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Umerziehung der Lohnabhängigen

Von Harry Tuttle | 26.12.2013

Beim Streit um Gesundheitsreform und Staatsschulden in den USA geht es um Klassenkampf. Doch kritisiert wird Obama vorwiegend von rechts.

Beim Streit um Gesundheitsreform und Staatsschulden in den USA geht es um Klassenkampf. Doch kritisiert wird Obama vorwiegend von rechts.

Dass Franklin D. Roosevelt, jener US-Präsident, der am ehesten als Sozialdemokrat gelten kann, für eine Gesundheitsreform war, verwundert nicht. Aber auch der Republikaner Dwight D. Eisenhower, der seinen Wahlkampf mit antikommunistischen Parolen gewonnen hatte, verhandelte jahrelang über eine Ausweitung der Krankenversicherung. Und sogar Richard Nixon kündigte 1974 an: „Die Zeit ist gekommen, um eine umfassende Gesundheitsversorgung hoher Qualität für jeden Amerikaner erreichbar zu machen. Ich werde ein extensives neues Programm vorschlagen, das einen umfassenden Gesundheitsversicherungsschutz für Millionen Amerikaner gewährleisten wird, die ihn sich jetzt nicht leisten können.“

Barack Obama hätte es kaum anders formuliert. Auf den ersten Blick ist die Aufregung in republikanischen Kreisen über seine Gesundheitsreform daher kaum verständlich, zumal „Obamacare“ kein Prinzip der kapitalistischen Verwertung in Frage stellt. Das Geschäft mit der Krankheit bleibt dem medizinisch-industriellen Komplex überlassen.
Die Versicherungskonzerne sollen strengeren Regeln unterliegen. So dürfen sie chronisch Kranken und gesundheitlich Vorbelasteten eine Police nicht mehr verweigern und den Vertrag nicht mehr kündigen, wenn der oder die Versicherte ernsthaft erkrankt – in der Theorie, denn ob die Regeln greifen, wird wohl erst in einer Vielzahl von Gerichtsverfahren geklärt werden. Überdies sind Ausgleichszahlungen für Versicherungskonzerne vorgesehen.

Schätzungen von ExpertInnen zu- folge werden etwa 20 Millionen Menschen in den USA vom Versicherungsschutz ausgeschlossen bleiben. Dass nun etwa 30 Millionen bislang unversicherte AmerikanerInnen einen Vertrag abschließen können (und müssen), ist dennoch ein sozialer Fortschritt – aber auch von Vorteil für die Unternehmer. Denn die Produktivität steigt mit einer besseren Gesundheitsversorgung; überdies wird die Flexibilität erhöht, da Lohnabhängige nun den Betrieb wechseln können, ohne den Versicherungsschutz zu verlieren.
Angst vor dem Absturz
Bislang beruhte die Gesundheitsversorgung auf betrieblichen Versicherungen. Doch dieses System ist mit den Autokonzernen, die führend bei seiner Einführung waren, weitgehend zusammengebrochen. Im flexibilisierten Kapitalismus des 21. Jahrhunderts ist eine andere Form des Versicherungsschutzes notwendig, und Obama ist in geradezu beispielhafter Weise seinem Job als ideeller Gesamtkapitalist gerecht geworden, indem er durch die sehr gemäßigte Regulierung einer Branche die gesellschaftliche Produktivität erhöht.

Doch neben den üblichen Verdächtigen der republikanischen Rechten lehnen zwischen 55 und 60 Prozent der US-Bevölkerung die Reform ab. Dafür gibt es vernünftige Gründe. Derzeit funktioniert wegen Software-Problemen bei Obamacare fast nichts. Überdies ist die staatliche Anordnung, das Produkt eines Unternehmens zu kaufen, in der Tat problematisch, auch wenn dies in der Praxis wohl nicht durchgesetzt werden wird. Der ideologische Kern der Kampagne gegen Obamacare ist jedoch das Bestreben, die Lohnabhängigen in einen Zustand völliger sozialer Rechtlosigkeit zu versetzen.

Nicht zufällig gehören die offen gewerkschaftsfeindlichen Milliardärsbrüder Koch zu den Hauptfinanziers der Kampagne gegen die Gesundheitsreform, die vor allem von der rechtslibertären Tea-Party-Bewegung getragen wird. Denn versicherte Lohnabhängige werden eher bereit sein, für ihre Rechte zu kämpfen, als solche, die nach einer Entlassung den sozialen Absturz fürchten müssen. Obamacare gilt den Rechten als Einstieg in eine staatliche Sozialpolitik, die auch in anderen Bereichen die Absicherung verbessern könnte. Eine Fraktion der US-Bourgeoisie will dafür sorgen, dass der Schrecken der Erwerbslosigkeit so groß wie möglich wird. Schließlich sorgte nicht zuletzt die Angst vor dem sozialen Absturz dafür, dass der gewerkschaftliche Organisationsgrad in Privatunternehmen unter acht Prozent sank.
Konservative Werte
Im öffentlichen Dienst hingegen sind noch immer etwa 35 Prozent der Beschäftigten gewerkschaftlich organisiert. Der Kampf für den „schlanken Staat“ ist daher ein Kampf gegen die Gewerkschaften. Auch im Haushaltsstreit geht es um Klassenkampf und um ein ideologisches Projekt zur Umerziehung der Lohnabhängigen. So fordert das Cato Institute, der wichtigste Think Tank der Tea Party, „das gesamte Wohlfahrtssystem für arbeitsfähige Individuen mit geringem Einkommen zu eliminieren“. Das „Arbeitsethos“ soll verbessert werden, doch es geht auch um konservative Familienwerte: „Der beste Weg zum Aufstieg für Menschen mit geringem Einkommen ist es, zu heiraten und verheiratet zu bleiben.“ Dieses Programm findet die Unterstützung vieler reaktionärer Lohnabhängiger, vor allem in den ländlichen Gebieten.

Als der Gewerkschafter Philip Randolph 1941 mit Roosevelt über Reformen beriet, sagte ihm der Präsident: „Sorgen Sie dafür, dass ich es tun muss.“ Die großen Reformen, der New Deal Roosevelts und die mit der Schaffung sozialstaatlicher Institutionen verknüpften Bürgerrechtsgesetze der sechziger Jahre, wurden von sozialen Bewegungen und Gewerkschaften durchgesetzt. Dass Obamas an sich unternehmerf
reundliche Gesundheitsreform über- wiegend von rechts kritisiert wird, zeigt daher die derzeitige Schwäche der Linken und der Gewerkschaftsbewegung.

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