein Bezugspunkt ist, ergeben sich die „neuen sozialen und politischen Perspektiven“ „aus der Bewegung des Widerspruchs“.
… zur Anti-Krisen-Aktion
Es ist kein Zufall, dass die ersten größeren Proteste gegen die kapitalistische Krise, die Demonstration am 31. März und die Bankenblockade am 18. Mai in Frankfurt, von Post-Autonomen angestoßen wurden und nicht von der Linkspartei, der Gewerkschaftsbürokratie oder der sozialen Bewegung, die noch vor Jahren in der Bewegung gegen sozialen Kahlschlag führend waren. Die Konzeption der „Triade“, die in Wirklichkeit nie mehr als die Führung der Linkspartei mit dem linken Flügel der Gewerkschaftsbürokratie und den Spitzen der sozialen Bewegung vereinigte, löste sich angesichts der Systemkrise des Kapitalismus in Luft auf. Unter dem Druck der Krise zog es die Linkspartei etwas nach links, während die Gewerkschaftsbürokratie den lang ersehnten Schulterschluss mit Bundesregierung und Unternehmensverbänden herstellte, froh, wieder von den Herrschenden als Gesprächspartnerin behandelt zu werden. Ohne die Gewerkschaften schwamm die Bewegung gegen den sozialen Kahlschlag auf dem Trockenen und war kaum noch mobilisierungsfähig.

Die neuen Anti-Krisen-Proteste ergeben sich nicht aus der Betroffenheit der Arbeiter­Innenklasse, die unter der Krise leidet. Auch wenn es viele Leiharbeiter­Innen, prekär Beschäftigte, von Hartz IV-Betroffene, Arme und Verelendete gibt, so suchen sie (noch) nach individuellen Auswegen statt nach kollektivem Protest. So sind die Aktionen am 31. März und am 18./19. Mai in gewissem Umfang dem Internationalismus der post-autonomen Linken zu verdanken.

Sollten weitere Proteste folgen und sich die Bewegung verstetigen, dann wird die Interventionistische Linke ihre führende Rolle im Anti-Krisen-Bündnis untermauern können. Das käme einer Wachablösung gleich. Auf die Bewegung gegen den sozialen Kahlschlag könnte die Anti-Krisen-Bewegung folgen. Schon jetzt wird die ältere Generation der Aktiven, die ehemals an der Spitze der Bewegung gegen den sozialen Kahlschlag stand, durch eine neue, jüngere Generation abgelöst, die die Proteste in Heiligendamm, die Anti-Nazi-Blockaden in Dresden und die Proteste „Castor schottern“ in Gorleben initiierte. Herkömmliche Demonstrationen für gemäßigte Inhalte weichen neuen Protestformen verbunden mit Kapitalismuskritik. Die Organisator­Innen der neuen Anti-Krisen-Proteste stehen aber vor erheblichen Schwierigkeiten, die leitende Rolle im Protest gegen die Krise auszufüllen und ihrem kapitalismuskritischen Anspruch gerecht zu werden.
Was ist die Bilanz des 31. März?
Dies zeigte sich am 31. März. Initiiert von der Internationalen Arbeiter­Innen Assoziation (IAA) anarcho-syndikalistischer Gewerkschaften, zu der in Deutschland die FAU gehört, sollte am 31. März in über dreißig Städten ein „Europäischer Aktionstag gegen den Kapitalismus“ stattfinden. Zu der größten Demonstration kamen 10 000 Menschen nach Mailand. In Kiew nahmen 400, in Utrecht 250, in Bern und in Wien jeweils 300 Personen an Kundgebungen oder Demonstrationen teil. In den meisten anderen Städten verteilten ein paar Dutzend Menschen Flugblätter. Im spanischen Staat fiel der Protest am „Europäischer Aktionstag“ überhaupt nicht auf, stand er doch völlig im Schatten des Generalstreiks vom 29. März. Dem „Europäischen Aktionstag“ gelang es nicht, auch nur einen Bruchteil der Menschen zu mobilisieren, die in Europa kapitalismuskritisch oder gar überzeugte Gegner­Innen dieses Systems sind. Eine nüchterne Bilanz dieses Flops sucht mensch auf der Homepage des Bündnisses umsGanze, das die Demonstration am 31. März in Frankfurt organisierte, vergeblich.
„Standort Deutschland“
Ein unbefangener Beobachter hätte die größte Beteiligung am „Europäischen Aktionstag“ im krisengeschüttelten, von Klassenkämpfen bewegten Griechenland erwartet, und dass im wirtschaftsstarken, sozialpartnerschaftlichen Deutschland nur wenige auf die Straßen gehen. Das Gegenteil war der Fall. In Frankfurt demonstrierten immerhin 6 000, in Athen aber nur 150 Menschen. Diese auf den ersten Blick überraschende Tatsache ist leicht zu erklären.

Die IAA und ein Teil ihrer Verbündeten lehnen eine Politik ab, die versucht, auch mit gemäßigten gewerkschaftlichen und nicht-revolutionären Kräften eine gemeinsame Front gegen die Krise zu bilden. Ein Anhänger der FAU brachte es auf den Punkt: „Wir wollen doch gar nicht am 31. März mit den Gemäßigten demonstrieren“. Mit so einer Herangehensweise sind die „Massen“ nicht zu mobilisieren.
Selbstgenügsame Politik muss im Land des „Exportweltmeisters“ sowie der sozialpartnerschaftlichen Gewerkschaften und von Standortlog
ik durchdrungenen Betriebsräten auf fruchtbaren Boden fallen. In der tiefsten Krise des Spätkapitalismus sind die Gewerkschaften ganz auf Tauchstation gegangen. Nicht einmal bereit, die gute Konjunkturlage auszunutzen, begnügen sie sich mit den schwachen Lohnerhöhungen, die ihnen Kapitaleigner­Innen und Regierung zugestehen.

Wen wundert es, dass für viele revolutionäre Linke, die unter dem Eindruck der Krise ihre Kapitalismuskritik entwickeln, die Gewerkschaften zum „System“ gehören? Wer als JugendlicheR die eingefahrenen Kundgebungen am 1. Mai kennengelernt hat, geht beim nächsten Mal lieber zur revolutionären 1. Mai-Demo. Die Integration der Gewerkschaften in die Politik der Herrschenden und die Abgrenzung der revolutionären Linken von den Gewerkschaften bedingen einander. Würden alle Revolutionär­Innen versuchen, die Gewerkschaften, angefangen bei deren Jugend, wieder zu beleben, sähe sich die Bürokratie nur allzu bald herausgefordert. So bleibt die Kapitalismuskritik weitgehend außerhalb der Gewerkschaften und findet oft nicht einmal eine gemeinsame Sprache, um sich Gewerkschafter­Innen verständlich zu machen.
Kampfort Griechenland
In Griechenland sind alle Gewerkschaften unter dem Druck der Krise gezwungen, zum Generalstreik aufzurufen. Dafür sorgt schon die Konkurrenz der beiden großen Dachverbände GSEE und PAME, die von der PASOK bzw. der Kommunistischen Partei KKE gelenkt werden, aber auch die zunehmend aktivere antikapitalistische Gewerkschaftsopposition. Wo die gesamte Arbeiter­Innenklasse gegen die Troika auf die Straßen zieht und dabei einen Teil des enteigneten Kleinbürgertums mitreißt, kann eine Politik der Separierung der Revolutionär­Innen von den Gemäßigten kein Echo finden. Volksversammlungen und Generalstreiks sind ohne Einheit der Lohnabhängigen, ob gemäßigt oder radikal, undenkbar. Doch versucht die reformistische Kommunistische Partei krampfhaft ihre Anhänger­Innenschaft sowohl von anderen reformistischen Strömungen, besonders aber von der revolutionären Linken abzuschotten. Ein zentraler Kritikpunkt des antikapitalistischen Bündnisses ANTARSYA an der Kommunistischen Partei, die laufend ihre eigenen, von den anderen linken Parteien und Organisationen getrennten Kundgebungen und Demonstrationen abhält, ist, dass sie eine Politik der „Spaltung“ betreibt. ANTARSYA hat eine „Offene Aufforderung zur Einheit“ an alle linken Kräften gerichtet (s. Kasten).
Aktionseinheit und Einheitsfront
Wenn es für die Linkspartei, die Interventionistische Linke und erst recht für alle kleineren revolutionären Gruppen, Organisationen und Bündnisse um die „Einheit der Kämpfe“ geht, dann handelt es sich um Aktionseinheiten auf örtlicher Ebene oder für regionale bzw. bundesweite Aktionen und Demonstrationen wie z. B. bei der Bankenblockade am 18. Mai in Frankfurt.

Im Unterschied zur Aktionseinheit ist eine Politik der „Einheitsfront“ nur schwer umsetzbar. Denn die einzigen Arbeiter­Innenorganisationen, die „Massen“ vereinigen, sind die Gewerkschaften. Ohne die Gewerkschaften können die beiden großen linken Kräfte Die Linkspartei1 und – mit Abstand – die Interventionistische Linke keine „Massen“ bewegen, wenn wir nicht darunter Zehntausende statt Hunderttausende und Millionen wie in Griechenland und in Frankreich verstehen. Da die Gewerkschaften angesichts der Systemkrise des Kapitalismus den Schulterschluss mit den Unternehmerverbänden suchen, was an gemeinsamen Erklärungen ihrer Führung z. B. beim Erziehungsgeld deutlich wird, kann die­se „Einheitsfront von oben“ nur aufgebrochen werden, wenn es den Revolutionär­Innen und Antikapitalist­Innen innerhalb der Gewerkschaften gelingt, eine klassenkämpferische Tendenz aufzubauen, die sich als konsequente Opposition gegenüber der Gewerkschaftsbürokratie versteht. Leider ist die existierende Gewerkschaftslinke so schwach wie seit zwanzig Jahren nicht mehr. Sie wird auch nicht dadurch stärker, dass Die Linke sich an die Gewerkschaftsbürokratie anpasst und die Post-Autonomen in aller Regel die Arbeit in den systemkonformen Gewerkschaften verweigern. Doch ohne die einheitliche Aktion der Gewerkschaftsmitglieder wird die Krise nicht erfolgreich zu bekämpfen und der Kapitalismus in Deutschland nicht zu erschüttern sein.
Notwendigkeit revolutionärer Organisierung
Der Aufbau einer Bewegung gegen die kapitalistische Krise erfordert mehr als eine Kampagne zur Bankenblockade und die Ablehnung des Kapitalismus: Einsicht in die Klassenstruktur der Gesellschaft und daraus abgeleitet in die potenzielle Rolle der Arbeiter­Innenklasse als revolutionäres Subjekt, Überzeugung von der Notwendigkeit einer Politik der Aktionseinheit, Klarheit über das Erfordernis kontinuierlicher Arbeit zum Aufbau einer Bewegung gegen die kapitalistische Krise, Verständnis des Charakters der Gewerkschaften und der sie leitenden Bürokratie, Einsicht in die Unabdingbarkeit des Aufbaus einer organisierten Gewerkschaftsopposition und das Bedürfnis nach einer programmatischen Debatte, um sich auf die dringendsten Forderungen und Ziele im Kampf gegen den Kapitalismus zu verständigen. Dies ist sowohl Anspruch wie auch Maßstab für eine neue antikapitalistische Organisation.

1    Um eine „Massenpartei“ zu sein, müsste die Partei Die Linke nicht 70 000, sondern 300 000 Mitglieder haben. Über ihre WählerInnen hat sie aber „Masseneinfluss“.

 

Appell von ANTARSYA zur Einheit im Kampf
Aus der Erklärung von ANTARSYA zu den am 6. Mai in Griechenland stattfindenden Parlamentswahlen:

„(…) ΑΝΤΑRSΥΑ ruft alle Kämpferinnen und Kämpfer, Kollektive und Strömungen, die nunmehr zwei Jahre lang den Kampf gegen den Terror der Memoranden, der Troika und der Euro-Junta führen, auf, sich vor, während und nach den Wahlen offen und solidarisch zu verständigen und zusammenzuarbeiten. Der Appell richtet sich an alle Kräfte, die in den Streiks und Zusammenstößen geblutet haben, die die Plätze mit Leben erfüllt haben, die die Arbeiterbewegung des Aufruhrs stärken wollen, um die Regierungskoalition, die EU, den IWF und den barbarischen Kapitalismus zu Fall zu bringen! Was sie uns auch immer erzählen, wir wissen, dass die Geschichte nicht in den Korridoren der Macht, sondern auf den Straßen der Kämpfe geschrieben wird. Mit einer Kampffront des Bruchs mit dem System und des Umsturzes und einer starken, kämpferischen antikapitalistischen Linken können wir den Kampf gewinnen!“

 

 

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