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USA: Kranke, Klempner und Konzerne

Von Harry Tuttle | 01.10.2009

Während die Rechten gegen Obamas gemäßigte Reformpläne protestieren, wächst in der Linken die Unzufriedenheit mit der Politik des Präsidenten.

Während die Rechten gegen Obamas gemäßigte Reformpläne protestieren, wächst in der Linken die Unzufriedenheit mit der Politik des Präsidenten.

Jeder werde in Zukunft 15 Minuten lang berühmt sein, prophezeite Andy Warhol. Wer von den rechtskonservativen US-Medien entdeckt und als Star aufgebaut wird, kann einen wesentlich länger andauernden Ruhm erhoffen. Dies widerfuhr Joe Wurzelbacher, besser bekannt als „Joe der Klempner“. Er beabsichtige, eine Firma mit einem Umsatz von mehr als 250 000 Dollar pro Jahr zu kaufen, hatte er Barack Obama im Wahlkampf erläutert und dem Präsidentschaftskandidaten vorgeworfen, er müsse dessen Plänen zufolge dann höhere Steuern zahlen.

Bald stellte sich heraus, dass Joe nicht einmal 50 000 Dollar pro Jahr verdiente und keine Chance hatte, die kleine Firma, bei der er beschäftigt war, zu kaufen. Er kannte überdies nicht den Unterschied zwischen der Einkommenssteuer, die Obama tatsächlich für Familien mit einem Einkommen von mehr als 250 000 Dollar geringfügig erhöhen wollte, und der Unternehmenssteuer, bei der er, wie Obama ihm geduldig erläuterte, als Klein­unternehmer diverse Erleichterungen in Anspruch nehmen könne.
Joe träumt
Zumindest mit der Einkommenssteuer wird Joe sich nun befassen müssen. Er wurde ein gut bezahlter Gastredner. Für die Rechten ist Joe der „einfache Mann mit dem außergewöhnlichen Herzen, der weiß, was in Amerika heute falsch läuft“, wie der Conservative Book Club in der Besprechung seines Buches „Fighting for the American Dream“ schrieb. Derzeit ist Joe vor allem bei den Protestaktionen der konservativen und extremen Rechten gegen die Gesundheitsreform gefragt. Er kann als Symbolfigur dieser Bewegung gelten, denn er lässt sich in seinem rechten Dogmatismus von Fakten nicht beeindrucken. Und er ist weiß.

Dass die Rechten nicht zuletzt protestieren, weil sie von dem „falschen“, nämlich einem schwarzen Mann repräsentiert werden, haben ihnen zahlreiche Kritiker­Innen attestiert, u. a. der ehemalige Präsident Jimmy Carter. Viele Rechte behaupten, Obama hätte nicht Präsident werden dürfen, weil er nicht in den USA geboren worden sei. Weit verbreitet ist auch der Mythos, Obama plane die Einrichtung von „Todes­komitees“, die über die Lebensdauer von Alten und Behinderten entscheiden sollen. Manche Demonstranten bringen Schusswaffen mit, wenn sie gegen Veranstaltungen protestieren, bei denen Demokrat­Innen für die Gesundheitsreform werben. Die Proteste werden von Lobbygruppen, derzeit vor allem Versicherungskonzernen, unterstützt, doch nehmen an ihnen zahlreiche „Joes“ teil, weiße Arbeiter, die glauben, der schwarze Präsident wolle ihnen etwas wegnehmen.

Das rasante Schrumpfen der in den USA als „middle class“ bezeichneten Schicht relativ gut bezahlter und sozial abgesicherter Lohnabhängiger hat lange vor der Krise begonnen. Etwa vier Millionen Beschäftigte haben seit dem offiziellen Krisenbeginn, der Pleite der Lehman-Bank am 15. September 2008, ihren Job verloren. Sehr viele Lohnabhängige verlieren mit dem Arbeitsplatz auch die betriebliche Sozialversicherung und Haus oder Mietwohnung. In Kalifornien und anderen Bundesstaaten wachsen die Zeltstädte, Notunterkünfte für obdachlos gewordene Familien.

Doch viele Lohnabhängige, die das Konkurrenzdenken und nationalistische oder rassistische Ressentiments verinnerlicht haben, suchen ihr Heil im Anschluss an eine reaktionäre Bewegung, ein Phänomen, das auch in anderen westliche Staaten zu beobachten ist. Bislang hat Präsident Barack Obama bei innenpolitischen Konflikten vornehmlich ihnen Zugeständnisse gemacht.
Krankenversicherung nur für Gesunde
Die Debatte konzentriert sich derzeit nicht zufällig auf die Gesundheitsreform. Die betrieblichen Versicherungen ersetzten für die „middle class“ einige Jahrzehnte lang ein staatliches Sozialsystem. Prekär Beschäftigte waren davon ausgeschlossen, doch mittlerweile haben auch zahlreiche Großkonzerne sich der betrieblichen Versicherungen entledigt. Überdies versichern die Konzerne nur Gesunde, wer „pre-existing conditions“ hat, also gesundheitlich vorbelastet ist, sei es durch Diabetes, Übergewicht oder einen Rückenschaden, hat kaum eine Chance, eine Police zu bekommen. Wer länger oder gar chronisch krank wird, muss damit rechnen, dass die Versicherung ihm den Vertrag kündigt.

Obamas Pläne waren nie sonderlich radikal. Eine staatliche Regulierung der Policen soll die schlimmsten Maßnahmen wie etwa die Vertragskündigung im Krankheitsfall unterbinden. Lohnabhängigen mit geringem Einkommen soll ein Vertragsabschluss mit Steuernachlässen ermöglicht werden. Die privaten wie auch die bereits bestehenden staatlichen Versicherungen (vor allem Medicare für Rentner und Medicaid für Arme) sollen erhalten bleiben.

Da 20 der 50 Millionen US-Amerikaner­Innen ohne Krankenversicherung als „schwer vermittelbar“, d. h. unprofitabel gelten, sollte für sie eine staatliche Versicherung geschaffen werden. Besonders diese „public option“ ist den Marktextremist­Innen und den Versicherungskonzernen verhasst, die dafür sorgten, dass derzeit im Durchschnitt sechs Lobbyist­Innen einen Kongressabgeordneten belagern.

Im stark personalisierten politischen System der USA gibt es keine Partei- oder Fraktionsdisziplin. Eine Minderheit konservativer Demokrat­Innen im Senat verhindert derzeit die Verabschiedung der Reform. Um sie zu gewinnen, will Obama Zugeständnisse machen. Sein Vorschlag, auf die „public option“ zu verzichten, führte jedoch zu den ersten größeren Protesten linksliberaler Abgeordneter, etwa 40 Demokraten drohten, dem Präsidenten die Gefolgschaft zu verweigern. Die Kritik an Obama wächst auch in den linksliberalen Medien und den sozialen Bewegungen.

Bedeutende Reformen, das belegt die Geschichte der USA, bedürfen des Drucks von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen. Ohne militante Massenstreiks und soziale Unruhen wäre es kaum zu Franklin D. Roosevelts „New Deal“ gekommen, der Mitte der dreißiger Jahre u. a. die gewerkschaftliche Organisierung erleichterte und eine staatliche Rentenversicherung schuf. Lyndon B. Johnsons „Great Society“, zu der die staatliche Gesundheitsversicherung für einige Bevölkerungsgruppen und die Erweiterung der demokratischen Rechte auf Minderheiten gehörten, ist nicht denkbar ohne den Druck der Bürgerrechtsbewegung, der Jugendbewegung und der Gewerkschaften. Realpolitisch gesehen erleichtert der Druck von unten dem Präsidenten die Reformarbeit, denn sie ermöglicht es ihm, sich als Vermittler darzustellen, der „Schlimmeres“, nämlich eine soziale Radikalisierung verhindert.

Die „Obamania“ weicht in den USA nun langsam der Ernüchterung. Die Gewerkschaft
en kritisieren, dass der Employee Free Choice Act, der die gewerkschaftliche Organisierung erleichtert (siehe Avanti Juni 2009), noch immer im Kongress blockiert wird. Zur Organisierung größerer Protestaktionen haben sich die Bürokrat­Innen allerdings noch nicht durchringen können.
Rosemary besetzt
Aktiver sind die sozialen Bewegungen. Ende August veröffentlich­ten 521 Immigrant­Innen- und Bürgerrechtsorganisationen einen offenen Brief an Obama, in dem sie kritisierten, der Präsident halte an George W. Bushs Politik des „enforcement only“ fest, der polizeilichen Vollstreckung repressiver Einwanderungsgesetze, und verschleppe die Migrationsreform. Für die etwa 13 Millionen Illegalisierten ist auch im Reformplan keine Versicherung vorgesehen. Im ganzen Land fanden im August Protestversammlungen statt.

Da Obamas Finanzpolitik den Bankern zwar immense Hilfszahlungen gewährt, Hauseigentümer­Innen und anderen lohnabhängige Schuldner­Innen, die ihre Kredite nicht mehr bezahlen können, jedoch selbst sehen müssen, wie sie über die Runden kommen, verbreitet sich die Forderung nach einem „people’s bailout“, einem Rettungspaket für die Bevölkerung. Es kommt auch zu direkten Aktionen des zivilen Ungehorsams.

Als Rosemary Williams vom Sheriff aus ihrem Haus in Minneapolis geworfen wurde, kehrte sie kurz darauf mit mehreren Dutzend Unterstützer­Innen zurück. Diverse Gruppen, von der Mieterbewegung bis zu Antikriegsorganisationen, solidarisierten sich mit der Aktion. Als am 11. September erneut ein Räumkommando anrückte, hatten sich etwa 100 Unterstützer­Innen eingefunden. Die Polizei setzte Pfefferspray ein und nahm sieben Protestierende fest, nach der Räumung wurde das Haus von einer Privatfirma verbarrikadiert. Aktionen dieser Art sind keine Einzelfälle, doch ist es häufig schwierig, die von einer Räumung Bedrohten zu organisieren, die der zuständigen Bank ja zunächst als Einzelpersonen gegenüber stehen.

Wo viele Menschen, die einander kennen, zugleich betroffen sind, ist die Organisierung in der Regel einfacher. Doch Arbeitskämpfe gibt es derzeit vornehmlich in kleinen Betrieben. Etwa 100 Arbeiter­Innen der Quad City Die Casting in Rock Island sind von Entlassung bedroht, weil Wells Fargo der Firma einen Kredit gestrichen hat, obwohl die Bank, die 25 Milliarden Dollar Staatshilfe erhalten hat, im Geld schwimmt. Als Beschäftigte und Unterstützer­Innen im Juli die Straßen blockierten, wurden elf Protestierende festgenommen.
Wachsende Polarisierung
Politik, insbesondere linke, die in der Regel ohne Staats- und Konzernknete auskommen muss, ist in den USA schon aus geografischen Gründen dezentral. Zu einer Demonstration nach Washington zu kommen, entspricht für die meisten US-Amerikaner­Innen einer Reise von Berlin nach Madrid. Über das Internet können die vielen lokalen Aktionen heute leichter organisiert und bekannt gemacht werden.

Nur nach Ansicht sogenannter Wirtschaftsexpert­Innen, d. h. der Pleitiers von gestern, die nun mit Staatsknete ausgestattet so weiter machen wollen wie zuvor, ist die Krise ausgestanden. Armut und Arbeitslosigkeit werden weiter zunehmen, und mit ihnen auch die soziale und politische Polarisierung. Nicht zu unrecht befürchtet das Department of Homeland Securityy einen Anstieg rechtsextremer Gewalttaten, doch rabiate Polizeiaktionen richten sich weiterhin gegen linke Protestierende. Ob aus der Vielzahl linker Protest­aktionen eine Bewegung entstehen wird, die stark genug ist, Sozialreformen zu erkämpfen und die Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse zu stoppen, ist noch unklar. Doch immer mehr Amerikaner­Innen werden sich entscheiden müssen, ob sie dem Weg Joes oder Rosemarys folgen wollen.

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