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Ungarn: Rechte Salamitaktik

Von Harry Tuttle | 22.11.2013

Zielstrebig arbeitet die ungarische Regierung an der Schaffung eines Machtmonopols und einer völkischen Neuordnung.

Zielstrebig arbeitet die ungarische Regierung an der Schaffung eines Machtmonopols und einer völkischen Neuordnung.

Auf den ersten Blick könnte so manche Maßnahme der ungarischen Fidesz(Ungarischer Bürgerbund)-Regierung als fortschrittlich erscheinen. So wurden die Preise für Strom, Erdgas und Fernheizung für Privathaushalte um mehr als 20 Prozent gesenkt. Überdies kündigte Ministerpräsident Viktor Orbán an, dass Energieversorgung und kommunale Dienstleistungen spätestens im Frühjahr kommenden Jahres per Gesetz zu Non-Profit-Sektoren erklärt werden sollen.

Wenn Orbán die Macht des Internationalen Währungsfonds (IWF) und ausländischer Konzerne kritisiert, ist das nicht nur Rhetorik. Transnationale Unternehmen wurden mit einer Sondersteuer belegt, und seit Ungarn im August 2013 seine Schulden beim IWF vorzeitig zurückzahlte, muss sich die Regierung um dessen Anweisungen nicht mehr kümmern. Während anderswo etablierte sozialdemokratische Parteien und auch viele Linke schüchtern eine Finanztransaktionssteuer fordern, will Orbán 50 Prozent des ungarischen Bankensektors unter staatliche Kontrolle bringen.

Es handelt sich hier jedoch nicht um einen sozialdemokratischen New Deal, einen Versuch, die immens gewachsene Macht des Kapitals zugunsten der Lohnabhängigen ein wenig zurückzudrängen. Vielmehr will die rechte Regierung eine völkische Neuordnung durchsetzen und baut zu diesem Zweck einen staatskapitalistischen Sektor auf, der ihre Klientelpolitik finanzieren und ihr ein Machtmonopol sichern soll.

Als Gegenleistung für staatliche Wohltaten sollen die Lohnabhängigen auf ihre Rechte verzichten. Die Gewerkschaften werden marginalisiert und in ihrer Arbeit gesetzlich eingeschränkt. Sie sollen durch ständische, von der Regierung kontrollierte Organisationen ersetzt werden. So müssen LehrerInnen, die an der von Orbán gewährten Lohnerhöhung teilhaben wollen, zunächst in die staatliche „Gewerkschaft“ eintreten und einen „ethischen Kodex“ unterschreiben, der sie auf die völkische Regierungspolitik verpflichtet. Wer sich weigert, muss mit Mobbing und Entlassung rechnen.
Politik der Ausgrenzung
Zur neuen „Ethik“ gehören Fahnenappelle und der Glaube an die Lehre, dass Ungarn die nach dem Ersten Weltkrieg abgetrennten Teile des ehemaligen Königreichs zurückgewinnen müsse. Orbán greift aber noch weiter hinaus. Die Regierung fördert die panturanistische Bewegung, die den Zusammenhalt der sogenannten Turkvölker predigt, und noch obskurantistischere Gruppen, die ein mythologisiertes Ungarntum als Ursprung der Zivilisation und der spirituellen Erleuchtung betrachten.

Die völkische Erweckungspolitik richtet sich derzeit vor allem gegen die Roma, die benachteiligt, schikaniert und von paramilitärischen Gruppen angegriffen werden; sie ist aber auch antisemitisch. Die Behauptung des Orientalisten Ferenc Badiny-Jós etwa, Jesus sei ein parthischer Prinz und somit ein Ungar gewesen, „reinigt“ das Christentum von seiner jüdischen Herkunft, so dass es dem völkischen Diskurs einverleibt werden kann. Die „Kapitalismuskritik“ des Fidesz ist antisemitisch konnotiert, das ausländische „raffende“ Kapital soll bekämpft, das heimische „schaffende“ Kapital begünstigt werden.

Während die meisten europäischen RechtspopulistInnen stümperhaft vorgehen, hat Orbán einen Plan, den er mit großem Geschick verfolgt. Der Fidesz hält sich gerade noch im Rahmen des bürgerlichen Rechts; ist der Druck zu stark, geht Orbán auch mal einen Kompromiss ein. Doch in kleinen, aber schnell aufeinanderfolgenden Schritten wird die Opposition durch Veränderungen im Wahlrecht mehr und mehr marginalisiert, den kritischen Medien die Arbeit erschwert und die Justiz unter Kontrolle gebracht. Die völkische Neuordnung erfasst alle Lebensbereiche von der Leitung des Nationaltheaters bis zur Salamiproduktion.
Völkische Mobilisierung
Beunruhigender noch ist der derzeitige Mangel an größeren Protesten. Der Fidesz wird von einer völkischen Stimmung getragen, manchmal sogar getrieben. An rechtsextremen völkischen Festivals nehmen 150.000 Personen teil, umgerechnet auf die Bevölkerungszahl entspräche das 1,2 Millionen BesucherInnen eines Arierfests in Deutschland. Drittstärkste Partei im Parlament ist die neonazistische Jobbik, deren Vorschläge der Fidesz häufig aufgreift. Bei einer Umfrage bekannten sich jedoch auch 61 Prozent der WählerInnen der „Sozialisten“, der aus der KP hervorgegangenen MSZP (Ungarische Sozialistische Partei), zu der Aussage, Roma seien verbrecherisch veranlagt. Nicht zuletzt wegen der Massenbasis und -beteiligung ist es berechtigt, von einer „Faschisierung“ zu sprechen.

Ernstzunehmende Maßnahmen gegen das Abgleiten ihres Mitgliedsstaats in autoritäre Verhältnisse hat die EU bislang nicht ergriffen. Dass der Fidesz Mitglied der Europäischen Volkspartei ist, des Verbunds dem Anspruch nach konservativer Parteien, dem auch die CDU/CSU angehört, bietet einen gewissen Schutz. Es erstaunt jedoch, dass nicht einmal den wirtschaftsliberalen Doktrinen eindeutig widersprechende Maßnahmen die EU-Bürokratie zu beunruhigen scheinen. Als allgemeines Modell dürften Orbáns Ungarn wohl auch die Rechten nicht sehen. Doch in einer Zeit, da der Trend zum „Europa der Vaterländer“ geht, scheint der völkische Staatskapitalismus als ein akzeptab
les Mittel der Krisenbewältigung zu gelten.

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