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Länder

Syrien: Zerbrochenes Land

Von Jan Weiser | 01.09.2011

Noch im Januar diesen Jahres, nach dem Sturz des tunesischen Diktators Ben Ali, ließ sein syrischer Amtskollege Bashar Al-Assad verlauten, dass eine Protestbewegung wie in anderen arabischen Ländern für Syrien nicht zu erwarten sei. Und tatsächlich war bis Mitte März die Protestbewegung extrem marginalisiert.

Noch im Januar diesen Jahres, nach dem Sturz des tunesischen Diktators Ben Ali, ließ sein syrischer Amtskollege Bashar Al-Assad verlauten, dass eine Protestbewegung wie in anderen arabischen Ländern für Syrien nicht zu erwarten sei. Und tatsächlich war bis Mitte März die Protestbewegung extrem marginalisiert.

Heute, nach einer Reihe von Protesten und deren Niederschlagung, lässt sich die Situation wie folgt auf den Punkt bringen: Das Regime ist geeint, fest im Sattel und mit sich und mit seinen Truppen im Reinen. Die Bevölkerung und die syrische Oppositionsbewegung hingegen sind tief und in mehrfacher Hinsicht gespalten.

Der absurd hohe Preis dafür war dennoch zu entrichten: etwa 2000 Tote auf beiden Seiten und ein unbekanntes Vielfaches an Inhaftierungen. Drei Faktoren bestimmen den Lauf der politischen Entwicklung: 1. der ambivalente Charakter des syrischen Regimes. 2. die Heterogenität der Bevölkerung und 3. die internationale Lage.
Das Regime
Bashar Al-Assad (*1965), der seit 2000 als Nachfolger seines Vaters Hafiz Al-Assad an der Spitze des Staates und der herrschenden Baath-Partei steht, ist in Deutschland völlig unbekannt, in Syrien dagegen präsenter als Erich Honecker in der DDR. Im Gegensatz zu diesem ist er aber weitaus jünger und in großen Teilen der Bevölkerung immer recht populär gewesen. Und auch wenn Merkel, Sarkozy und Cameron ihn heute auffordern, „sich der Realität der vollständigen Ablehnung seines Regimes durch das syrische Volk zu stellen“, muss klar sein, dass diese „vollständige Ablehnung“ eine vollständig ungedeckte Behauptung ist. Dasselbe gilt für Samir Aita, der in der jungen Welt behauptet, Assad würde bei freien Wahlen heute nur noch 10 % der Stimmen bekommen. Es gibt in Syrien keine Meinungsumfragen, sondern nur Propaganda aus allen Richtungen. Zumindest rhetorisch steht das Regime seit Monaten für einen langsamen Reformkurs in Richtung einer Demokratie nach westlichem Vorbild. In Wahrheit wurde zwar in der gesamten Zeit der Proteste weder der seit 1963 geltende Ausnahmezustand aufgehoben noch die in der Verfassung festgesetzte Vorherrschaft der Staatspartei in Frage gestellt. Doch für viele steht das Regime für einen säkularen, d. h. nicht islamistischen Kurs, für eine Modernisierung des Landes, für einen Abbau der Korruption, politische Stabilität und die damit verbundene Hoffnung auf das erreichbare, kleine Glück im Privaten. Dass das syrische Regime als einziges in der Region bislang keinen Frieden mit Israel, das als Aggressor wahrgenommen wird, geschlossen hat und sich zumindest rhetorisch für die Palästinenser­Innen einsetzt, macht es in der Bevölkerung zusätzlich populär. Daher sind die täglichen Jubel-Demonstrationen für das Regime keineswegs bloße Inszenierungen. Noch im Frühjahr zeigte CNN, das über die Oppositionsbewegung berichtete, ehrlicherweise auch Bilder einer überwältigenden Mehrheit jubelnder Regierungs-Anhänger­Innen und deren Hupkonzert auf der Autobahn. Und selbst wer die Unterdrückung am eigenen Leibe spürt, mag sich noch denken: „Das Regime ist schlecht, aber der Führer weiß davon nichts.“

Wer das Regime dennoch ablehnte, hatte bislang äußerst schlechte Karten. Ein allgegenwärtiger Geheimdienst, Verhaftungen, Folter und politische Morde jenseits jeglicher Legalität und Gerichtsbarkeit machten eine politische oder gewerkschaftliche Organisation, selbst Meinungsäußerung, unabhängig vom Regime völlig unmöglich – und das seit Jahrzehnten. Und wenn heute das Militär in einzelne Städte einmarschiert und dort Menschen erschießt, dann führt das nicht im Geringsten zu moralischen Zweifeln innerhalb von Regime und Militärführung. Denn zur Bekämpfung eines islamistischen Aufstands ließ dasselbe Regime 1982 bereits die Großstadt Hama bombardieren, was mindestens 20 000 Todesopfer forderte und bis heute ein nationales Tabuthema ist.
Die Spaltung der Volksgruppen
Die syrische Gesellschaft ist hochfragmentiert und die einzelnen Bevölkerungsgruppen stellen ihrerseits komplexe Gebilde dar. Während sunnitische Muslim­Innen die Bevölkerungsmehrheit bilden, gibt es bedeutende Minderheiten der Christ­Innen, Kurd­Innen, Drus­Innen, Beduinen und anderer, deren Zahl jeweils nur geschätzt werden kann. Die permanent benachteiligten Kurd­Innen erfuhren in den letzten Monaten eine massive Aufwertung ihres Status von Seiten des Regimes und halten sich von den Protesten fern. Der Präsident selbst, seine Gefolgsleute und Generäle gehören einem Teil der Minderheit der Alawit­Innen an. Obwohl deswegen Alawit­Innen keinerlei Privilegien gegenüber der sunnitischen Bevölkerungsmehrheit genießen, sind sie in den Augen radikaler Sunnit­Innen eine Art innere Besatzungsmacht, deren Status als Gläubige ohnehin höchst zweifelhaft erscheinen muss; denn ihre Zugehörigkeit zum Islam ist umstritten. Um es auf den Punkt zu bringen: Für viele radikale Sunnit­Innen, die heute zum (bewaffneten) Aufstand gegen das Regime schreiten, ist „Demokratie“ in etwa gleichbedeutend mit der Etablierung sunnitischer Vorherrschaft und der Verfolgung aller „Ungläubigen“. Doch auch die Gruppe der Sunnit­Innen bildet ein Kontinuum zwischen modern orientierter, städtischer Bevölkerung in den Städten im Westen des Landes und Bewohner­Innen des dörflich geprägten Ostens. Diese ordnen sich vielfach großen Clans (qabilat) zu, verfügen kaum über Bildung, hängen einer unbegreiflich einfach gestrickten islamistischen Ideologie an und können der modernen Bevölkerung nur als reaktionär gelten. Zu dieser fragmentierten Gesellschaft kommen einige Millionen palästinensische und irakische Flüchtlinge hinzu, die ihrerseits dem alawitischen Regime nicht automatisch deswegen wohlgesonnen sind, weil sie in Syrien (als „Araber“) Anspruch auf Schulbildung und Gesundheitsversorgung haben.

Zum syrischen Aufstand gehören zehntausende besonnene Menschen, die für „Demokratie“ auf die Straße gehen, ebenso wie bewaffnete Banden, die jetzt ihre Stunde wittern, um möglichst viele „Ungläubige“ zu ermorden und das auch umsetzen. Und unter „Demokratie“ versteht wiederum nur ein Teil etwas, das als fortschrittlich gelten kann. Woher sollte auch ein „linkes Bewusstsein“ kommen? Das große Problem hierbei ist, dass sich die Repression unterschiedslos gegen alle richtet. Gleichzeitig leben die nationalen oder religiösen Minderheiten der Alawit­Innen und Christ­Innen in der blanken Angst, dass ein kommendes islamistisches Regime an ihnen Rache nehmen wird für das, was das bisherige Regime verbrochen hat. An einem sinnlosen Bürgerkrieg, wie in den Nachbarländern Libanon und Irak, haben die meisten einfach kein Interesse.

Der einzige
Standpunkt, der die Zersplitterung und den Hass der Volksgruppen beenden könnte, wäre ein Klassen-Standpunkt: Wir hier unten –  Arbeiter­Innen, Erwerbslose, Bäuer­Innen, Soldaten, Studierende –  ihr da oben, sunnitische Damaszener Geschäftsleute, alawitisches Offizierscorps, radikalislamische Imame. Denn die Emanzipation der einzelnen ethnischen Identität kann nur im Albtraum enden, zur sozialen Emanzipation bedarf es einer Hintanstellung dieser Identitäten. Doch ein solcher Standpunkt, der in Ägypten aufgrund jahrelanger illegaler Gewerkschafts-Aktivität noch ein Mindestmaß an Verbreitung hatte, ist in Syrien nicht vorhanden.
Internationaler Einfluss
Syrien hat sich international als Frontstaat gegen Israel positioniert, hat aber gleichzeitig aus israelischer Sicht die ungefährlichste Grenze, an der seit 1967 kein Schuss gefallen ist. Unter westlichem Druck und Boykott leidend hat sich Damaskus mit den islamistischen Regimen im Iran, in Saudi-Arabien und der Türkei verbündet und sowohl Hamas als auch Hisbollah unterstützt – und damit das gesamte konfessionelle und politische Spektrum, das der Islamismus bietet. Wenn das säkulare syrische Regime nun islamistische Banden für Morde an Polizisten und Soldaten verantwortlich macht, ist das vermutlich nicht mal gelogen, aber zum Teil selbst verschuldet. Denn der radikale Islamismus lässt sich nicht als billige Hilfstruppe nutzen, sondern verfolgt eigene Ziele. Und wenn das Regime, das Israel stets für die Unterdrückung der Palästinenser­Innen kritisiert  hat, im August selbst palästinensische Flüchtlingslager und Stadtviertel in Latakia angreift und bombardiert, zeigt sich, dass hinter der panarabischen Rhetorik nur eigenstaatlicher Egoismus steckt. Die EU, Israel und die USA können kein Interesse an einem islamistischen Umsturz oder einer demokratischen Revolution in Syrien haben. Aber einen Bürgerkrieg befeuern, um Waffen absetzen und sich wahlweise auf die eine oder andere Seite schlagen zu können, ist immer eine Option für den Imperialismus. Und wir können sicher sein, dass deren Kundschafter­Innen schon vor Ort sind, um sich ein Bild zu machen.

„Suriya-Al-Assad“ – „Assad-Syrien“ nennen die Bewohner­Innen ihr Land mit ironischem Unterton. Und dass dieses Wort in absehbarer Zeit an Bedeutung verliert, ist kaum zu erhoffen, wenn sich nicht mindestens einer der drei Faktoren grundsätzlich ändert. Es sei denn, die wirtschaftliche Lage verschlechtert sich durch die Unruhen so weit, dass die syrische Bourgeoisie Assad fallen lässt und eine der bereitstehenden Ordnungsmächte herbeiruft.

 

Drei Fragen an Samer
Samer ist graduierter Psychologe, syrischer Dissident und Basisaktivist, der u. a. Demos der syrischen Demokratiebewegung in Deutschland organisiert.
Avanti: Samer, hast du in deiner Heimat selbst Erfahrungen mit staatlicher Repression gemacht?
Samer: Auf jeden Fall! Ich habe soziale, politische und alle Arten von Repression in Syrien erlebt. Für mich kommt es nicht auf die Frage an, ob das Regime so ist oder anders. Bashar Al-Assad regiert seit elf Jahren und jeder Rechtfertigungsversuch dieser Gewalt ist nur Täuschung. Als Syrer bin ich nicht mehr bereit, solch einen Staat und diese Regierung zu akzeptieren und ich werde mit allen friedlichen Mitteln gegen das Regime kämpfen.

Was ist dein Eindruck: Interessieren sich die Deutschen für die politische Situation in Syrien?
Samer: Ich glaube, eher weniger. Ich habe mehrere Demos organisiert und selbst von meinen Mitbewohner­Innen nur wenig Unterstützung erlebt.

Was ist dein Traum für Syrien?
Samer: Dass die Leute in Frieden leben. Die Menschen dort waren immer von jeder Entscheidung ausgegrenzt, die das Land betrifft. Ich habe mich als fremd in diesem Land erlebt – außer in meinem Heimatdorf. Es geht nicht um primitive Bedürfnisse, die wir mit den Tieren teilen. Nach Maslow  gibt es noch Bedürfnisse höherer Ordnung, wie Sozialbedürfnisse und Selbstverwirklichung. Eine Identität zu haben, ist die Voraussetzung für Differenzierung. Nicht alle Menschen wollen gleich sein: Uns von anderen zu unterscheiden ist wichtig, was wir unter einem solchen totalitären Regime nicht dürfen. 

 

 

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