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Venezuela: Weder Bürokratie noch Kapital!

Von Karl Lindt | 01.01.2011

Am 5. Januar 2011 wird in Venezuela die neu gewählte Nationalversammlung ihre Arbeit aufnehmen. Die Basisbewegungen werfen den Abgeordneten der Regierungsfraktion derweilen eine Blockade von radikalen Gesetzesinitiativen vor.

Am 5. Januar 2011 wird in Venezuela die neu gewählte Nationalversammlung ihre Arbeit aufnehmen. Die Basisbewegungen werfen den Abgeordneten der Regierungsfraktion derweilen eine Blockade von radikalen Gesetzesinitiativen vor.

Das Jahr 2010 war ein „Schlüsseljahr für die Revolution“ in Venezuela, so Stalin Pérez Borges, einer der Führungspersönlichkeiten des klassenkämpferischen Gewerkschaftsdachverbandes UNETE. Der Grund hierfür lag vor allem bei den Parlamentswahlen im September 2010. Für die bolivarianische Regierung von Hugo Chávez Frías und seine Sozialistische Partei (PSUV) stand dabei viel auf dem Spiel. Die Dynamik der ersten Jahre war vor allem mit den Kampagnen, den sogenannten misiones, für Gesundheit, Alphabetisierung und Bildung, sowie mit der ersten Verbesserung der Infrastruktur in den Armenvierteln der Städte, den barrios, verbunden. Erst im Oktober des Jahres hatte die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UN, die FAO, die Sozialpolitik und insbesondere den Kampf gegen Hunger und Armut der venezolanischen Regierung gelobt. Die Umfragewerte am Anfang des Jahres 2010 sahen trotz dieser Erfolge in der Sozialpolitik sehr schlecht aus. Nach beinahe zwölf Jahren an der Regierung, zwei ausgesprochen schlechten Regierungsjahren, in denen die Wirtschaft schrumpfte, der Strom in manchen Regionen immer wieder tagelang ausfiel und die Kriminalitätsrate rapide anstieg, machte die revolutionäre Aufbruchstimmung der ersten Jahre jetzt bei vielen Venezolaner­Innen Ermüdungserscheinungen Platz.
Die PSUV verliert an Einfluss im Parlament
Eine weitere Besonderheit bei den Wahlen im vergangenen September lag darin, dass die anti-chávistische Opposition die letzten Parlamentswahlen im Jahr 2005 aus taktischen Beweggründen boykottiert hatte und dort somit nicht vertreten war. Dies ermöglichte den Kräften, die hinter der Regierung Chávez stehen, in den letzten Jahren ohne Probleme selbst weitreichende Gesetze zu verabschieden. Die Entscheidung wegen angeblich fehlender demokratischer Garantien die Teilnahme an den Wahlen 2005 zurückzuziehen, wurde von der Opposition mittlerweile als Irrtum anerkannt, durch den sie sich selbst von dieser Bühne der politischen Diskussion ausgeschlossen hatte. Die heute zum „Tisch der demokratischen Einheit“ (MUD) zusammengeschlossenen Organisationen der Opposition, die von ehemaligen linksradikalen Kleingruppen wie der Causa R über die klassische Sozialdemokratie Acción Democrática, die Christdemokraten bis zu den  Rechtsextremen reichen, änderten daher ihre Taktik.
Durch ihre Wahlbeteiligung verhinderten sie die von der PSUV angestrebte Zweidrittelmehrheit. Eine solche Mehrheit hätte es der PSUV ermöglicht, wie in der vorangegangenen Legislaturperiode, sämtliche Funktionen der (im Vergleich etwa zu den USA) sehr mächtigen Nationalversammlung auszunutzen.

In Venezuela ernennt die Nationalversammlung alle anderen Regierungsgewalten außer der Exekutive, und zwar nicht nur die Angehörigen des Obersten Gerichtshofes, sondern auch den Generalstaatsanwalt, den obersten Rechnungsprüfer und die Mitglieder der nationalen Wahlkommission und kann die weitreichenden Rahmengesetze (Ley Orgánica) verabschieden. Der Präsident hat nicht wie in den USA gegenüber diesen Entscheidungen des Parlaments Vetorecht. Das Parlament kann auch Minister der Regierung und den Vizepräsidenten absetzen. Für all dies ist allerdings die jetzt verloren gegangene Zweidrittelmehrheit nötig. Ab dem 5. Januar 2011, wenn das neu gewählte Parlament seine Arbeit aufnehmen wird, wird es also schwer für die Regierung Chávez. Zu befürchten ist eine Paralyse vieler Regierungsvorhaben durch die Opposition, wie dies schon vor 2005 häufig der Fall war, als Regierung und Opposition im Parlament fast gleichstark vertreten waren.
Bürokrat­Innen verhindern radikale Gesetzesinitiativen
Doch nicht nur von Seiten der anti-chávistischen Opposition droht eine Gefahr für die Vertiefung des revolutionären Prozesses in Venezuela. Dass auch bedeutende Teile der Regierungspartei nach Kräften versuchen, eine Radikalisierung der Bewegung zu verhindern, zeigt sich schon seit einigen Jahren. Innerhalb der Regierungspartei PSUV existiert mittlerweile eine starke Strömung, welche zwar die Politik des Präsidenten sowie die Sozialprogramme unterstützt, jedoch weitergehende Maßnahmen, wie die Enteignung von Unternehmen und Großgrundbesitz und eine Stärkung der Rätestrukturen verhindern will.

Die Gewerkschaften und Basisorganisationen sind in den letzten Jahren immer wieder gegen diese „gemäßigte“, teilweise stark verbürokratisierte und manchmal korrupte Strömung innerhalb des Prozesses auf die Barrikade gegangen. Insbesondere zwei bedeutende Gesetzesinitiativen, die schon lange hinausgezögert werden, sorgten in der letzten Zeit für Auseinandersetzungen zwischen dem durch die „gemäßigten“ Abgeordneten dominierten Parlament und den Basisbewegungen.
Der Boden denen, die darauf wohnen!
Das geplante Gesetz zur urbanen Landreform, welches durch die Basisorganisationen der Barriosbewohner­Innen erarbeitet und bereits im Sommer 2009 bei der Nationalversammlung eingereicht wurde, wartet immer noch auf seine Verabschiedung. Hintergrund dieses Gesetzes ist der bereits im Jahr 2002 begonnene Prozess der rechtlichen Anerkennung der städtischen Armenviertel, den barrios, die zumeist aus Landbesetzungen hervorgegangen sind.

Über zwei Millionen Menschen haben bisher von der Übergabe der Landtitel aus öffentlichem oder staatlichem Besitz profitiert und besitzen somit erstmals den Boden, auf dem sie teilweise schon seit Generationen leben. Bewohner­Innen, die ihre Hütten auf fremdem Privatbesitz und nicht auf staatlichem Boden gebaut hatten, erhielten hingegen bisher keine Besitztitel.  Dies soll sich mit dem neuen Gesetz zur urbanen Landreform aber ändern.

Vor einer damit verbundenen Enteignung der alten privaten Eigentümer­Innen schreckten weite Teile der Abgeordneten der PSUV allerdings bisher zurück und verzögerten, zum Unmut der Bewohner­Innen der Armenviertel, die Verabschiedung des Gesetzes. Vertreter­Innen der Urbanen Landkomitees (CTU) und anderer Basisorganisationen fordern seit Langem die Verabschiedung des Gesetzes und erhoffen sich dadurch eine Radikalisierung der von der chávistischen Regierung betriebenen Landreform. Dafür, dass die organisierten Nachbarschaften mehr Rechte bei der Gestaltung ihres Lebensumfeldes bekommen, ist der formale Besitz des Bodens, den sie bewohnen, eine Grundvoraussetzung. Die für eine Verabschiedung des Gesetzes nötige Zweidrittelmehrheit hat die PSUV durch die Parlamentswahlen im September verloren. Wenn jetzt am 5. Januar das neue Parlament, wo die Regierungspartei eine knappe absolute Mehrheit hat, zusammentritt, wird es kaum noch eine Möglichkeit geben, das Gesetz durchzubringen.
Für ein neues Arbeitsgesetz
N
och schlechter steht es um das neue Arbeitsgesetz. Die Forderung nach einer Ersetzung des Alten, noch aus vor-chávistischer Zeit stammenden, Arbeitsgesetzes ist zurzeit die Hauptforderung der im Dachverband Nationale Union der Arbeiter­Innen (UNETE) zusammengeschlossenen klassenkämpferischen Gewerkschaften. Bereits seit sieben Jahren zieht sich die Verabschiedung des Gesetzes hin, welches eine umfassende Erweiterung der Rechte der Lohnabhängigen bedeuten würde. Erstmals könnte mit diesem Gesetz eine juristische Grundlage u. a. für die Schaffung von Arbeiter­Innenkontrolle bzw. Arbeiter­Innenräten auch in der privaten Wirtschaft gelegt werden. Bisher sind Modelle der Arbeiterselbstverwaltung bzw. der Mitbestimmung nur in öffentlichen bzw. staatlichen Unternehmen gesetzlich geregelt. Darüber hinaus würden die Rechte der Arbeiter­Innen bei Tarifauseinandersetzungen, Arbeitskämpfen und gegen Entlassungen ausgebaut.

In den letzten Monaten kam es immer wieder zu Aktionen der Gewerkschaftsbewegung gegen die Blockade des Gesetzes durch die „gemäßigten“ Abgeordneten der PSUV. Die Nationalversammlung, so hieß es auf einer Demonstration der UNETE im November in Caracas, habe die ihr zur Verfügung stehende Zeit und ihre Regierungsmehrheit nicht ausreichend genutzt, um die Rechte der Arbeiterschaft verfassungsrechtlich und gesetzlich zu stärken. Die Gewerkschafter­Innen skandierten „Das Arbeitsgesetz ist gekidnappt worden, die Arbeiterklasse will es befreit haben“ und „Weder Bürokratie noch Kapital – Sozialismus und mehr Revolution“.
Auch wenn es nun mit der Neuzusammensetzung des Parlaments auf der legislativen Ebene schwieriger sein wird, fortschrittliche, den revolutionären Prozess vertiefende Gesetze zu verabschieden, werden die sozialen Bewegungen und allen voran die klassenkämpferischen Gewerkschaften andere Wege finden, ihre Rechte zu erkämpfen und abzusichern, dies haben die Arbeiter­Innen in den letzten Jahren durch unzählige Fabrikbesetzungen und Übernahmen der Produktion gezeigt.

Durch Besetzungen war es in vielen Einzelfällen möglich, Forderungen nach Überführung von privaten Unternehmen, wie dem größten Stahlproduzenten Venezuelas, Sidor, in staatliches Eigentum und die Einrichtung von Strukturen der Arbeiter­Innenselbstverwaltung durchzusetzen. Dies geschah auch oft gegen anfängliche Widerstände der betroffenen Unternehmen und der Regierung.

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